Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 44 VG 27/89
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VG 40/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. August 2002 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger, Sohn des 2005 gestorbenen Dr. L begehrt als dessen Rechtsnachfolger für die Vergangenheit Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Der 1920 in Bulgarien geborene Dr. L lebte in Deutschland als heimatloser Ausländer bis zu seiner Einbürgerung im Jahre 1994. Am 2. Juli 1971 wurde er das Opfer eines Raubüberfalls in seinem Import- und Exportgeschäft. Hierbei erlitt er ausweislich der Feststellungen im Strafurteil des Amtsgerichts München vom 13. April 1972 eine Schädelprellung mit mehreren Schnittwunden am Kopf und eine Kontusion und Distorsion der Halswirbelsäule. Er gab in der Folgezeit sein Geschäft auf und lebte in den Jahren 1974 bis 1990 von Sozialhilfe. Der Nervenarzt Dr. B, der ihn im Rahmen eines Feststellungsverfahrens nach dem Schwerbehindertengesetz untersuchte, stellte in seinem Gutachten vom 1. Dezember 1978 u.a. eine Hirnleistungsschwäche nach Hirntrauma und aufgrund cerebro-vasculärer Insuffizienz fest, die er mit einer Minderung der Erwerbstätigkeit (MdE) von 40 v.H. bewertete.
Im Februar 1985 beantragte Dr. L Leistungen nach dem OEG. In dem daraufhin vom Beklagten veranlassten Gutachten vom 3. November 1986 konnte der Neurologe Dr. Th keine Schädigungsfolgen feststellen. Vielmehr läge eine depressive Entwicklung mit Somatisierungstendenz bei Persönlichkeitsstörung vor. Dem Gutachter folgend lehnte das Versorgungsamt München II mit Bescheid vom 25. März 1987 den Antrag ab. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Bayern mit Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 1989 zurück.
Mit seiner Klage hat Dr. L sein Begehren weiterverfolgt. Das Sozialgericht Berlin hat u.a. Befundberichte der ihn behandelnden Ärzte zur Akte genommen, die Schwerbehindertenakte beigezogen sowie das Gutachten des Prof. Dr. Sch vom 20. Dezember 2000, ergänzt durch dessen Stellungnahme vom 10. Juni 2001, und das Gutachten des Dr. H vom 14. Januar 2003 eingeholt, die übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen sind, dass bei Dr. L eine schädigungsbedingte posttraumatische Belastungsstörung vorgelegen habe, die mit einer MdE von 85 v.H. zu bewerten sei, und als Berufsschadensausgleich eine Erhöhung von 10 v.H. vorschlugen.
Das Sozialgericht Berlin hat mit Urteil vom 12. August 2003 den Beklagten verurteilt, als Schädigungsfolge eine ausgeprägte chronische posttraumatische Belastungsstörung mit einer darauf beruhenden MdE von 50 v.H., angehoben um 10 v.H., anzuerkennen und Dr. L seit dem 1. Januar 1985 eine Versorgung nach dem OEG zu gewähren. Hierauf habe er nach § 30 Abs. 1 und 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Verbindung mit § 10 a OEG einen Anspruch. Dr. L sei in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis zum 15. Mai 1975 geschädigt worden. Er habe im Anspruchszeitrum im Geltungsbereich des Gesetzes gelebt und sei bedürftig gewesen. Im Hinblick auf die insoweit nachvollziehbaren und in sich schlüssigen Sachverständigengutachten sei bei dem Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung festzustellen gewesen, die den Folgen der Gewalttat in kausaler Weise mit Wahrscheinlichkeit zuzurechnen sei. Allerdings sei die Schwere der Schädigungsfolgen mit einer MdE von 50 v.H. zu bewerten. Denn unter Zugrundelegung der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) leide Dr. L unter psychischen Störungen mit derartigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die mit einer MdE in dieser Höhe zu bewerten seien. Insoweit sei zum einen abzustellen auf die gravierenden unmittelbaren gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie Angst, Erschöpfbarkeit, Schreckhaftigkeit, depressive Stimmung, Unruhe, Nervosität und Schlaflosigkeit, zum anderen auf die infolge der Gewalttat aufgetretenen sozialen Anpassungsschwierigkeiten wie den zunehmenden Rückzug aus sozialen Zusammenhängen, den Einschränkungen in der Mobilität und den Interessenverlust. Zudem sei aufgrund der besonderen beruflichen Betroffenheit des Klägers die MdE gemäß § 30 Abs. 2 BVG um weitere 10 v.H. auf insgesamt 60 v.H. anzuheben, da dessen berufliche Leistungsfähigkeit gerade im zuletzt ausgeübten Beruf als Kaufmann durch die Folgen der Tat aufgehoben worden sei.
Gegen das Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und vorgebracht: Zwischen den Beteiligten sei inzwischen nicht mehr im Streit, dass bei Dr. L als dem Opfer des Raubüberfalls vom 2. Juli 1971 eine posttraumatische Belastungsstörung vorgelegen habe. Die vom Sozialgericht Berlin hierfür festgestellte MdE von 50 v.H. sei jedoch nicht zutreffend, da eine MdE von 40 v.H. ausreichend sei. Das Sozialgericht habe auch zu Unrecht die MdE um weitere 10 v.H. erhöht, weil keine besondere berufliche Betroffenheit des Herrn L vorgelegen habe.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. August 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Dem schriftsätzlichen Vorbringen des Klägers, der nach dem Tod seines Vaters den Rechtsstreit aufgenommen hat, ist der sinngemäße Antrag zu entnehmen,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte nach öffentlicher Zustellung der Ladung des Klägers entscheiden (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), da dessen Aufenthalt trotz der vom Gericht angestellten Ermittlungen unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist (§ 185 Nr. 1 Zivilprozessordnung in Verbindung mit § 63 Abs. 2 SGG).
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Sozialgericht Berlin hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, dem Kläger als Rechtsnachfolger des Dr. L Versorgungsleistungen nach dem OEG zu gewähren, denn er hat hierauf keinen Anspruch.
Da Dr. L am 2. Juli 1971 – und damit vor Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 – Opfer einer Gewalttat wurde, richtet sich die Gewährung von Leistungen nach der mit Änderungsgesetz vom 20. Dezember 1984 (BGBl. I S. 1723) eingeführten Härteregelung des § 10 a OEG (siehe § 10 Satz 2 OEG). Danach erhalten Personen, die– wie der Kläger – in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt wurden, auf Antrag Versorgung, solange sie 1. allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und 2. bedürftig sind und 3. im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Vorliegend ist zwischen den Beteiligten – zu Recht – nicht mehr im Streit, dass Dr. L als Folge der Gewalttat an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt. Den überzeugenden Ausführungen in den vom Sozialgericht eingeholten Gutachten des Prof. Dr. Sch vom 20. Dezember 2000, ergänzt durch die Stellungnahme vom 10. Juni 2001, und des Dr. H vom 14. Januar 2003 ist zu folgen. Deren Feststellungen stimmen mit Nr. F43.1 der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision (ICD-10) überein, wonach eine posttraumatische Belastungsstörung als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde, entsteht. Der Raubüberfall stellt zweifellos ein derartig tiefgreifendes Erlebnis dar. Auch finden sich in der von den Gutachtern jeweils aufgenommenen Anamnese die verschiedenen typischen Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung, die in Nr. F 43.1 ICD-10 aufgeführt sind, insbesondere das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit, Angst und Depression.
Jedoch lässt sich die Annahme einer durch die Gewalttat verursachten Schwerbeschädigung nicht rechtfertigen. Die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Schädigungsfolgen sind nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) zu bewerten. Hierbei sind die AHP in ihrer letzten Fassung von 2005 heranzuziehen, da es sich bei ihnen nicht um Rechtnormen handelt, sondern um antizipierte Sachverständigengutachten, die den jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben. Deren aktueller Stand ist der gerichtlichen Entscheidung zu-grundezulegen.
Vorliegend ist nach § 30 Abs. 1 BVG die Schwere der Schädigungsfolgen bei Dr. L mit einer MdE von 40 v.H. zu bemessen. Die Einschätzung der Schädigungsfolgen mit einer MdE von 85 v.H. durch die gerichtlichen Sachverständigen ist nicht nachvollziehbar. Für die Annahme, bei Dr. L hätten schwere Störungen mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten im Sinne der Nr. 26.3 der AHP 2005 (S. 48) vorgelegen, spricht nichts. Insoweit wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Ausführungen des Sozialgerichts verwiesen, das sich zutreffend gegen die Bewertung der Gutachter ausgesprochen hat.
Indes lässt sich entgegen der Ansicht des Sozialgerichts eine Einschätzung der schädigungsbedingten Folgen mit einer MdE von 50 v.H. nicht rechtfertigen. Nach Nr. 26.3 der AHP 2005 (S. 48) setzt die Zuerkennung einer MdE in dieser Höhe schwere Störungen (z.B. eine schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten voraus. Gegen das Vorliegen derartig tiefgreifender psychischer Störungen bei Dr. L sprechen übereinstimmend die im zeitlichen Zusammenhang mit der Gewalttat erhobenen Befunde. In seinem ärztlichen Gutachten vom 1. Dezember 1978 beschrieb der Nervenarzt Dr. B lediglich eine Konzentrationsschwäche, Antriebsmängel und eine subdepressive Stimmungslage. Er bewertete die psychische Symptomatik mit einer Einzel-MdE von 40 v.H. Diese Feststellungen werden bestätigt durch den Befundbericht des Dr. L seinerzeit behandelnden Nervenarztes Dr. H vom 23. Dezember 1986, der eine leichte Depression erwähnte. Ein Rückzugsverhalten wurde weder von Dr. L gegenüber den Ärzten geäußert noch in der Anamnese festgestellt. Auch für die von Dr. L insbesondere gegenüber den gerichtlichen Sachverständigen beklagten Schwierigkeiten, wegen der psychischen Folgen des Raubüberfalls einer Arbeit nachzugehen, findet sich kein direkter Anhalt. Im Gegenteil gab er am 5. März 1975 gegenüber der Medizinaldirektorin Li an, dass er zwar gerne arbeiten wolle, jedoch in seinem Beruf – Dr. L war diplomierter Wirtschaftswissenschaftlicher – keine Arbeit finden könne, nachdem er berufsfremd gearbeitet habe und auch nicht mehr jung sei. Gegen die Annahme auch nur mittelgradiger sozialer Anpassungsschwierigkeiten spricht entscheidend, dass ihm eine selbständige Lebensführung ohne weiteres möglich war. Er war ausweislich seiner Angaben gegenüber dem Gutachter Prof. Dr. Sch in der Lage, zu einer ihm freundschaftlich verbundenen ehemaligen Bekannten aus seiner Studienzeit, die ihren Beruf als Ärztin nicht ausübte, sondern von ihrem Vermögen lebte, in den siebziger Jahren eine Liebesbeziehung zu entwickeln. Beide besuchten sich häufiger gegenseitig in Berlin und München. Nachdem seine Bekannte in Berlin-Dahlem ein Haus geerbt hatte, zog er zu ihr und hielt die von ihm gegenüber Dr. H als eheähnlich beschriebene Beziehung trotz schwerster Erkrankungen seiner Lebensgefährtin, die 1980 einen Schlaganfall erlitt und 1985 an Hautkrebs erkrankte, bis zu deren Tod im Jahre 1990 aufrecht. Ebensowenig ist es mit der Annahme mittelgradiger sozialer Anpassungsschwierigkeiten zu vereinbaren, dass Dr. L danach mit Hilfe der Erbschaft seiner Lebensgefährtin ein Dreifamilienhaus in Berlin-Spandau erwerben und bewirtschaften konnte. Hierbei war er den Angaben des Klägers zufolge auch fähig, gegen säumige Mieter Prozesse zu führen. Auch trug Dr. L sich noch im hohen Alter von 85 Jahren mit der Absicht, eine Reise in sein Geburtsland zu unternehmen. Insgesamt sind deshalb die psychischen Folgen der Gewalttat allenfalls als stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit zu bewerten (Nr. 26.3 der AHP 2004, S. 48).
Eine Erhöhung der MdE um weitere 10 v.H. nach § 30 Abs. 2 BVG ist vorliegend nicht möglich. Danach ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, in seinem nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen ist, den er nach Eintritt der Schädigung ausgeübt hat oder noch ausübt. Anders als bei Beurteilung der medizinischen MdE nach § 30 Abs. 1 BVG kann jedoch bei ihrer Höherbewertung wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach § 30 Abs. 2 BVG Beginn und Ende des Berufslebens nicht unberücksichtigt bleiben; schon aus dem Begriff der besonderen beruflichen Betroffenheit ergibt sich, dass eine Höherbewertung grundsätzlich nur für die Zeit der beruflichen Tätigkeit, also während des Erwerbslebens, in Betracht kommt (so Bundessozialgericht –BSG–, Urteil vom 12. Dezember 1995 – 9 RV 9/95 –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 15 = BSGE 77, 147). Vorliegend stellte Dr. L erst im Februar 1985 den Antrag auf Versorgung nach dem OEG. Nach § 10 b Satz 2 OEG würden die Zahlungen erst mit Inkraftreten des die Härteregelung des § 10 a OEG einführenden Änderungsgesetzes am 30. Dezember 1984 beginnen. Zu diesem Zeitpunkt befand Dr. L sich bereits in seinem 65. Lebensjahr und damit, worauf der Beklagte zutreffend hinweist, in einem Alter, in dem die überwiegende Anzahl von Erwerbstätigen bereits in den Ruhestand getreten ist. Lediglich der Vorteil einer schon während des Erwerbslebens wegen besonderer beruflicher Betroffenheit erhöhten MdE bleibt dem Beschädigten als Besitzstand auch nach Ausscheiden aus dem Erwerbsleben regelmäßig erhalten (vgl. BSG a.a.O.). Einen derartigen schutzwürdigen Besitzstand hatte Dr. L jedoch noch nicht begründet.
Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Klage keinen Erfolg hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Tatbestand:
Der Kläger, Sohn des 2005 gestorbenen Dr. L begehrt als dessen Rechtsnachfolger für die Vergangenheit Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Der 1920 in Bulgarien geborene Dr. L lebte in Deutschland als heimatloser Ausländer bis zu seiner Einbürgerung im Jahre 1994. Am 2. Juli 1971 wurde er das Opfer eines Raubüberfalls in seinem Import- und Exportgeschäft. Hierbei erlitt er ausweislich der Feststellungen im Strafurteil des Amtsgerichts München vom 13. April 1972 eine Schädelprellung mit mehreren Schnittwunden am Kopf und eine Kontusion und Distorsion der Halswirbelsäule. Er gab in der Folgezeit sein Geschäft auf und lebte in den Jahren 1974 bis 1990 von Sozialhilfe. Der Nervenarzt Dr. B, der ihn im Rahmen eines Feststellungsverfahrens nach dem Schwerbehindertengesetz untersuchte, stellte in seinem Gutachten vom 1. Dezember 1978 u.a. eine Hirnleistungsschwäche nach Hirntrauma und aufgrund cerebro-vasculärer Insuffizienz fest, die er mit einer Minderung der Erwerbstätigkeit (MdE) von 40 v.H. bewertete.
Im Februar 1985 beantragte Dr. L Leistungen nach dem OEG. In dem daraufhin vom Beklagten veranlassten Gutachten vom 3. November 1986 konnte der Neurologe Dr. Th keine Schädigungsfolgen feststellen. Vielmehr läge eine depressive Entwicklung mit Somatisierungstendenz bei Persönlichkeitsstörung vor. Dem Gutachter folgend lehnte das Versorgungsamt München II mit Bescheid vom 25. März 1987 den Antrag ab. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Bayern mit Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 1989 zurück.
Mit seiner Klage hat Dr. L sein Begehren weiterverfolgt. Das Sozialgericht Berlin hat u.a. Befundberichte der ihn behandelnden Ärzte zur Akte genommen, die Schwerbehindertenakte beigezogen sowie das Gutachten des Prof. Dr. Sch vom 20. Dezember 2000, ergänzt durch dessen Stellungnahme vom 10. Juni 2001, und das Gutachten des Dr. H vom 14. Januar 2003 eingeholt, die übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen sind, dass bei Dr. L eine schädigungsbedingte posttraumatische Belastungsstörung vorgelegen habe, die mit einer MdE von 85 v.H. zu bewerten sei, und als Berufsschadensausgleich eine Erhöhung von 10 v.H. vorschlugen.
Das Sozialgericht Berlin hat mit Urteil vom 12. August 2003 den Beklagten verurteilt, als Schädigungsfolge eine ausgeprägte chronische posttraumatische Belastungsstörung mit einer darauf beruhenden MdE von 50 v.H., angehoben um 10 v.H., anzuerkennen und Dr. L seit dem 1. Januar 1985 eine Versorgung nach dem OEG zu gewähren. Hierauf habe er nach § 30 Abs. 1 und 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Verbindung mit § 10 a OEG einen Anspruch. Dr. L sei in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis zum 15. Mai 1975 geschädigt worden. Er habe im Anspruchszeitrum im Geltungsbereich des Gesetzes gelebt und sei bedürftig gewesen. Im Hinblick auf die insoweit nachvollziehbaren und in sich schlüssigen Sachverständigengutachten sei bei dem Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung festzustellen gewesen, die den Folgen der Gewalttat in kausaler Weise mit Wahrscheinlichkeit zuzurechnen sei. Allerdings sei die Schwere der Schädigungsfolgen mit einer MdE von 50 v.H. zu bewerten. Denn unter Zugrundelegung der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) leide Dr. L unter psychischen Störungen mit derartigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die mit einer MdE in dieser Höhe zu bewerten seien. Insoweit sei zum einen abzustellen auf die gravierenden unmittelbaren gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie Angst, Erschöpfbarkeit, Schreckhaftigkeit, depressive Stimmung, Unruhe, Nervosität und Schlaflosigkeit, zum anderen auf die infolge der Gewalttat aufgetretenen sozialen Anpassungsschwierigkeiten wie den zunehmenden Rückzug aus sozialen Zusammenhängen, den Einschränkungen in der Mobilität und den Interessenverlust. Zudem sei aufgrund der besonderen beruflichen Betroffenheit des Klägers die MdE gemäß § 30 Abs. 2 BVG um weitere 10 v.H. auf insgesamt 60 v.H. anzuheben, da dessen berufliche Leistungsfähigkeit gerade im zuletzt ausgeübten Beruf als Kaufmann durch die Folgen der Tat aufgehoben worden sei.
Gegen das Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und vorgebracht: Zwischen den Beteiligten sei inzwischen nicht mehr im Streit, dass bei Dr. L als dem Opfer des Raubüberfalls vom 2. Juli 1971 eine posttraumatische Belastungsstörung vorgelegen habe. Die vom Sozialgericht Berlin hierfür festgestellte MdE von 50 v.H. sei jedoch nicht zutreffend, da eine MdE von 40 v.H. ausreichend sei. Das Sozialgericht habe auch zu Unrecht die MdE um weitere 10 v.H. erhöht, weil keine besondere berufliche Betroffenheit des Herrn L vorgelegen habe.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. August 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Dem schriftsätzlichen Vorbringen des Klägers, der nach dem Tod seines Vaters den Rechtsstreit aufgenommen hat, ist der sinngemäße Antrag zu entnehmen,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte nach öffentlicher Zustellung der Ladung des Klägers entscheiden (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), da dessen Aufenthalt trotz der vom Gericht angestellten Ermittlungen unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist (§ 185 Nr. 1 Zivilprozessordnung in Verbindung mit § 63 Abs. 2 SGG).
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Sozialgericht Berlin hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, dem Kläger als Rechtsnachfolger des Dr. L Versorgungsleistungen nach dem OEG zu gewähren, denn er hat hierauf keinen Anspruch.
Da Dr. L am 2. Juli 1971 – und damit vor Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 – Opfer einer Gewalttat wurde, richtet sich die Gewährung von Leistungen nach der mit Änderungsgesetz vom 20. Dezember 1984 (BGBl. I S. 1723) eingeführten Härteregelung des § 10 a OEG (siehe § 10 Satz 2 OEG). Danach erhalten Personen, die– wie der Kläger – in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt wurden, auf Antrag Versorgung, solange sie 1. allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und 2. bedürftig sind und 3. im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Vorliegend ist zwischen den Beteiligten – zu Recht – nicht mehr im Streit, dass Dr. L als Folge der Gewalttat an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt. Den überzeugenden Ausführungen in den vom Sozialgericht eingeholten Gutachten des Prof. Dr. Sch vom 20. Dezember 2000, ergänzt durch die Stellungnahme vom 10. Juni 2001, und des Dr. H vom 14. Januar 2003 ist zu folgen. Deren Feststellungen stimmen mit Nr. F43.1 der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision (ICD-10) überein, wonach eine posttraumatische Belastungsstörung als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde, entsteht. Der Raubüberfall stellt zweifellos ein derartig tiefgreifendes Erlebnis dar. Auch finden sich in der von den Gutachtern jeweils aufgenommenen Anamnese die verschiedenen typischen Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung, die in Nr. F 43.1 ICD-10 aufgeführt sind, insbesondere das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit, Angst und Depression.
Jedoch lässt sich die Annahme einer durch die Gewalttat verursachten Schwerbeschädigung nicht rechtfertigen. Die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Schädigungsfolgen sind nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) zu bewerten. Hierbei sind die AHP in ihrer letzten Fassung von 2005 heranzuziehen, da es sich bei ihnen nicht um Rechtnormen handelt, sondern um antizipierte Sachverständigengutachten, die den jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben. Deren aktueller Stand ist der gerichtlichen Entscheidung zu-grundezulegen.
Vorliegend ist nach § 30 Abs. 1 BVG die Schwere der Schädigungsfolgen bei Dr. L mit einer MdE von 40 v.H. zu bemessen. Die Einschätzung der Schädigungsfolgen mit einer MdE von 85 v.H. durch die gerichtlichen Sachverständigen ist nicht nachvollziehbar. Für die Annahme, bei Dr. L hätten schwere Störungen mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten im Sinne der Nr. 26.3 der AHP 2005 (S. 48) vorgelegen, spricht nichts. Insoweit wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Ausführungen des Sozialgerichts verwiesen, das sich zutreffend gegen die Bewertung der Gutachter ausgesprochen hat.
Indes lässt sich entgegen der Ansicht des Sozialgerichts eine Einschätzung der schädigungsbedingten Folgen mit einer MdE von 50 v.H. nicht rechtfertigen. Nach Nr. 26.3 der AHP 2005 (S. 48) setzt die Zuerkennung einer MdE in dieser Höhe schwere Störungen (z.B. eine schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten voraus. Gegen das Vorliegen derartig tiefgreifender psychischer Störungen bei Dr. L sprechen übereinstimmend die im zeitlichen Zusammenhang mit der Gewalttat erhobenen Befunde. In seinem ärztlichen Gutachten vom 1. Dezember 1978 beschrieb der Nervenarzt Dr. B lediglich eine Konzentrationsschwäche, Antriebsmängel und eine subdepressive Stimmungslage. Er bewertete die psychische Symptomatik mit einer Einzel-MdE von 40 v.H. Diese Feststellungen werden bestätigt durch den Befundbericht des Dr. L seinerzeit behandelnden Nervenarztes Dr. H vom 23. Dezember 1986, der eine leichte Depression erwähnte. Ein Rückzugsverhalten wurde weder von Dr. L gegenüber den Ärzten geäußert noch in der Anamnese festgestellt. Auch für die von Dr. L insbesondere gegenüber den gerichtlichen Sachverständigen beklagten Schwierigkeiten, wegen der psychischen Folgen des Raubüberfalls einer Arbeit nachzugehen, findet sich kein direkter Anhalt. Im Gegenteil gab er am 5. März 1975 gegenüber der Medizinaldirektorin Li an, dass er zwar gerne arbeiten wolle, jedoch in seinem Beruf – Dr. L war diplomierter Wirtschaftswissenschaftlicher – keine Arbeit finden könne, nachdem er berufsfremd gearbeitet habe und auch nicht mehr jung sei. Gegen die Annahme auch nur mittelgradiger sozialer Anpassungsschwierigkeiten spricht entscheidend, dass ihm eine selbständige Lebensführung ohne weiteres möglich war. Er war ausweislich seiner Angaben gegenüber dem Gutachter Prof. Dr. Sch in der Lage, zu einer ihm freundschaftlich verbundenen ehemaligen Bekannten aus seiner Studienzeit, die ihren Beruf als Ärztin nicht ausübte, sondern von ihrem Vermögen lebte, in den siebziger Jahren eine Liebesbeziehung zu entwickeln. Beide besuchten sich häufiger gegenseitig in Berlin und München. Nachdem seine Bekannte in Berlin-Dahlem ein Haus geerbt hatte, zog er zu ihr und hielt die von ihm gegenüber Dr. H als eheähnlich beschriebene Beziehung trotz schwerster Erkrankungen seiner Lebensgefährtin, die 1980 einen Schlaganfall erlitt und 1985 an Hautkrebs erkrankte, bis zu deren Tod im Jahre 1990 aufrecht. Ebensowenig ist es mit der Annahme mittelgradiger sozialer Anpassungsschwierigkeiten zu vereinbaren, dass Dr. L danach mit Hilfe der Erbschaft seiner Lebensgefährtin ein Dreifamilienhaus in Berlin-Spandau erwerben und bewirtschaften konnte. Hierbei war er den Angaben des Klägers zufolge auch fähig, gegen säumige Mieter Prozesse zu führen. Auch trug Dr. L sich noch im hohen Alter von 85 Jahren mit der Absicht, eine Reise in sein Geburtsland zu unternehmen. Insgesamt sind deshalb die psychischen Folgen der Gewalttat allenfalls als stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit zu bewerten (Nr. 26.3 der AHP 2004, S. 48).
Eine Erhöhung der MdE um weitere 10 v.H. nach § 30 Abs. 2 BVG ist vorliegend nicht möglich. Danach ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, in seinem nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen ist, den er nach Eintritt der Schädigung ausgeübt hat oder noch ausübt. Anders als bei Beurteilung der medizinischen MdE nach § 30 Abs. 1 BVG kann jedoch bei ihrer Höherbewertung wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach § 30 Abs. 2 BVG Beginn und Ende des Berufslebens nicht unberücksichtigt bleiben; schon aus dem Begriff der besonderen beruflichen Betroffenheit ergibt sich, dass eine Höherbewertung grundsätzlich nur für die Zeit der beruflichen Tätigkeit, also während des Erwerbslebens, in Betracht kommt (so Bundessozialgericht –BSG–, Urteil vom 12. Dezember 1995 – 9 RV 9/95 –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 15 = BSGE 77, 147). Vorliegend stellte Dr. L erst im Februar 1985 den Antrag auf Versorgung nach dem OEG. Nach § 10 b Satz 2 OEG würden die Zahlungen erst mit Inkraftreten des die Härteregelung des § 10 a OEG einführenden Änderungsgesetzes am 30. Dezember 1984 beginnen. Zu diesem Zeitpunkt befand Dr. L sich bereits in seinem 65. Lebensjahr und damit, worauf der Beklagte zutreffend hinweist, in einem Alter, in dem die überwiegende Anzahl von Erwerbstätigen bereits in den Ruhestand getreten ist. Lediglich der Vorteil einer schon während des Erwerbslebens wegen besonderer beruflicher Betroffenheit erhöhten MdE bleibt dem Beschädigten als Besitzstand auch nach Ausscheiden aus dem Erwerbsleben regelmäßig erhalten (vgl. BSG a.a.O.). Einen derartigen schutzwürdigen Besitzstand hatte Dr. L jedoch noch nicht begründet.
Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Klage keinen Erfolg hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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