Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Potsdam (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 31 AS 4112/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig, längstens jedoch bis zum 29. Februar 2008, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung ab dem 7. November 2007 in Höhe von monatlich 655,18EUR zu gewähren.
2. Die Antragsgegnerin erstattet der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erbringung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II).
Die Antragsgegnerin gewährte der Antragstellerin mit Bescheid vom 22. August 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Gesetzbuch für die Zeit vom 01. September 2007 bis zum 29. Februar 2008 in Höhe von monatlich 655,18EUR.
Mit Schreiben vom 30. Oktober 2007 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin zur Vorlage von Unterlagen über bestehende Renten- und Lebensversicherungen auf und wies darauf hin, dass die Zahlungen vorsorglich eingestellt werden.
Mit Schreiben vom selben Tage hörte die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu einem Ruhen oder Wegfall des Anspruchs nach § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) an. Mit der Begründung, dass der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II aufgrund von Vermögenswerten in Höhe von 30.205,69EUR nicht bestehe und daher Leistungen für die Zeit vom 09. August 2006 bis zum 31. Oktober 2007 in Höhe von 10.919,27EUR zu Unrecht erbracht worden seien.
Mit dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 07. November 2007 begehrt die Antragstellerin die weitere Leistung von der Antragsgegnerin. Sie ist der Ansicht, dass die vorläufige Zahlungseinstellung rechtswidrig sei, da die Antragsgegnerin keinen Gebrauch von dem gesetzlich eingeräumten Ermessen gemacht habe.
Die Antragstellerin beantragt wortwörtlich;
die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr vorläufig monatlich 100% Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den Vorschriften des SGB II einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung für die Zeit ab dem 07. November 2007 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 29. Februar 2008 dem Grunde nach zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt;
den Antrag zurückzuweisen.
Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, dass die vorläufige Einstellung auf § 40 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 331 Sozialgesetzbuch, Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III) beruhe und deren Voraussetzungen gegeben seien. Sie behauptet, dass die Antragsgegnerin sie bis zum 19. September 2007 über die Existenz der Lebensversicherung in Unkenntnis gelassen habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin verwiesen, der Gegenstand der Entscheidung war.
Gründe:
II.
Der Antrag war dahingehend auszulegen nach § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG), dass nicht nur die Verpflichtung zur Leistung dem Grunde nach gewährt werden sollte sondern auch die Leistung in einer bestimmten Höhe. Der Wortlaut des Antrages ist zwar insoweit mehrdeutig, dass auf der einen Seite 100% der Leistungen gewährt werden sollen und auf der anderen diese dem Grunde nach gewährt werden sollen. Dieses Begehren ist in sich widersprüchlich, da entweder eine Entscheidung über die Leistung dem Grunde nach getroffen werden kann entsprechend der Regelung in § 130 SGG oder eine konkrete Leistung zugesprochen werden kann. Obwohl die Antragstellerin anwaltlich vertreten ist und so wenig Anlass zur Auslegung des Antrags gegeben sein sollte, geht der Vorsitzende davon aus, dass es sich insoweit um eine unklare Formulierung aufgrund eines Versehens handelt. Der Antrag ist für eine Auslegung nach dem wahren Begehren der Antragstellerin offen und die obige Auslegung entspricht diesem Begehren am weitesten.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Das Gericht kann auf Antrag nach § 86 b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden (Satz 1); es kann eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Satz 2). Neben Anordnungsgrund, das ist: der Sachverhalt der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, setzt die Gewährung von einstweiligen Rechtsschutz einen Anordnungsanspruch, das ist ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die Leistung, voraus, zu der die Antragsgegnerin im Wege einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System der gegenseitigen Wechselbeziehung: Ist etwa die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahren, wenn etwa eine vollständige Aufklärung des Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, wenn die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin berührt sind, weil sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen müssen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05).
Alle Voraussetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes sind – unter Beachtung der Grundsätze der objektiven Beweislast – glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO); die richterliche Überzeugensgewissheit in Bezug auf die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruch und des Anordnungsgrundes erfordert insoweit eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit. Sind Grundrechte tangiert, ist die Sach- und Rechtslage allerdings nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen.
Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch in der Form eines Zahlungsanspruchs aus dem Bewilligungsbescheid vom 22. August 2007 gegen die Antragsgegnerin als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen gegen die Antragsgegnerin aufgrund des Bewilligungsbescheides vom 22. August 2007.
Dieser Anspruch ist nicht durch die "Einwendung" der vorläufigen Zahlungseinstellung nach § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 331 Abs. 1 SGB III gehemmt, da die Voraussetzungen dieser "Einwendung" nicht vorliegen. Nach § 331 Abs. 1 Satz 1 SGB II kann die Antragsgegnerin die Zahlung einer laufenden Leistung ohne Erteilung eines Bescheides vorläufig einstellen, wenn sie Kenntnis von Tatsachen erhält, die kraft Gesetzes zum Ruhen oder zum Wegfall des Anspruch führen und wenn der Bescheid, aus dem sich der Anspruch ergibt, deshalb mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben ist.
Es bestehen bereits erhebliche Zweifel, ob die Antragsgegnerin diesen Einwendungen im Schreiben vom 30. Oktober 2007 überhaupt geltend gemacht hat, da in diesem Schreiben eine vorsorgliche Einstellung der Zahlungen mitgeteilt wird. Diese Zweifel können offen bleiben, da eine Mitteilung über die vorläufige Leistungseinstellung für deren Wirksamkeit nicht erforderlich ist, wie sich aus dem Umkehrschluss zur Regelung in § 331 Abs. 1 Satz 2 SGB III ergibt.
Es fehlt aber an der notwendigen Ausübung des Ermessens, da ein Fall des Ermessensausfalls vorliegt.
Der Antragsgegnerin steht bei der Erhebung der Einwendung nach § 331 Abs. 1 SGB III ein Ermessen zu, auch wenn diese zur Wirksamkeit nicht nach außen mitgeteilt werden muss. Dies ergibt sich aus der Formulierung "kann". Die Verweisung in § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ergibt keine Abweichung zu dem bestehenden Ermessensspielraum der Antragsgegnerin. Dieses "kann" ist nach Auffassung des Vorsitzenden als Ermessens - Kann auszulegen (vgl. Pilz, in: Gagel, SGB III, 30. Ergänzungslieferung 2007, § 331 Rn. 11 und Eicher, in: Eicher/Schlegel, SGB III, 71. Ergänzungslieferung 2006, § 331 Rn. 7).
Zwar wird teilweise vertreten, dass keine Ermessensspielraum besteht. Dies folgt aus dem Umstand, dass die Entscheidung über die Einstellung der Zahlung kein Verwaltungsakt darstellt sondern nur ein Verwaltungsinterna oder ein so genannter Realakt. Daher kann es sich nur um ein "Kompetenz-Kann" handeln (Coseriu/Jakob, in: PK-SGB II, 2. Auflage 2004, § 331 Rn. 7). Diese Auslegung überzeugt den Vorsitzenden aus zwei Gründen nicht. Es ist zum einen nicht ersichtlich, weshalb einem Realakt keine Ermessenserwägungen zugrunde liegen können. Entsprechende Aktenvermerke, welche im Rahmen der vorläufigen Einstellung sowieso erfolgen müssen, können auch entsprechende Ermessenserwägungen beinhalten. Darüber hinaus sind im Falle von § 331 Abs. 1 Satz 2 SGB III dem Betroffenen, die maßgeblichen Gründe mitzuteilen. Im Rahmen dieser Mitteilung können die Ermessenserwägungen dargelegt werden.
Für die Möglichkeit einer Ermessensausübung im Rahmen eines Realaktes spricht auch eine vertretene Ansicht zur Regelung in § 51 SGB I (vgl. Seewald, in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, 55. Ergänzungslieferung 2007, SGB I § 51 Rn. 21 f.). Nach dieser Auffassung handelt es sich bei der Aufrechnungserklärung nach § 51 SGB I nicht um einen Verwaltungsakt und trotzdem besteht ein Ermessensspielraum. Dies zeigt, dass ein Ermessensspielraum nicht an das Vorliegen einer Verwaltungsaktkompetenz (= die Befugnis der Behörde einen Verwaltungsakt zu erlassen) geknüpft ist.
Zum anderen handelt es sich bei der vorläufigen Einstellung um einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen, wobei zumindest erhebliche Bedenken hinsichtlich des wenig transparenten Verfahrens bestehen. Insbesondere im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB II wird dem Betroffenen das Existenzminimum in vielen Fällen entzogen. Der Vorsitzende ist der Auffassung, dass dieser schwerwiegende Eingriff nur unter Berücksichtigung einer Ermessensentscheidung verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann, da es sonst zu unverhältnismäßigen Belastungen des Betroffenen im Einzelfall kommen könnte.
Weder dem Schreiben vom 30. Oktober 2007 noch der Verwaltungsakte sind Anhaltspunkte zu entnehmen, dass die Antragsgegnerin ihren Ermessensspielraum genutzt hat, da Aspekte des Ermessens nicht aufgeführt sind.
Es kann daher offen bleiben, ob der Anwendungsbereich des § 331 SGB III überhaupt eröffnet ist, da trotz der Angaben im Schreiben der Antragsgegnerin vom 30. Oktober 2007 ein Fall von § 45 SGB X vorliegt, da nach Auffassung der Antragsgegnerin die Hilfebedürftigkeit bereits bei Erteilung des Bescheides am 22. August 2007 aufgrund des vorhandenen Vermögens fehlte. Hiervon scheint auch die Antragsgegnerin in ihrem Schreiben vom 30. Oktober 2007 auszugehen. Eine sehr enge Auslegung hat erhebliche Zweifel, ob für diese Fälle § 331 SGB III überhaupt Anwendung findet (vgl. SG Berlin, Beschluss vom 20. Januar 2006 – S 103 AS 169/06 ER; kostenpflichtig abrufbar unter www.juris.de und Pilz, in: Gagel, SGB III, 30. Ergänzungslieferung 2007, § 331 Rn. 5; anderer Ansicht Eicher, in: Eicher/Schlegel, SGB III, 71. Ergänzungslieferung 2006, § 331 Rn. 11 und in anderen Werken).
An den Anordnungsgrund sind aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens der Antragstellerin keine hohen Anforderungen zu stellen. Die Zahlungen der Antragsgegnerin dienen der Antragstellerin zum Bestreiten des Lebensunterhalts. Die Einstellung hätte empfindliche Nachteile für die Antragstellerin. Der Antragstellerin ist nicht zumutbar, die vorhandenen Versicherungsverträge aufzulösen, um bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache von diesem Vermögen zu leben, da die Auflösung der Verträge mit Verlusten einhergeht und ein späterer Vertragsschluss, insbesondere im Rahmen der Lebensversicherung, nur nach erneuter Risikoprüfung erfolgt und insoweit für die Antragstellerin erhebliche Nachteile bedeuten kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang in der Hauptsache.
2. Die Antragsgegnerin erstattet der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erbringung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II).
Die Antragsgegnerin gewährte der Antragstellerin mit Bescheid vom 22. August 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Gesetzbuch für die Zeit vom 01. September 2007 bis zum 29. Februar 2008 in Höhe von monatlich 655,18EUR.
Mit Schreiben vom 30. Oktober 2007 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin zur Vorlage von Unterlagen über bestehende Renten- und Lebensversicherungen auf und wies darauf hin, dass die Zahlungen vorsorglich eingestellt werden.
Mit Schreiben vom selben Tage hörte die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu einem Ruhen oder Wegfall des Anspruchs nach § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) an. Mit der Begründung, dass der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II aufgrund von Vermögenswerten in Höhe von 30.205,69EUR nicht bestehe und daher Leistungen für die Zeit vom 09. August 2006 bis zum 31. Oktober 2007 in Höhe von 10.919,27EUR zu Unrecht erbracht worden seien.
Mit dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 07. November 2007 begehrt die Antragstellerin die weitere Leistung von der Antragsgegnerin. Sie ist der Ansicht, dass die vorläufige Zahlungseinstellung rechtswidrig sei, da die Antragsgegnerin keinen Gebrauch von dem gesetzlich eingeräumten Ermessen gemacht habe.
Die Antragstellerin beantragt wortwörtlich;
die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr vorläufig monatlich 100% Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den Vorschriften des SGB II einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung für die Zeit ab dem 07. November 2007 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 29. Februar 2008 dem Grunde nach zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt;
den Antrag zurückzuweisen.
Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, dass die vorläufige Einstellung auf § 40 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 331 Sozialgesetzbuch, Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III) beruhe und deren Voraussetzungen gegeben seien. Sie behauptet, dass die Antragsgegnerin sie bis zum 19. September 2007 über die Existenz der Lebensversicherung in Unkenntnis gelassen habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin verwiesen, der Gegenstand der Entscheidung war.
Gründe:
II.
Der Antrag war dahingehend auszulegen nach § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG), dass nicht nur die Verpflichtung zur Leistung dem Grunde nach gewährt werden sollte sondern auch die Leistung in einer bestimmten Höhe. Der Wortlaut des Antrages ist zwar insoweit mehrdeutig, dass auf der einen Seite 100% der Leistungen gewährt werden sollen und auf der anderen diese dem Grunde nach gewährt werden sollen. Dieses Begehren ist in sich widersprüchlich, da entweder eine Entscheidung über die Leistung dem Grunde nach getroffen werden kann entsprechend der Regelung in § 130 SGG oder eine konkrete Leistung zugesprochen werden kann. Obwohl die Antragstellerin anwaltlich vertreten ist und so wenig Anlass zur Auslegung des Antrags gegeben sein sollte, geht der Vorsitzende davon aus, dass es sich insoweit um eine unklare Formulierung aufgrund eines Versehens handelt. Der Antrag ist für eine Auslegung nach dem wahren Begehren der Antragstellerin offen und die obige Auslegung entspricht diesem Begehren am weitesten.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Das Gericht kann auf Antrag nach § 86 b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden (Satz 1); es kann eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Satz 2). Neben Anordnungsgrund, das ist: der Sachverhalt der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, setzt die Gewährung von einstweiligen Rechtsschutz einen Anordnungsanspruch, das ist ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die Leistung, voraus, zu der die Antragsgegnerin im Wege einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System der gegenseitigen Wechselbeziehung: Ist etwa die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahren, wenn etwa eine vollständige Aufklärung des Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, wenn die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin berührt sind, weil sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen müssen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05).
Alle Voraussetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes sind – unter Beachtung der Grundsätze der objektiven Beweislast – glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO); die richterliche Überzeugensgewissheit in Bezug auf die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruch und des Anordnungsgrundes erfordert insoweit eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit. Sind Grundrechte tangiert, ist die Sach- und Rechtslage allerdings nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen.
Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch in der Form eines Zahlungsanspruchs aus dem Bewilligungsbescheid vom 22. August 2007 gegen die Antragsgegnerin als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen gegen die Antragsgegnerin aufgrund des Bewilligungsbescheides vom 22. August 2007.
Dieser Anspruch ist nicht durch die "Einwendung" der vorläufigen Zahlungseinstellung nach § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 331 Abs. 1 SGB III gehemmt, da die Voraussetzungen dieser "Einwendung" nicht vorliegen. Nach § 331 Abs. 1 Satz 1 SGB II kann die Antragsgegnerin die Zahlung einer laufenden Leistung ohne Erteilung eines Bescheides vorläufig einstellen, wenn sie Kenntnis von Tatsachen erhält, die kraft Gesetzes zum Ruhen oder zum Wegfall des Anspruch führen und wenn der Bescheid, aus dem sich der Anspruch ergibt, deshalb mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben ist.
Es bestehen bereits erhebliche Zweifel, ob die Antragsgegnerin diesen Einwendungen im Schreiben vom 30. Oktober 2007 überhaupt geltend gemacht hat, da in diesem Schreiben eine vorsorgliche Einstellung der Zahlungen mitgeteilt wird. Diese Zweifel können offen bleiben, da eine Mitteilung über die vorläufige Leistungseinstellung für deren Wirksamkeit nicht erforderlich ist, wie sich aus dem Umkehrschluss zur Regelung in § 331 Abs. 1 Satz 2 SGB III ergibt.
Es fehlt aber an der notwendigen Ausübung des Ermessens, da ein Fall des Ermessensausfalls vorliegt.
Der Antragsgegnerin steht bei der Erhebung der Einwendung nach § 331 Abs. 1 SGB III ein Ermessen zu, auch wenn diese zur Wirksamkeit nicht nach außen mitgeteilt werden muss. Dies ergibt sich aus der Formulierung "kann". Die Verweisung in § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ergibt keine Abweichung zu dem bestehenden Ermessensspielraum der Antragsgegnerin. Dieses "kann" ist nach Auffassung des Vorsitzenden als Ermessens - Kann auszulegen (vgl. Pilz, in: Gagel, SGB III, 30. Ergänzungslieferung 2007, § 331 Rn. 11 und Eicher, in: Eicher/Schlegel, SGB III, 71. Ergänzungslieferung 2006, § 331 Rn. 7).
Zwar wird teilweise vertreten, dass keine Ermessensspielraum besteht. Dies folgt aus dem Umstand, dass die Entscheidung über die Einstellung der Zahlung kein Verwaltungsakt darstellt sondern nur ein Verwaltungsinterna oder ein so genannter Realakt. Daher kann es sich nur um ein "Kompetenz-Kann" handeln (Coseriu/Jakob, in: PK-SGB II, 2. Auflage 2004, § 331 Rn. 7). Diese Auslegung überzeugt den Vorsitzenden aus zwei Gründen nicht. Es ist zum einen nicht ersichtlich, weshalb einem Realakt keine Ermessenserwägungen zugrunde liegen können. Entsprechende Aktenvermerke, welche im Rahmen der vorläufigen Einstellung sowieso erfolgen müssen, können auch entsprechende Ermessenserwägungen beinhalten. Darüber hinaus sind im Falle von § 331 Abs. 1 Satz 2 SGB III dem Betroffenen, die maßgeblichen Gründe mitzuteilen. Im Rahmen dieser Mitteilung können die Ermessenserwägungen dargelegt werden.
Für die Möglichkeit einer Ermessensausübung im Rahmen eines Realaktes spricht auch eine vertretene Ansicht zur Regelung in § 51 SGB I (vgl. Seewald, in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, 55. Ergänzungslieferung 2007, SGB I § 51 Rn. 21 f.). Nach dieser Auffassung handelt es sich bei der Aufrechnungserklärung nach § 51 SGB I nicht um einen Verwaltungsakt und trotzdem besteht ein Ermessensspielraum. Dies zeigt, dass ein Ermessensspielraum nicht an das Vorliegen einer Verwaltungsaktkompetenz (= die Befugnis der Behörde einen Verwaltungsakt zu erlassen) geknüpft ist.
Zum anderen handelt es sich bei der vorläufigen Einstellung um einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen, wobei zumindest erhebliche Bedenken hinsichtlich des wenig transparenten Verfahrens bestehen. Insbesondere im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB II wird dem Betroffenen das Existenzminimum in vielen Fällen entzogen. Der Vorsitzende ist der Auffassung, dass dieser schwerwiegende Eingriff nur unter Berücksichtigung einer Ermessensentscheidung verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann, da es sonst zu unverhältnismäßigen Belastungen des Betroffenen im Einzelfall kommen könnte.
Weder dem Schreiben vom 30. Oktober 2007 noch der Verwaltungsakte sind Anhaltspunkte zu entnehmen, dass die Antragsgegnerin ihren Ermessensspielraum genutzt hat, da Aspekte des Ermessens nicht aufgeführt sind.
Es kann daher offen bleiben, ob der Anwendungsbereich des § 331 SGB III überhaupt eröffnet ist, da trotz der Angaben im Schreiben der Antragsgegnerin vom 30. Oktober 2007 ein Fall von § 45 SGB X vorliegt, da nach Auffassung der Antragsgegnerin die Hilfebedürftigkeit bereits bei Erteilung des Bescheides am 22. August 2007 aufgrund des vorhandenen Vermögens fehlte. Hiervon scheint auch die Antragsgegnerin in ihrem Schreiben vom 30. Oktober 2007 auszugehen. Eine sehr enge Auslegung hat erhebliche Zweifel, ob für diese Fälle § 331 SGB III überhaupt Anwendung findet (vgl. SG Berlin, Beschluss vom 20. Januar 2006 – S 103 AS 169/06 ER; kostenpflichtig abrufbar unter www.juris.de und Pilz, in: Gagel, SGB III, 30. Ergänzungslieferung 2007, § 331 Rn. 5; anderer Ansicht Eicher, in: Eicher/Schlegel, SGB III, 71. Ergänzungslieferung 2006, § 331 Rn. 11 und in anderen Werken).
An den Anordnungsgrund sind aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens der Antragstellerin keine hohen Anforderungen zu stellen. Die Zahlungen der Antragsgegnerin dienen der Antragstellerin zum Bestreiten des Lebensunterhalts. Die Einstellung hätte empfindliche Nachteile für die Antragstellerin. Der Antragstellerin ist nicht zumutbar, die vorhandenen Versicherungsverträge aufzulösen, um bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache von diesem Vermögen zu leben, da die Auflösung der Verträge mit Verlusten einhergeht und ein späterer Vertragsschluss, insbesondere im Rahmen der Lebensversicherung, nur nach erneuter Risikoprüfung erfolgt und insoweit für die Antragstellerin erhebliche Nachteile bedeuten kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
Login
FSB
Saved