L 10 B 79/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 92 AS 15118/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 B 79/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. Dezember 2007 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an die 107. Kammer des Sozialgerichts Berlin zurückverwiesen.

Gründe:

Mit dem am 02. Januar 2008 angefochtenen Beschluss hat das Sozialgericht (SG) Berlin den am 06. Juli 2007 bei ihm anhängig gemachten Antrag, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, "bis zur Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II vom 8. Mai 2007 dem Antragsteller eine angemessene monatliche Abschlagszahlung zu zahlen" abgelehnt, nachdem die Antragsgegnerin diesen Antrag mit noch nicht bestandskräftigen Bescheid vom 13. Juli 2007 (dort wurde allerdings als Antragsdatum der 07. Mai 2007 genannt) abgewiesen hatte. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers sei nicht mehr gegeben, da sich sein (Eil-)Antrag mit Erlass des Bescheids vom 13. Juli 2007 erledigt habe. Da der Antragsteller anwaltlich vertreten sei, käme eine Auslegung seines (Eil-)Antrags generell nicht in Betracht.

Diese Rechtsauffassung des SG hält einer Überprüfung nicht stand.

Vielmehr ist dem Vorbringen des Antragstellers von Beginn an zu entnehmen, dass er sein Rechtsschutzziel - die vorläufige (einstweilige) Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) - in zeitlicher Hinsicht nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung der Antragsgegnerin über seinen Leistungsantrag vom 07. bzw. 08. Mai 2007, mithin des Bescheides vom 13. Juli 2007, beschränkt wissen wollte. Die in zeitlicher Hinsicht hiervon abweichende, und damit gänzlich am Wortlaut des gestellten Eilantrags festhaltende Interpretation des Rechtsschutzbegehrens durch das SG steht mit § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht in Einklang. Diese Norm, die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entsprechend Anwendung findet, berechtigt zwar den Richter nicht, an die Stelle dessen bzw. über das hinaus, was erklärtermaßen gewollt wird, das zu setzen, was nach Meinung des Richters gewollt werden sollte; damit würde der Rahmen zulässiger Auslegung überschritten. Deshalb ist – und insofern tritt der Senat der Rechtsauffassung des SG bei - bei einem (Eil-)Antrag, der durch einen Rechtskundigen – im konkreten Fall durch einen Rechtsanwalt - formuliert worden ist, grundsätzlich davon auszugehen, dass das, was beantragt worden ist, auch gewollt wird. Dieser Grundsatz erfährt aber dann eine Ausnahme, wenn offenkundig ist, dass der (Eil-)Antrag – so wie er formuliert worden ist – hinter dem ersichtlichen Rechtschutzziel zurückbleibt, mithin deutlich ist, dass das Begehren des Antragstellers nicht vollständig Ausdruck gefunden hat. So liegt hier der Fall: Dem Vorbringen des Antragstellers ist – wie es sich aus der Begründung seines (Eil-)Antrages ergibt - an keiner Stelle der Wille zu entnehmen, im Falle einer negativen, aber noch nicht bestandskräftigen Entscheidung der Antragsgegnerin über seinen Leistungsantrag einstweilen einen leistungslosen Zustand hinzunehmen. Es ist auch kein Grund ersichtlich, warum der Antragsteller – anders als jeder andere vernünftige Antragsteller - eine derartige zeitliche Beschränkung seines Begehrens vorgenommen haben sollte. Das Auslegungsergebnis des Senats findet schließlich auch eine Bestätigung im Schreiben des Antragstellers vom 27. November 2007, in dem er der im Schreiben des SG vom 20. November 2007 geäußerten Rechtsansicht widersprochen hat, wonach sich das einstweilige Verfahren nach Erlass des Bescheides vom 13. Juli 2007 mit Rücksicht auf den bereits abgelaufenen "Bewilligungsabschnitt" und darauf, dass einstweiliger Rechtsschutz nur für die Zukunft gewährt werden könne, erledigt habe.

Vor diesem Hintergrund macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG an das SG zurückzuverweisen, da dieses aufgrund der fehlerhaften Annahme, es sei an den Wortlaut des gestellten Eilantrags gebunden, noch nicht in der Sache selbst entschieden hat. Mit dem Begriff der Sache i.S. des § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist der eigentliche Streitgegenstand gemeint. Soweit das SG in dem angefochtenen Beschluss auch noch näher auf die Sache selbst eingegangen ist und u.a. dargelegt hat, dass selbst dann, wenn man ausnahmsweise eine Auslegung des (Eil-)Antrags dahingehend vornähme, dass es dem Antragsteller auf Zahlung einer Abschlagszahlung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über seinen Antrag ankäme, ein Anordnungsgrund nicht gegeben sei, sind diese Ausführungen als nicht geschrieben anzusehen und nicht geeignet, den aufzuhebenden Beschluss des SG in der Sache zu tragen (vgl. Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, RdNr 91 zu § 121 mwN). Prozess- und Sachabweisung entfalten eine unterschiedliche Rechtskraftwirkung (§ 141 Abs. 1 SGG). Auch Beschlüsse im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entscheiden bindend über einen vorläufigen Zustand und sind in diesem Sinne der materiellen Rechtskraft zugänglich. Dies gilt auch für ablehnende Beschlüsse; auch dann können die Anträge nicht beliebig oft wiederholt werden (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, RdNr 6 zu § 121).

Im Hinblick auf die genannten Darlegungen in der Sache erscheint es dem Senat aber geboten, auf Folgendes hinzuweisen: Es entspricht zwar auch und gerade der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass im Falle einer beantragten Regelungsanordnung iS von § 86b Abs 2 Satz 2 SGG grundsätzlich ein Anordnungsgrund für die im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zurückliegenden Zeiträume zu verneinen ist, sofern nicht ein besonderes Nachholbedürfnis glaubhaft gemacht wird. Unzutreffend ist aber die Auffassung des SG, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung (also am 17. Dezember 2007) der Zeitraum, für den der Erlass einer Regelungsanordnung begehrt werden konnte, bereits vollständig abgelaufen gewesen sei. Denn mit dem Bescheid vom 13. Juli 2007 hat die Antragsgegnerin SGB II-Leistungen ohne zeitliche Begrenzung abgelehnt (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 14/06 R, juris RdNr 20, SozR 4-4200 § 20 Nr. 1). Entgegen der vom Antragsteller im Beschwerdeverfahren geäußerten Rechtsauffassung enthält der Bescheid vom 13. Juli 2007 ebenso eine negative Entscheidung über seinen Leistungsantrag vom 07. Mai 2007 bzw. 08. Mai 2007 wie der Bescheid vom 02. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides hinsichtlich seines am 13. März 2007 gestellten Leistungsantrags, unbeschadet der in beiden (Ausgangs-)Bescheiden verwandten Formulierung, den Anträgen habe vorläufig nicht entsprochen werden können. Einer Auslegung der bezeichneten Bescheide in diesem Sinne steht bereits entgegen, dass für eine lediglich vorläufige Leistungsablehnung keine Rechtsgrundlage existiert. Die Antragsgegnerin hat in diesen Bescheiden insbesondere auch nicht eine lediglich vorläufige Versagung der Leistungen i.S. der §§ 60 ff Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) ausgesprochen. Gegen eine Auslegung als Versagung spricht schon, dass die Antragsgegnerin in diesen Bescheiden jeweils ausgeführt hat, dass die Anträge abgelehnt werden müssten, wenngleich dies damit begründet worden ist, dass die Vermögens- und Einkommensnachweise der von der Antragsgegnerin als Partnerin des Antragstellers angesehenen H R nicht vorgelegt worden seien. Mag somit auch gegen das Verbot des vorzeitigen Verfahrensabschlusses verstoßen worden sein, so kommt doch eine Auslegung als Versagung schon deshalb nicht in Betracht, weil das für eine Versagung in den §§ 60, 66 Abs 1 SGB I vorgesehene Verfahren nicht eingehalten und insbesondere bei der Bescheiderteilung nicht geprüft worden ist, ob der Antragsteller zu einer bestimmten Mitwirkungshandlung unter Fristsetzung mit der Androhung der Versagung im bestimmten Umfang aufgefordert worden ist. Die zukunftsoffene Ablehnung im Bescheid vom 13. Juli 2007 bedingt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung des SG jedenfalls auch noch über die Zeit nach der Entscheidung des SG und damit über die Zukunft zu befinden war.

Die unter den Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 SGG im Ermessen des Landessozialgerichts stehende Zurückverweisung erscheint im vorliegenden Fall zweckmäßig, um den Beteiligten hinsichtlich der zu treffenden Sachentscheidung nicht den Rechtsweg zu verkürzen. Die Verfahrensweise führt zu keiner Verzögerung, da sie zeitnah erfolgt und der Senat nichts vorfindet, worauf er eine eigene Sachentscheidung (ggf unter Ergänzung des Tatsachenstoffs) stützen könnte.

Die Zurückverweisung erfolgt hier ausnahmsweise nicht an die 92. Kammer des SG Berlin und damit an den Spruchkörper des SG Berlin, dessen Entscheidung angefochten worden ist, sondern an dessen 107. Kammer, da dies die Kammer ist, die aufgrund der Vorbefassungsregelung im Geschäftsverteilungsplan des SG Berlin für das Jahr 2008 vom 17. Dezember 2007 (vgl. Nr. 11 aaO) über den einstweiligen Rechtsschutzantrag zu befinden hat (vgl. zur Maßgeblichkeit des Geschäftsverteilungsplan des Gerichts, an das zurückverwiesen wird: Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, RdNr 8 zu § 170). Unbeschadet der Frage, ob der mit der Entscheidung durch die Vorsitzende der 92. Kammer des SG Berlin gegebene Verstoß gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz) für sich genommen eine Zurückverweisung an die zuständige Kammer des SG rechtfertigt (so Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03. Mai 2007 - L 18 B 654/07 AS ER, juris), ist der Senat jedenfalls nicht gehindert, im Rahmen der Zurückverweisung den zuständigen Spruchkörper des SG zu bezeichnen. Die Zuständigkeit der 107. Kammer besteht, denn der Streitgegenstand des seit dem 03. April 2007 vor ihr anhängigen Klageverfahrens - S 107 AS 8231/07 – ist mit dem Streitgegenstand dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens i.S. des bezeichneten Geschäftsverteilungsplans zumindest teilidentisch. In dem bezeichneten Klageverfahren wendet sich der Antragsteller gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 02. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 2007, mit dem sein für die Zeit ab dem 01. März 2007 gestellter Leistungsantrag vom 13. Februar 2007 abgelehnt worden ist, mit dem Ziel, ihm ab dem 01. März 2007 Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Gegenstand dieses (Hauptsache-)Verfahrens ist nach dem derzeitigen Sachstand die gesamte bis zur gerichtlichen Entscheidung verstrichene und noch verstreichende Zeit, da sich der Antragsteller in jenem Verfahren gegen einen Bescheid wehrt, mit dem SGB II-Leistungen ohne zeitliche Begrenzung abgelehnt worden sind und seinem Klagebegehren nicht ausdrücklich eine zeitliche Beschränkung seines Begehrens zu entnehmen ist. Da der Antragsteller zwischenzeitlich einen neuen Leistungsantrag gestellt hat und dieser wiederum abschlägig beschieden worden, ist diese (erneute)Ablehnung im Bescheid vom 13. Juli 2007 in unmittelbarer Anwendung des § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden, da diese Ablehnung für den späteren Zeitraum den früheren Ablehnungsbescheid vom 02. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 2007 ersetzt (BSG, Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 14/06 R, juris RdNr 20, SozR 4-4200 § 20 Nr. 1; hingegen werden im gerichtlichen Höhenstreit Folgebescheide für anschließende Leistungszeiträume - anders als im Arbeitsförderungsrecht - nicht analog § 96 SGG Gegenstand laufender Klageverfahren (hierzu BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 14/06 R, juris RdNr 30, SozR 4-4200 § 20 Nr. 1; Urteil vom 23. November 2006, juris RdNr 14, SozR 4-4300 § 428 Nr. 3).

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des SG vorbehalten.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das BSG angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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