S 21 SO 85/07

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Leipzig (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 21 SO 85/07
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Gegenüber Pflichtversicherungstatbeständen sind Hilfen zur Gesundheit nach sozialhilferechtlichen Bestimmungen nachrangig.
hat die 21. Kammer des Sozialgerichts Leipzig durch den Richter am Sozialgericht Pretzel-Friedsam ohne mündliche Verhandlung am 30. Oktober 2007 folgenden Beschluss erlassen: I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

I.

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Krankenversicherungsschutz.

Der am ...1974 geborene Kläger ist schwerbehindert bei einem Grad der Behinderung (GdB) von 100, mit im Schwerbehindertenausweis eingetragenen Merkzeichen "RF", "B", "BL" und "G". Er ist stark sehbehindert und war bei der Beigeladenen zu 1.) familienversichert. Seit 01.10.1993 ist er eingeschriebener Student an der Universität Leipzig und befindet sich zum Stand Wintersemester 2006/07 in den Fächern Kommunikations- und Medienwissenschaft als Hauptfach und den Nebenfächern Politikwissenschaft und Amerikanistik im 27. Fachsemester. Er bezog Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) und Landesblindengeld. Ferner erhielt er von der Antragsgegnerin Sozialhilfe und Hilfe in besonderen Lebenslagen.

Durch Bescheid vom 17.03.2005 gewährte die Antragsgegnerin ab 01.01.2005 bis auf weiteres Hilfe zur Gesundheit in Form von Krankenhilfe, weil er zu dem Personenkreis der Nichtversicherten gehöre, und bei ihm eine Krankheit vorliege, deren Kosten nicht durch einen vorrangigen Leistungsträger, d.h. hier die Krankenkasse, übernommen würden. Er werde deshalb von der Antragsgegnerin (Sozialamt) bei der Krankenkasse seiner Wahl, der Allgemeinen Ortskrankenkasse Sachsen (AOK), angemeldet, wobei sie die anfallenden Kosten hierfür übernehmen werde.

Am 02.05.2007 meldete die Antragsgegnerin den Antragsteller bei der AOK ab, weil er am 01.04.2007 kein Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsen oder Siebenten Kapitel Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) sei, sondern reiner Leistungsempfänger.

Durch Bescheid vom 02.05.2007 verfügte die Antragsgegnerin zugleich zum 01.04.2007 das Ende des Anspruchs auf Hilfe bei Krankheit und vorbeugender Gesundheitshilfe nach dem Fünften Kapitel des SGB XII. Er habe nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) zum 01.04.2007 einen Rechtsanspruch auf gesetzliche Krankenversicherung, da kein Anspruch auf anderweitige Absicherung im Krankheitsfall vorliege. Er müsse daher bis zum 15.05.2007 seine Versichertenkarte zurückgeben und sich bei einer Krankenkasse anmelden. Da er erwerbsfähig sei, komme eine (teilweise) Übernahme der Krankenversicherungsbeiträge durch die Antragsgegnerin nicht in Betracht, möglicherweise bestehe aber die Möglichkeit einer Beitragsübernahme durch die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Leipzig. Diesbezüglich möge er sich an diese wenden.

Hiergegen legte der Antragsteller am 04.06.2007 Widerspruch ein. Nach einem Gerichtsurteil stehe fest, dass das Sozialamt die Beiträge zur BARMER Ersatzkasse übernehmen müsse. Er sei momentan als behinderter Mensch nicht versichert und könne nicht warten, bis die Gesetzeslage geändert werde.

Nach Hinweis- und Anhörungsschreiben vom 11.06.2007 wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 12.07.2007 den Widerspruch zurück. Im Hinblick auf die ab 01.04.2007 geltende Rechtslage könne er in Anbetracht des unmittelbaren gesetzlichen Vorrangverhältnisses der gesetzlichen Krankenversicherung keine Leistungen der Hilfe bei Krankheit im Rahmen der Sozialhilfe mehr erhalten. Gegen diesen Widerspruchsbescheid könne er innerhalb eines Monats "nach Zustellung" Klage beim Sozialgericht Leipzig erheben.

Am 06.09.2007 hat der Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz beim Sozialgericht Leipzig begehrt. Er sei ab 01.04.2007 nicht mehr krankenversichert. Er leide unter Glaukom und habe eine Rest-Sehvermögen von 2 % auf dem rechten Auge, linksseitig sei er blind. Zur Erhaltung des Rest-Sehvermögens sei es notwendig, Augentropfen einzunehmen. Mangels Krankenversicherungsschutzes ab 01.04.2007 könne er jedoch weder die verschreibungspflichtigen Augentropfen bezahlen, noch die augenärztliche Kontrolle seines Augendruckes, die einmal monatlich erforderlich sei. Da er als Student ohne Einkommen auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder anderweitige finanzielle Leistungen durch die ARGE habe, müsse die Krankenkasse die Kosten des Krankenversicherungsschutzes übernehmen. Ansonsten drohe ihm Erblindung und der Abbruch seines Studiums.

Er beantragt,

ihm "vor dem Sozialgericht Leipzig einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren".

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Akteninhalt, eine Gerichtsakte sowie ein Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Antrag auf "vorläufigen Rechtsschutz" ist dahingehend sachdienlich auszulegen (§ 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entsprechend), dass der Antragsteller von der Antragsgegnerin die vorläufige weitere Übernahme der Kosten für die Absicherung im Krankheitsfall begehrt.

Dieser statthafte Antrag ist zulässig. Dem steht nicht entgegen, dass der Antragsteller gegen den Bescheid vom 02.05.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2007 noch nicht den statthaften Rechtsbehelf (Klage), sondern erst am 06.09.2007 vorläufigen Rechtsschutz eingelegt hat. Denn die "Rechtsmittelbelehrung" (wohl richtig: Rechtsbehelfsbelehrung) im Widerspruchsbescheid vom 12.07.2007 ist rechtsfehlerhaft. Nach dieser Belehrung kann gegen den Widerspruchsbescheid innerhalb eines Monats "nach Zustellung" Klage erhoben werden. Gem. § 87 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Klage aber binnen eines Monats nach "Bekanntgabe" des Verwaltungsaktes zu erheben.

Der Hinweis auf eine – gesetzlich nicht zwingend gebotene - Zustellung des Verwaltungsaktes zur Berechnung der Klagefrist schadet zwar grundsätzlich nicht, wenn – wie hier – die bloße Bekanntgabe ausreichend und vorgeschrieben ist; eine entsprechende Frist liefe dann aber erst ab tatsächlicher Zustellung des Widerspruchsbescheides (wie hier: BSG SozR 1500 § 84 Nr. 6). Ausweislich des Akteninhaltes bestehen hierfür jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Da die Belehrung somit unrichtig erteilt worden ist, ist nach Maßgabe des § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG die Einlegung des Rechtsbehelfs noch innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig. Der streitgegenständliche Bescheid vom 02.05.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2007 ist mithin noch nicht in Bestandskraft erwachsen, so dass die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich noch möglich ist.

Der Antrag bleibt jedoch ohne Erfolg. Das Gericht kann nach Maßgabe des § 86 b Abs. 2 SGG auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Da der Antragsteller die vorläufige Kostenübernahme durch die Antragsgegnerin für die weitere Hilfe zur Gesundheit begehrt, erstrebt er vorläufigen Rechtsschutz entsprechend § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn anders als bei einer sogenannten Sicherungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG), bei der die Sicherung eines status quo im Vordergrund steht, geht es bei einer sogenannten Regelungsanordnung, wie im vorliegenden Fall, um die Begründung einer neuen Rechtsposition.

Für die Regelungsanordnung sind (ebenso wie nach § 123 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)) der durch die einstweilige Anordnung zu sichernde Anspruch (Anordnungsanspruch) und der Grund, weshalb die einstweilige Anordnung ergehen soll (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen.

Die Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch sind im Falle der Vorwegnahme der Hauptsache nur glaubhaft gemacht, wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für das Obsiegen im Hauptsacheverfahren besteht (so: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.08.1992, DVBl. 93, 66). Andererseits muss die Anwendung des vorläufigen Rechtsschutzes unter Beachtung des jeweils betroffenen Grundrechtes und des Erfordernisses des effektiven Rechtsschutzes aus Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) erfolgen. Dann müssen jedoch gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, dass das Rechtsmittel in der Hauptsache aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird (BVerfG, Beschluss vom 25.10.1988, NJW 89, 827).

Daran fehlt es hier. Zwar darf sich das Gericht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss vom 12.05.2005, Az: 1 BvR 569/05) bei der Ablehnung existenzieller Leistungen nicht auf eine lediglich summarische Prüfung beschränken, insbesondere die Anforderungen an eine Glaubhaftmachung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nicht überspannen. Vorliegend ergibt sich jedoch bereits auf Grund der Gesetzeslage kein hinreichender Anordnungsanspruch auf weitere Kostenübernahme durch die Antragsgegnerin, weil der Antragsteller versicherungspflichtig ist. Gem. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sind versicherungspflichtig Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt krankenversichert waren oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass sie zu den in Abs. 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten. Hier war der Antragsteller unstreitig zuletzt über seine Mutter bei der BARMER Ersatzkasse gesetzlich bis 01.10.2000 krankenversichert. Eine Familienversicherung nach § 10 SGB V reicht indes zur (Wieder-) Begründung von Versicherungsschutz nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V aus (ebenso: Baier, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, § 5 SGB V Rdnr. 80, Stand: 3/07).

Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass diese Versicherung bereits längere Zeit (7 Jahre) zurückliegt; denn der Gesetzgeber hat bei der Definition von "zuletzt" keine zeitliche Befristung vorgesehen. Dahinter steht vielmehr die gesetzgeberische Erwägung, durch das GKV-WSG einen flächendeckenden Krankenversicherungsschutz auch für diejenigen zu begründen, die bisher die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht erfüllten, quasi eine "Bürgerversicherung" für die zuvor Schutzlosen (wie hier: Peters, Kasseler Kommentar, § 5 SGB V Rdnr. 158, Stand: 6/07). Der Anspruch auf Krankenversicherungsschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung wäre lediglich ausgeschlossen, wenn keine gesetzliche, sondern eine private Krankenversicherung bestanden hätte; denn dann wäre der Antragsteller nicht "zuletzt" gesetzlich krankenversichert. Dies ist hier aber ersichtlich nicht der Fall.

Da § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nur zum Tragen kommt, wenn keine "anderweitige" Absicherung im Krankheitsfall besteht, ist diese Vorschrift grundsätzlich nachrangig. Zu Recht weist die Antragsgegnerin darauf hin, dass nach Vollendung des 14. Fachsemesters und des 30. Lebensjahres nur im Ausnahmefall, der hier nicht vorliegt, ein studentischer Krankenversicherungsschutz nach Maßgabe des § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V in Betracht kommt. Auch für die hier angestrebte fortbestehende Zuständigkeit der Antragsgegnerin bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte. Zwar hat der Antragsteller bisher von der Antragsgegnerin Leistungen in Form der Hilfe zur Gesundheit nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) bezogen; diese Leistungen sind indes ihrerseits subsidiär: denn nach § 5 Abs. 8 a Satz 2 SGB V unterfällt nur derjenige Sozialhilfebezieher nicht der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V, der Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten und Siebten Kapitel des Zwölften Buches ist. Im Umkehrschluss werden demzufolge Empfänger von Leistungen des Fünften Kapitels des Zwölften Buches (Hilfen zur Gesundheit) – wie im Falle des Antragstellers – (wieder) versicherungspflichtig, so dass es insoweit beim Grundsatz des seinerseitigen Nachrangs der Sozialhilfe bleibt (§ 2 SGB XII).

Dem kann der Antragsteller auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass das Sozialgericht Leipzig mit Beschluss vom 21.12.2001 die Erbringung von Leistungen durch die Beigeladene zu 1.) abgelehnt hatte (Az: S 13 KR 187/01 ER); dort war er darauf verwiesen worden, gegebenenfalls die Hilfe des Sozialamtes in Anspruch zu nehmen. Der Beschluss beruhte insoweit aber auf der früheren Rechtslage nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und nicht auf dem jetzt geltenden SGB XII. Durch den, durch das GKV-WSG neu in Kraft getretenen, § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sind nunmehr jedoch – wie aufgezeigt - auch Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren, mit in die Versicherungspflicht einbezogen. Ob dem Antragsteller über die Härtefallregelung des § 7 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) eine Hilfe zu gewähren ist, weil er als grundsätzlich erwerbsfähig anzusehen sei, war hier nicht zu entscheiden, zumal der Antragsteller nach eigenen Angaben mit Schriftsatz vom 26.09.2007 noch keinen Antrag auf Pflichtversicherung bei der Beigeladenen zu 1.) gestellt hat.

Zudem fehlt es vorliegend auch an einem Anordnungsgrund. Eine besondere Dringlichkeit, die dieses Gericht zum Erlass einer einstweiligen Anordnung verpflichten könnte, ist nicht mit der erforderlichen Sicherheit dargetan. Eine Antragstellung bei der Beigeladenen zu 1.) und die gegenüber Sozialhilfeleistungen – wie ausgeführt - vorrangig wäre, hat der Antragsteller noch nicht getätigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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