Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 6 KR 54/05
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Freiwillig Versicherte, deren Mitgliedschaft von der Techniker Krankenkasse in einer sog. „geschlossenen Beitragsklasse“ (Nummer 901) geführt wird, haben auch nach In-Kraft-Treten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes Anspruch auf Kostenerstattung für ärztlich verordnete, nicht verschreibungspflichtige Medikamente (in Höhe von 75 %).
1. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juni 2005 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die Aufwendungen für den Erwerb ärztlich verordneter, nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel in Höhe von 75 vom Hundert zu erstatten.
2. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten, die dem Kläger für den Kauf von nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten entstanden sind.
Der 1929 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit mehreren Jahrzehnten freiwillig gesetzlich krankenversichert. Seine Mitgliedschaft wird in einer sog. "geschlossenen Beitragsklasse" (Nummer 901) geführt. Die Satzung der Beklagten regelt in §§ 11 und 12 die Beitragsbemessung und in § 18 die Leistungsansprüche für diese Mitglieder. Danach gilt für den Kläger ein Kostenerstattungsprinzip, das der Abrechnungspraxis in der privaten Krankenversicherung entspricht.
Im Jahre 2004 reichte der Kläger u.a. mehrere privatärztliche Rezepte seiner behandelnden Ärzte mit den entsprechenden Quittungen seiner Apotheke über die für die verordneten Medikamente geleisteten Zahlungen bei der Beklagten ein. Unter dem 26. August 2004 erstellte die Beklagte eine entsprechende Leistungsabrechnung. Dabei verweigerte sie die Kostenerstattung für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel. Dagegen wandte sich der Kläger und beantragte die Berücksichtigung auch dieser Aufwendungen. Einen entsprechenden Leistungsausschluss sehe § 18 der Satzung der Beklagten für die dort erfassten Mitglieder nicht vor. Daraufhin erließ die Beklagte den Bescheid vom 4. Oktober 2004, mit dem sie aufgrund der Änderungen durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz eine Kostenerstattung für nicht verschreibungspflichtige Medikamente weiterhin ablehnte. Die entsprechende Satzungsregelung beziehe sich nur auf solche Leistungen, die ein Vertragsarzt/-zahnarzt als Sachleistung über die Krankenkasse abrechnen und verordnen dürfte. Dagegen erhob der Kläger fristgerecht Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, er sei nicht auf die Behandlung (einschließlich der Verordnung von Arzneimitteln) durch Vertragsärzte angewiesen, sondern könne alle approbierten Ärzte auswählen. Dieses Privileg sei auch durch den höheren Beitrag gerechtfertigt. Mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 2005 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Nicht verschreibungspflichtige Medikamente seien seit dem 1. Januar 2004 grundsätzlich aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen.
Am 8. Juni 2005 (Eingangsdatum) hat der Kläger dagegen Klage zum Sozialgericht Marburg erhoben.
Er ist der Ansicht, die Leistungseinschränkungen für nicht verschreibungspflichtige Medikamente durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz könnten nicht in seine Rechte als Mitglied in einer geschlossenen Beitragsklasse eingreifen. Die Beklagte könne nicht einseitig seine vertraglichen Ansprüche reduzieren.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juni 2005 aufzuheben und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die Aufwendungen für den Erwerb ärztlich verordneter, nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel in Höhe von 75 vom Hundert zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die geltende Fassung der Satzung der Beklagten beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen des jeweiligen weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte insgesamt; ebenso wird auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Der Klage war in vollem Umfang stattzugeben.
Das Gericht konnte aufgrund der in Abwesenheit des Klägers durchgeführten mündlichen Verhandlung vom 8. Januar 2008 durch Urteil entscheiden, da der Kläger ordnungsgemäß zu diesem Termin geladen und er auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war.
Die Klage ist zulässig. Statthafte Klageart ist im vorliegenden Fall eine kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – in Verbindung mit § 55 SGG). Streitgegenstand ist nicht eine (höhere) Kostenerstattung für konkrete, vom Kläger in Anspruch genommene Leistungen. Der Kläger wendet sich nämlich nicht nur gegen die Leistungsabrechnung der Beklagten vom 26. August 2004. Klagebegehren ist vielmehr die generelle Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger seine Aufwendungen für den Kauf von ärztlich verordneten, nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten zu erstatten. Das für eine solche Klage erforderliche besondere Feststellungsinteresse des Klägers ist im vorliegenden Fall gegeben. Denn zwischen den Beteiligten besteht kein punktueller, einmaliger Streit um die Erstattung konkreter Leistungen. Es handelt sich vielmehr um eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit über das Ausmaß der von der Beklagten geschuldeten Kostenerstattung im Rahmen des zwischen den Beteiligten bestehenden öffentlich-rechtlichen Dauerschuldverhältnisses. In einer solchen Situation ist es weder prozessökonomisch noch dem Kläger zumutbar, diesen auf immer neue Leistungsklagen zu verweisen. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass der Kläger selbst im Laufe dieses erstinstanzlichen Klageverfahrens bereits etliche neue Leistungsanträge bei der Beklagten eingereicht hat, die auch die Erstattung von Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Medikamente betreffen. Nur ein Feststellungsurteil ist hier geeignet, eine grundsätzliche Klärung der streitigen Rechtsfrage zwischen den Beteiligten herbeizuführen.
Die Klage ist auch begründet. Der vom Kläger angegriffene Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2005 war aufzuheben, da er rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Kostenerstattung (in Höhe von 75 v. H.) für seine Aufwendungen für den Erwerb ärztlich verordneter, nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel.
Ein solcher Anspruch ergibt sich für den Kläger unmittelbar aus § 18 der Satzung der Beklagten (in der hier maßgebenden, seit 01. Januar 2004 unverändert geltenden Fassung). Diese Regelung findet auf das Versicherungsverhältnis des Klägers Anwendung, da er freiwilliges Mitglied bei der Beklagten in der geschlossenen Beitragsklasse 901 ist. Dies ergibt sich aus den Regelungen über die Beitragsbemessung in § 12 Abs. 3 und § 11 Abs. 4 der Satzung. Aus § 18 der Beklagtensatzung folgt, dass zwischen den Beteiligten ein Krankenversicherungsverhältnis auf Basis eines Kostenerstattungssystems besteht. Denn der Kläger hat sich die erforderlichen ärztlichen und zahnärztlichen Leistungen sowie die verordneten Mittel selbst zu beschaffen und zu bezahlen (§ 18 Abs. 2 Satz 2 der Satzung). Sodann hat er zur Erstattung die spezifizierten Rechnungen und Verordnungen bei der Beklagten vorzulegen (§ 18 Abs. 4 Satz 1 der Satzung). Daraufhin hat die Beklagte ihm 75 % des jeweiligen Rechnungsbetrages zu erstatten (§ 18 Abs. 4 Satz 2 der Satzung).
Dieser zwischen den Beteiligten unstreitig geltenden Erstattungsregelung unterfallen grundsätzlich auch sämtliche ärztlich verordnete Arzneimittel. Etwas anderes lässt sich insbesondere nicht der einzigen Einschränkung entnehmen, die § 18 Abs. 4 Satz 3 der Beklagtensatzung diesbezüglich enthält. Danach ist die Kostenerstattung im Fall der Verordnung von Arznei-, Verband-, Heilmitteln und Brillengläsern auf "vertragsübliche" Leistungen beschränkt. Die Reichweite dieser nach ihrem Wortlaut unbestimmten Leistungseinschränkung ist im Wege der Auslegung zu ermitteln. Dabei scheidet nach Ansicht der Kammer ein Verständnis der Klausel in dem Sinne, vertragsüblich sei das, was andere Mitglieder der Beklagten aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) beanspruchen können, von vornherein aus. Denn die Leistungsansprüche der bei der Beklagten nicht in einer geschlossenen Beitragsklasse Versicherten beruhen gerade nicht auf einem Vertrag, sondern ergeben sich unmittelbar aus dem Gesetz. Dies nimmt die Satzung der Beklagten auch auf, wenn sie unter dem Gliederungspunkt "D" "Leistungen" einleitend normiert, dass die Versicherten Anspruch auf Leistungen nach den gesetzlichen Vorschriften haben. Von diesem in der Gesetzlichen Krankenversicherung allgemein geltenden Grundsatz macht nun die Regelung des § 18 der Beklagtensatzung jedoch gerade eine Ausnahme. Dieses Regelungssystem, das in § 18 Abs. 1 der Beklagtensatzung auch eine ausdrückliche Rechtsgrundlage findet, würde jedoch ad absurdum geführt, wollte man nun zur Definition der Leistungsansprüche nach § 18 Abs. 4 Satz 3 der Beklagtensatzung wieder auf die gesetzlichen Leistungsansprüche der übrigen Versicherten zurückgreifen. Das Wort "vertragsüblich" kann sich jedoch auch nicht auf das spezielle Versicherungsverhältnis des Klägers in einer geschlossenen Beitragsklasse der Beklagten beziehen. Denn auch dieses beruht nicht auf einem Vertrag, sondern auf dem einseitigen Beitritt des Klägers zur freiwilligen Mitgliedschaft in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dabei handelt es sich um eine einseitige öffentlich-rechtliche Willenserklärung. Nach alledem bleibt aus Sicht der Kammer nur die Möglichkeit, den Begriff "vertragsüblich" sehr viel weiter und abstrakter zu verstehen. Er bezieht sich offenbar nicht auf ein bestimmtes Versicherungsverhältnis in der Gesetzlichen Krankenversicherung, sondern generell auf einen Krankenversicherungsvertrag. Vertragsüblich ist also all das, was üblicherweise von einem Krankenversicherer an Leistungen erbracht wird. Ein solches Verständnis entspricht nach Ansicht der Kammer auch Sinn und Zweck der Satzungsregelung. Sie soll auf der einen Seite sicherstellen, dass die Krankenversicherung ihre Aufgabe, die Gesundheit des Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder den Gesundheitszustand des Versicherten zu bessern (siehe § 1 Satz 1 SGB V) erreichen kann. Auf der anderen Seite soll sie eine Kostenerstattungspflicht der Beklagten für die Inanspruchnahme außergewöhnlicher Leistungen verhindern. Dies gilt etwa für Leistungen, die der Eigenverantwortung des Versicherten zuzuordnen sind (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V) oder Leistungen, die in erster Linie eine Erhöhung der Lebensqualität bezwecken. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass im Ergebnis ihrer Auslegung nur wenige Leistungen aus dem Anwendungsbereich der Kostenerstattungspflicht der Beklagten ausgenommen werden können. Dabei ist etwa an Leistungen zu denken, die auch aus den Erstattungsregelungen der verwaltungsrechtlichen Beihilfesysteme oder der privaten Krankenversicherungen üblicherweise ausgenommen sind. Die daraus resultierende weitreichende Leistungsverpflichtung der Beklagten ist aber nach Ansicht der Kammer unabänderliche Folge der weit gefassten Satzungsregelung in § 18 Abs. 4 Satz 3.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ergibt sich ein anderes Ergebnis auch nicht unmittelbar aus einer Anwendung der gesetzlichen Regelungen des SGB V auf den vorliegenden Fall. Für den konkreten Streitfall heißt das, dass nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht gemäß § 34 SGB V von der Kostenerstattung ausgeschlossen sind. Denn die im SGB V normierten allgemeinen Leistungseinschränkungen für Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen vermögen die satzungsgemäßen besonderen Leistungsansprüche für Mitglieder in geschlossenen Beitragsklassen der Beklagten nicht zu begrenzen. Dies folgt zum einen bereits aus der Regelung in § 18 Abs. 1 der Beklagtensatzung, wonach sich die Leistungsansprüche der betreffenden Mitglieder nur dann nach den gesetzlichen Vorschriften richten, wenn nachstehend, d. h. in den Absätzen 2 bis 4 des § 18 der Beklagtensatzung nichts Abweichendes bestimmt wird. Wie oben dargelegt, enthält § 18 Abs. 4 der Beklagtensatzung jedoch eine abweichende Bestimmung, wenn er eine umfassende Kostenerstattungspflicht der Beklagten (in Höhe von 75 %) für alle ärztlich verordneten und vertragsüblichen Arzneimittel normiert. Unabhängig von dieser rechtstechnischen Argumentation, mit der sich der Vorrang des § 18 Abs. 4 der Beklagtensatzung erklären lässt, ergibt sich das Ergebnis aber auch aus dem gesamten Wesen der besonderen Beitragsklasse 901 der Beklagten. Nach dem Sinn und Zweck aller Satzungsregelungen über die Mitglieder der geschlossenen Beitragsklasse können die einschränkenden Regelungen des SGB V für diese nicht gelten. Denn dies würde eine Aufrechterhaltung dieser besonderen Versicherungsverhältnisse nicht zulassen. Ihre Ausgestaltung entspricht nämlich insgesamt nicht den Regelungen des SGB V. So widerspricht die gesamte Regelung der Kostenerstattung dem ausdrücklichen Verbot des § 13 Abs. 1 SGB V. Auch die in § 18 Abs. 2 Satz 1 der Beklagtensatzung vorgesehene freie Arztwahl unter den approbierten Ärzten und Zahnärzten steht nicht mit den Beschränkungen des SGB V in Einklang, wonach der Versicherte auf die Inanspruchnahme der Leistungen eines Vertragsarztes verwiesen ist. Ferner dürfte die Beklagte dann ihren Versicherten in der geschlossenen Beitragsklasse 901 auch keine Kosten für Rechnungen erstatten, die der in Anspruch genommene Arzt oder Zahnarzt nach der GOÄ bzw. GOZ erstellt hat. Diese Überlegung zeigt, dass auch der Hinweis der Beklagten, die Kostenerstattung beschränke sich auf die Leistungen, die auch ein Vertragsarzt/-zahnarzt als Sachleistung über die Krankenkasse abrechnen und verordnen dürfte, fehl geht. Er steht in offensichtlichem Widerspruch zu der Regelung des § 18 Abs. 2 Satz 1 der Beklagtensatzung.
Ferner ergibt sich das hier gefundene Ergebnis auch aus einem Umkehrschluss zu der Regelung des § 18 Abs. 4 Satz 4 der Beklagtensatzung. Danach werden Leistungen für Zahnersatz nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches gewährt. Dies lässt den Rückschluss zu, dass die zuvor in § 18 Abs. 4 Satz 3 der Beklagtensatzung aufgeführten Leistungen (Arznei-, Verband-, Heilmittel und Brillengläser) gerade nicht den Beschränkungen des SGB V unterliegen sollen. Auch dies spricht gegen eine Heranziehung des § 34 SGB V auf den vorliegenden Fall.
Schließlich hat der Kläger zu Recht darauf hingewiesen, dass seinen besonderen Leistungsansprüchen auch höhere Beiträge gegenüber stehen. Die in § 12 Abs. 3, 4 in Verbindung mit § 11 Abs. 4 der Beklagtensatzung vorgesehene Beitragsbemessung ließe sich aber durch nichts rechtfertigen, wollte die Beklagte dem Kläger stets nur 75 % der Kosten für solche Leistungen erstatten, die andere Versicherte aufgrund der gesetzlichen Regelungen des SGB V in voller Höhe als Sachleistung beanspruchen können.
Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass dieses Leistungssystem aber entgegen der Ansicht des Klägers nicht für alle Zeiten unabänderlich feststeht. Wie oben dargelegt, beruhen die Leistungsansprüche des Klägers nicht auf einem Versicherungsvertrag zwischen den Beteiligten, sondern unmittelbar auf den entsprechenden Satzungsbestimmungen der Beklagten. Damit unterliegen sie dem Vorbehalt einer entsprechenden Satzungsänderung. Eine solche Änderung obliegt jedoch dem Verwaltungsrat der Beklagten (siehe § 2 der Beklagtensatzung). Sie kann nicht im Wege der Leistungsverwaltung erreicht werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
2. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten, die dem Kläger für den Kauf von nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten entstanden sind.
Der 1929 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit mehreren Jahrzehnten freiwillig gesetzlich krankenversichert. Seine Mitgliedschaft wird in einer sog. "geschlossenen Beitragsklasse" (Nummer 901) geführt. Die Satzung der Beklagten regelt in §§ 11 und 12 die Beitragsbemessung und in § 18 die Leistungsansprüche für diese Mitglieder. Danach gilt für den Kläger ein Kostenerstattungsprinzip, das der Abrechnungspraxis in der privaten Krankenversicherung entspricht.
Im Jahre 2004 reichte der Kläger u.a. mehrere privatärztliche Rezepte seiner behandelnden Ärzte mit den entsprechenden Quittungen seiner Apotheke über die für die verordneten Medikamente geleisteten Zahlungen bei der Beklagten ein. Unter dem 26. August 2004 erstellte die Beklagte eine entsprechende Leistungsabrechnung. Dabei verweigerte sie die Kostenerstattung für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel. Dagegen wandte sich der Kläger und beantragte die Berücksichtigung auch dieser Aufwendungen. Einen entsprechenden Leistungsausschluss sehe § 18 der Satzung der Beklagten für die dort erfassten Mitglieder nicht vor. Daraufhin erließ die Beklagte den Bescheid vom 4. Oktober 2004, mit dem sie aufgrund der Änderungen durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz eine Kostenerstattung für nicht verschreibungspflichtige Medikamente weiterhin ablehnte. Die entsprechende Satzungsregelung beziehe sich nur auf solche Leistungen, die ein Vertragsarzt/-zahnarzt als Sachleistung über die Krankenkasse abrechnen und verordnen dürfte. Dagegen erhob der Kläger fristgerecht Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, er sei nicht auf die Behandlung (einschließlich der Verordnung von Arzneimitteln) durch Vertragsärzte angewiesen, sondern könne alle approbierten Ärzte auswählen. Dieses Privileg sei auch durch den höheren Beitrag gerechtfertigt. Mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 2005 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Nicht verschreibungspflichtige Medikamente seien seit dem 1. Januar 2004 grundsätzlich aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen.
Am 8. Juni 2005 (Eingangsdatum) hat der Kläger dagegen Klage zum Sozialgericht Marburg erhoben.
Er ist der Ansicht, die Leistungseinschränkungen für nicht verschreibungspflichtige Medikamente durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz könnten nicht in seine Rechte als Mitglied in einer geschlossenen Beitragsklasse eingreifen. Die Beklagte könne nicht einseitig seine vertraglichen Ansprüche reduzieren.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juni 2005 aufzuheben und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die Aufwendungen für den Erwerb ärztlich verordneter, nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel in Höhe von 75 vom Hundert zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die geltende Fassung der Satzung der Beklagten beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen des jeweiligen weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte insgesamt; ebenso wird auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Der Klage war in vollem Umfang stattzugeben.
Das Gericht konnte aufgrund der in Abwesenheit des Klägers durchgeführten mündlichen Verhandlung vom 8. Januar 2008 durch Urteil entscheiden, da der Kläger ordnungsgemäß zu diesem Termin geladen und er auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war.
Die Klage ist zulässig. Statthafte Klageart ist im vorliegenden Fall eine kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – in Verbindung mit § 55 SGG). Streitgegenstand ist nicht eine (höhere) Kostenerstattung für konkrete, vom Kläger in Anspruch genommene Leistungen. Der Kläger wendet sich nämlich nicht nur gegen die Leistungsabrechnung der Beklagten vom 26. August 2004. Klagebegehren ist vielmehr die generelle Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger seine Aufwendungen für den Kauf von ärztlich verordneten, nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten zu erstatten. Das für eine solche Klage erforderliche besondere Feststellungsinteresse des Klägers ist im vorliegenden Fall gegeben. Denn zwischen den Beteiligten besteht kein punktueller, einmaliger Streit um die Erstattung konkreter Leistungen. Es handelt sich vielmehr um eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit über das Ausmaß der von der Beklagten geschuldeten Kostenerstattung im Rahmen des zwischen den Beteiligten bestehenden öffentlich-rechtlichen Dauerschuldverhältnisses. In einer solchen Situation ist es weder prozessökonomisch noch dem Kläger zumutbar, diesen auf immer neue Leistungsklagen zu verweisen. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass der Kläger selbst im Laufe dieses erstinstanzlichen Klageverfahrens bereits etliche neue Leistungsanträge bei der Beklagten eingereicht hat, die auch die Erstattung von Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Medikamente betreffen. Nur ein Feststellungsurteil ist hier geeignet, eine grundsätzliche Klärung der streitigen Rechtsfrage zwischen den Beteiligten herbeizuführen.
Die Klage ist auch begründet. Der vom Kläger angegriffene Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2005 war aufzuheben, da er rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Kostenerstattung (in Höhe von 75 v. H.) für seine Aufwendungen für den Erwerb ärztlich verordneter, nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel.
Ein solcher Anspruch ergibt sich für den Kläger unmittelbar aus § 18 der Satzung der Beklagten (in der hier maßgebenden, seit 01. Januar 2004 unverändert geltenden Fassung). Diese Regelung findet auf das Versicherungsverhältnis des Klägers Anwendung, da er freiwilliges Mitglied bei der Beklagten in der geschlossenen Beitragsklasse 901 ist. Dies ergibt sich aus den Regelungen über die Beitragsbemessung in § 12 Abs. 3 und § 11 Abs. 4 der Satzung. Aus § 18 der Beklagtensatzung folgt, dass zwischen den Beteiligten ein Krankenversicherungsverhältnis auf Basis eines Kostenerstattungssystems besteht. Denn der Kläger hat sich die erforderlichen ärztlichen und zahnärztlichen Leistungen sowie die verordneten Mittel selbst zu beschaffen und zu bezahlen (§ 18 Abs. 2 Satz 2 der Satzung). Sodann hat er zur Erstattung die spezifizierten Rechnungen und Verordnungen bei der Beklagten vorzulegen (§ 18 Abs. 4 Satz 1 der Satzung). Daraufhin hat die Beklagte ihm 75 % des jeweiligen Rechnungsbetrages zu erstatten (§ 18 Abs. 4 Satz 2 der Satzung).
Dieser zwischen den Beteiligten unstreitig geltenden Erstattungsregelung unterfallen grundsätzlich auch sämtliche ärztlich verordnete Arzneimittel. Etwas anderes lässt sich insbesondere nicht der einzigen Einschränkung entnehmen, die § 18 Abs. 4 Satz 3 der Beklagtensatzung diesbezüglich enthält. Danach ist die Kostenerstattung im Fall der Verordnung von Arznei-, Verband-, Heilmitteln und Brillengläsern auf "vertragsübliche" Leistungen beschränkt. Die Reichweite dieser nach ihrem Wortlaut unbestimmten Leistungseinschränkung ist im Wege der Auslegung zu ermitteln. Dabei scheidet nach Ansicht der Kammer ein Verständnis der Klausel in dem Sinne, vertragsüblich sei das, was andere Mitglieder der Beklagten aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) beanspruchen können, von vornherein aus. Denn die Leistungsansprüche der bei der Beklagten nicht in einer geschlossenen Beitragsklasse Versicherten beruhen gerade nicht auf einem Vertrag, sondern ergeben sich unmittelbar aus dem Gesetz. Dies nimmt die Satzung der Beklagten auch auf, wenn sie unter dem Gliederungspunkt "D" "Leistungen" einleitend normiert, dass die Versicherten Anspruch auf Leistungen nach den gesetzlichen Vorschriften haben. Von diesem in der Gesetzlichen Krankenversicherung allgemein geltenden Grundsatz macht nun die Regelung des § 18 der Beklagtensatzung jedoch gerade eine Ausnahme. Dieses Regelungssystem, das in § 18 Abs. 1 der Beklagtensatzung auch eine ausdrückliche Rechtsgrundlage findet, würde jedoch ad absurdum geführt, wollte man nun zur Definition der Leistungsansprüche nach § 18 Abs. 4 Satz 3 der Beklagtensatzung wieder auf die gesetzlichen Leistungsansprüche der übrigen Versicherten zurückgreifen. Das Wort "vertragsüblich" kann sich jedoch auch nicht auf das spezielle Versicherungsverhältnis des Klägers in einer geschlossenen Beitragsklasse der Beklagten beziehen. Denn auch dieses beruht nicht auf einem Vertrag, sondern auf dem einseitigen Beitritt des Klägers zur freiwilligen Mitgliedschaft in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dabei handelt es sich um eine einseitige öffentlich-rechtliche Willenserklärung. Nach alledem bleibt aus Sicht der Kammer nur die Möglichkeit, den Begriff "vertragsüblich" sehr viel weiter und abstrakter zu verstehen. Er bezieht sich offenbar nicht auf ein bestimmtes Versicherungsverhältnis in der Gesetzlichen Krankenversicherung, sondern generell auf einen Krankenversicherungsvertrag. Vertragsüblich ist also all das, was üblicherweise von einem Krankenversicherer an Leistungen erbracht wird. Ein solches Verständnis entspricht nach Ansicht der Kammer auch Sinn und Zweck der Satzungsregelung. Sie soll auf der einen Seite sicherstellen, dass die Krankenversicherung ihre Aufgabe, die Gesundheit des Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder den Gesundheitszustand des Versicherten zu bessern (siehe § 1 Satz 1 SGB V) erreichen kann. Auf der anderen Seite soll sie eine Kostenerstattungspflicht der Beklagten für die Inanspruchnahme außergewöhnlicher Leistungen verhindern. Dies gilt etwa für Leistungen, die der Eigenverantwortung des Versicherten zuzuordnen sind (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V) oder Leistungen, die in erster Linie eine Erhöhung der Lebensqualität bezwecken. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass im Ergebnis ihrer Auslegung nur wenige Leistungen aus dem Anwendungsbereich der Kostenerstattungspflicht der Beklagten ausgenommen werden können. Dabei ist etwa an Leistungen zu denken, die auch aus den Erstattungsregelungen der verwaltungsrechtlichen Beihilfesysteme oder der privaten Krankenversicherungen üblicherweise ausgenommen sind. Die daraus resultierende weitreichende Leistungsverpflichtung der Beklagten ist aber nach Ansicht der Kammer unabänderliche Folge der weit gefassten Satzungsregelung in § 18 Abs. 4 Satz 3.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ergibt sich ein anderes Ergebnis auch nicht unmittelbar aus einer Anwendung der gesetzlichen Regelungen des SGB V auf den vorliegenden Fall. Für den konkreten Streitfall heißt das, dass nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht gemäß § 34 SGB V von der Kostenerstattung ausgeschlossen sind. Denn die im SGB V normierten allgemeinen Leistungseinschränkungen für Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen vermögen die satzungsgemäßen besonderen Leistungsansprüche für Mitglieder in geschlossenen Beitragsklassen der Beklagten nicht zu begrenzen. Dies folgt zum einen bereits aus der Regelung in § 18 Abs. 1 der Beklagtensatzung, wonach sich die Leistungsansprüche der betreffenden Mitglieder nur dann nach den gesetzlichen Vorschriften richten, wenn nachstehend, d. h. in den Absätzen 2 bis 4 des § 18 der Beklagtensatzung nichts Abweichendes bestimmt wird. Wie oben dargelegt, enthält § 18 Abs. 4 der Beklagtensatzung jedoch eine abweichende Bestimmung, wenn er eine umfassende Kostenerstattungspflicht der Beklagten (in Höhe von 75 %) für alle ärztlich verordneten und vertragsüblichen Arzneimittel normiert. Unabhängig von dieser rechtstechnischen Argumentation, mit der sich der Vorrang des § 18 Abs. 4 der Beklagtensatzung erklären lässt, ergibt sich das Ergebnis aber auch aus dem gesamten Wesen der besonderen Beitragsklasse 901 der Beklagten. Nach dem Sinn und Zweck aller Satzungsregelungen über die Mitglieder der geschlossenen Beitragsklasse können die einschränkenden Regelungen des SGB V für diese nicht gelten. Denn dies würde eine Aufrechterhaltung dieser besonderen Versicherungsverhältnisse nicht zulassen. Ihre Ausgestaltung entspricht nämlich insgesamt nicht den Regelungen des SGB V. So widerspricht die gesamte Regelung der Kostenerstattung dem ausdrücklichen Verbot des § 13 Abs. 1 SGB V. Auch die in § 18 Abs. 2 Satz 1 der Beklagtensatzung vorgesehene freie Arztwahl unter den approbierten Ärzten und Zahnärzten steht nicht mit den Beschränkungen des SGB V in Einklang, wonach der Versicherte auf die Inanspruchnahme der Leistungen eines Vertragsarztes verwiesen ist. Ferner dürfte die Beklagte dann ihren Versicherten in der geschlossenen Beitragsklasse 901 auch keine Kosten für Rechnungen erstatten, die der in Anspruch genommene Arzt oder Zahnarzt nach der GOÄ bzw. GOZ erstellt hat. Diese Überlegung zeigt, dass auch der Hinweis der Beklagten, die Kostenerstattung beschränke sich auf die Leistungen, die auch ein Vertragsarzt/-zahnarzt als Sachleistung über die Krankenkasse abrechnen und verordnen dürfte, fehl geht. Er steht in offensichtlichem Widerspruch zu der Regelung des § 18 Abs. 2 Satz 1 der Beklagtensatzung.
Ferner ergibt sich das hier gefundene Ergebnis auch aus einem Umkehrschluss zu der Regelung des § 18 Abs. 4 Satz 4 der Beklagtensatzung. Danach werden Leistungen für Zahnersatz nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches gewährt. Dies lässt den Rückschluss zu, dass die zuvor in § 18 Abs. 4 Satz 3 der Beklagtensatzung aufgeführten Leistungen (Arznei-, Verband-, Heilmittel und Brillengläser) gerade nicht den Beschränkungen des SGB V unterliegen sollen. Auch dies spricht gegen eine Heranziehung des § 34 SGB V auf den vorliegenden Fall.
Schließlich hat der Kläger zu Recht darauf hingewiesen, dass seinen besonderen Leistungsansprüchen auch höhere Beiträge gegenüber stehen. Die in § 12 Abs. 3, 4 in Verbindung mit § 11 Abs. 4 der Beklagtensatzung vorgesehene Beitragsbemessung ließe sich aber durch nichts rechtfertigen, wollte die Beklagte dem Kläger stets nur 75 % der Kosten für solche Leistungen erstatten, die andere Versicherte aufgrund der gesetzlichen Regelungen des SGB V in voller Höhe als Sachleistung beanspruchen können.
Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass dieses Leistungssystem aber entgegen der Ansicht des Klägers nicht für alle Zeiten unabänderlich feststeht. Wie oben dargelegt, beruhen die Leistungsansprüche des Klägers nicht auf einem Versicherungsvertrag zwischen den Beteiligten, sondern unmittelbar auf den entsprechenden Satzungsbestimmungen der Beklagten. Damit unterliegen sie dem Vorbehalt einer entsprechenden Satzungsänderung. Eine solche Änderung obliegt jedoch dem Verwaltungsrat der Beklagten (siehe § 2 der Beklagtensatzung). Sie kann nicht im Wege der Leistungsverwaltung erreicht werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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