L 16 R 881/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 6 R 710/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 R 881/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 22/08 B
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 18. Juli 2005 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Zahlung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1961 in Polen geborene Kläger, deutscher Staatsangehöriger, arbeitete dort nach Abbruch des Studiums an der Fachhochschule (Management) im Büro am PC. Am 28.11.1988 zog er in die Bundesrepublik Deutschland zu und war von Januar 1990 bis Februar 1994 als Montagearbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Dabei erlitt er im Januar 1990 einen Arbeitsunfall mit Verätzungen im linken Hals- und Schulterbereich durch Säure mit anschließenden mehreren chirurgischen Narbenkorrekturen und häufigen Krankschreibungen. Ab März 1994 bezog er durchgehend bis August 2000 Leistungen wegen Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit; die im Februar 1996 begonnene Umschulung zum Industriekaufmann durch die Bundesagentur für Arbeit brach er aus gesundheitlichen Gründen sowie auf Grund fehlender deutscher Sprachkenntnisse ab. Die Beklagte gewährte ihm auf Grund eines gerichtlichen Vergleichs (Sozialgericht R., Az. S 1 RJ 34/00)) vom 09.11.2001 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 01.09.2000 bis 31. 01.2002 auf der Grundlage eines Leistungsfalles der Erwerbsunfähigkeit am 09.02.2000. Diesem Vergleich lag das Gutachten von Dr. K. zu Grunde, die auf Grund einer Untersuchung des Klägers am 01.08.2000 und unter Berücksichtigung des Entlassungsberichtes des Bezirksklinikums R. vom 16.05.2000 in ihrem Gutachten vom 03.10.2000 insbesondere eine depressive Entwicklung bei paranoider und histrionischer Persönlichkeitsstruktur feststellte und das Leistungsvermögen des Klägers ab der Einweisung in das Bezirkskrankenhaus am 09.02.2000 mit unter halbschichtig einstufte. Denn das Bezirksklinikum R. stellte in seinem Entlassungsbrief über den ersten stationären Aufenthalt des Klägers vom 09.02.2000 bis 19.04.2000 aufgrund eines ausgeprägten depressiven Syndroms mit akuten Suizidgedanken als Diagnosen einen Verdacht auf Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und histrionischen Anteilen, eine Dysthymie, eine Somatisierungsstörung und einen Verdacht auf Schmerzmittelabhängigkeit fest. In seinem weiteren Entlassungsbericht über den zweiten stationären Aufenthalt des Klägers vom 06.09.2000 bis 08.11.2000 wegen einer schweren depressiven Verstimmung mit paranoiden Denkinhalten diagnostizierte es eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, einen Verdacht auf wahnhafte Störung und eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen bei zugrunde liegender Dysthymie.

Die Arbeitsagentur für Arbeit R. gewährte dem Kläger vom 16.09.2002 bis 13.06.2003 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Danach war er bis 22.02.2005 in der Rechtsform einer Ich-AG (mit Bezug eines Existenzgründungszuschusses) selbständig tätig.

In der mündlichen Verhandlung vom 09.11.2001 beantragte er die Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Dr. B. bescheinigte in seinem Attest vom 15.11.2001, dass dieser augenblicklich weniger als 3 h arbeitsfähig sei. Dr. M., Arzt für Neurologie und Psychiatrie der ärztlichen Gutachterstelle der Beklagten, kam in seinem Gutachten vom 30.01.2002 auf der Grundlage einer Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis, dass insbesondere längerdauernde depressive Verstimmungszustände vorlägen und sich der psychopathologische Zustand des Klägers im Vergleich zum Gutachten von Dr. K. vom 03.10.2000 gebessert habe. Der Kläger könne daher täglich wieder mindestens 6 h bzw. vollschichtig leichte Tätigkeiten verrichten. Bei der Untersuchung habe dieser angegeben, dass er sich nicht mehr so depressiv wie früher und psychisch gut fühle. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 21.02.2002 ab, weil der Kläger über den 31. Januar 2002 hinaus weder berufs- noch erwerbsunfähig sei.

Mit dem dagegen erhobenen Widerspruch trug der Kläger vor, dass er nach Ansicht seines behandelnden Psychiaters Dr. B. berufsunfähig sei. Nach Beiziehung eines Befundberichtes von Dr. B. erholte die Beklagte ein weiteres psychiatrisches Gutachten von Dr. St. von der ärztlichen Gutachterstelle R., basierend auf einer Untersuchung des Klägers am 04.07.2002. Dieser diagnostizierte eine abnorme seelische Entwicklung mit körperbezogener Ausgestaltung bei Persönlichkeitsstörung. Die psychischen Störungen des Klägers seien nicht so gravierend, dass sie nicht mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwunden werden könnten, denn eine krankheitswertige Antriebsstörung liege derzeit nicht vor. Das Leistungsvermögen sei daher lediglich qualitativ, nicht aber quantitativ eingeschränkt. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 11.10.2002 als unbegründet zurückgewiesen, weil der Kläger weder berufs- noch erwerbsunfähig und auch nicht teilweise oder voll erwerbsgemindert sei. Auf Grund der zuletzt und nicht nur vorübergehend ausgeübten ungelernten Tätigkeit sei er auf alle seinem Leistungsvermögen entsprechenden Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht R. verfolgte der Kläger unter Vorlage einer weiteren Bescheinigung von Dr. B. sein Ziel der Gewährung von Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit weiter.

Das Sozialgericht holte zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen zwei psychiatrische Gutachten von Dr. R. und Dr. R. und ein psychologisches Zusatzgutachten von dem Diplom-Psychologen O. sowie auf den Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG ein weiteres psychiatrisches Gutachten von Dr. B. - jeweils auf der Grundlage einer Untersuchung des Klägers - ein.

Dr. R., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, kam in seinem Gutachten vom 20.08.2003 sowie in seinen ergänzenden Stellungnahmen vom 18.12.2004 und vom 30.09.2003 unter Berücksichtigung des Ergebnisses des psychologischen Zusatzgutachtens von O. vom 23.07.2003 zu dem Ergebnis, dass der erhobene psychopathologische Zustand dem von Dr. M. festgestellten Zustand entspreche. Als Gesundheitsstörungen diagnostizierte er eine kombinierte Persönlichkeit mit histrionischen und paranoiden Zügen, eine Dysthymie sowie eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen. Auf Grund der nach dem Ergebnis des testpsychologischen Zusatzgutachtens festgestellten mäßigen Verlangsamung des Klägers seien seine geistige Leistungsfähigkeit und Flexibilität zwar leicht eingeschränkt, aber dennoch ausreichend. Hinweise für eine Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit in Form von inhaltlichen oder formalen Denkstörungen oder auf eine Störung des Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnisses lägen nicht vor. Der Kläger sei für leichte Arbeiten im Wechsel zwischen Gehen, Sitzen und Stehen ohne besonderen Zeitdruck und ohne Nacht-, Schicht- oder Wechselschicht vollschichtig einsetzbar. Bei den stationären Aufenthalten in Jahr 2000 habe es sich nur um eine vorübergehende Symptomatik gehandelt. Entsprechende Medikamente seien folgenlos abgesetzt worden.

Dagegen stellte der den Kläger behandelnde Dr. B., Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, in seinem gemäß § 109 SGG erholten Gutachten vom 07.03.2005 aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 23.02.2005 und unter Berücksichtigung seiner langjährigen Behandlung des Klägers fest, dass der Kläger an einer paranoiden Persönlichkeitsstruktur mit histrionischen und paranoiden Zügen, einer schweren depressiven Episode mit latenter Suizidalität, einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Muskelreizerscheinungen und einer Migräne leide. Seine geistige Leistungsfähigkeit, sein Umstellungsvermögen und seine Flexibilität seien dadurch schwer eingeschränkt. Die Interpretation der Vorgutachter sei durch das Bemühen des Klägers, einen möglichst leistungsfähigen Eindruck zu vermitteln, zu erklären. Zuletzt habe erneut eine schwere depressive Symptomatik mit Suizidalität bestanden, weil sich der Kläger in seinem Lebensentwurf völlig gescheitert gesehen habe. Nach Ansicht von Dr. B. könne der Kläger seit 01.02.2002 keine Arbeitsleistung mehr erbringen.

Dr. R., Facharzt für Psychiatrie, hielt aufgrund einer weiteren Untersuchung des Klägers in seinem Gutachten vom 16.06.2005 dessen Leistungsvermögen ab dem Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. B. am 23.02.2005 für aufgehoben. Denn zum Untersuchungszeitpunkt habe in Übereinstimmung mit der Beschreibung des psychopathologischen Befundes durch Dr. B. ein schwerer depressiver Affekt mit massiver Einschränkung der affektiven Schwingungsfähigkeit bestanden. Im Vergleich zu den Vorbegutachtungen durch Dr. M., Dr. St. und Dr. R. habe sich der psychopathologische Befund gravierend verschlechtert. Auf psychiatrischem Fachgebiet lägen daher eine schwere depressive Episode (neurotische Depression) bei Persönlichkeitsstörung und eine wahnhafte Störung (Differentialdiagnose: schleichend verlaufende schizophrene Psychose) vor. Auf Grund der aktenkundigen Gutachten liege dieser Gesundheitszustand erst ab dem Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. B. vor. Mit einer Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit sei in absehbarer Zeit nicht zu rechnen.

Das Sozialgericht verurteilte die Beklagte mit Urteil vom 18. Juli 2005, beim Kläger ab 23.02.2005 das Vorliegen von voller Erwerbsminderung anzunehmen und dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bis 31.08.2007 nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Denn nach dem Gutachten von Dr. R. vom 16.06.2005 sei erst ab dem 23.02.2005 eine schwere depressive Episode bei Persönlichkeitsstörung mit wahnhafter Störung nachgewiesen. Für den davor liegenden Zeitraum sei dagegen nach den Gutachten von Dr. R. und Dr. R. weder der Nachweis des Vorliegens einer vollen noch einer teilweisen Erwerbsminderung oder von Berufsunfähigkeit erbracht. Da der Kläger als Montagearbeiter dem Leitberuf des ungelernten Arbeiters zuzuordnen sei, sei er auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.

Die Beklagte zahlte ab 01.09.2005 die Urteilsrente an den Kläger.

Dagegen hat der Kläger unter Verweis auf das Beweisergebnis des Gutachtens von Dr. B. Berufung eingelegt, weil sowohl dessen Befunde als auch dessen Schlussfolgerungen vom Sozialgericht in Zweifel gezogen worden seien.

Der Senat hat von Dr. B. einen Befundbericht mit Fremdbefunden sowie seine gesamte Patientenkartei beigezogen. In dessen Befundbericht vom 05.09.2006 wird u.a. ausgeführt, dass zuletzt mittelgradige rezidivierende depressive Episoden bestanden hätten, seit 2002 keine stationären Behandlungen mehr durchgeführt worden seien und wesentliche Veränderungen nicht eingetreten seien.

Dr. R. führt in seiner vom Senat hierzu eingeholten Stellungnahme vom 04.12.2006 aus, dass der von ihm angenommene Leistungsfall der Erwerbsminderung am 23.02.2005 auf der infolge des Scheiterns der beruflichen Perspektiven entstandenen schweren Verstimmung und Verschlimmerung der Depression des Klägers beruhe. Sowohl er als auch Dr. B. hätten bei ihren Untersuchungen eine schwere depressive Episode festgestellt, die durch eine schwere Herabsenkung der Stimmungslage, eine Einschränkung der affektiven Schwingungsfähigkeit und eine deutliche Antriebsminderung gekennzeichnet gewesen sei. Dagegen seien die zu vermutende wahnhafte Störung und die paranoiden und histrionischen Persönlichkeitszüge, die als überdauernde Merkmale ins Erwerbsleben mitgebracht worden seien, für die Annahme des Leistungsfalls unbedeutend gewesen. Der Kläger habe für die Zeit vor Februar 2005 noch berufliche Perspektiven entwickelt und an Praktika teilgenommen. Erste Hinweise für eine zunehmend depressive resignative Haltung des Klägers seien nach den Krankenunterlagen (einschließlich Patientenkartei) erst ab Februar 2005 mit dem Scheitern beruflicher Perspektiven erkennbar.

Dagegen hat der Kläger eingewandt, dass die Leistungseinschätzung von Dr. B. auf einer Art Langzeitbegutachtung beruhe und die von ihm festgestellten Befunde von Dr. R. nicht ausreichend gewürdigt worden seien. Dass er sich selbst für arbeitsfähig gehalten habe, beruhe auf seinem Krankheitsbild. Auch habe die Betriebskrankenkasse der BMW AG noch im Herbst 2001 einen weiteren Krankenhausaufenthalt im Bezirksklinikum R. mangels Aussicht auf Heilung nicht übernehmen wollen. Der Senat hat auf den Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG ein Gutachten von Professor Dr. Sch., Leitender Medizinalratdirektor i.R., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenarzt, eingeholt. Dieser stellt in seinem Gutachten vom 12.06.2007 fest, dass beim Kläger bereits seit 1993 eine fixierte Erkrankung vorgelegen habe. Es sei früh zu einer Chronifizierung der Erkrankung des Klägers gekommen, die trotz der Behandlungsversuche und der Bemühungen des Klägers im Kern stabil geblieben sei bzw. zugenommen habe bis hin zur Suizidalität und zur wahnhaften Entwicklung. Auch wenn der Kläger bei Testungen durchaus leistungsorientiert gute Ergebnisse erzielt habe und sich arbeitsbereit gezeigt habe, so sei er im entscheidenden Moment jedoch unfähig, konsequent und entschieden mit Distanz und Zuverlässigkeit eine kontinuierliche Tätigkeit zu verrichten. Die tiefgreifenden Krankheitssymptome und damit auch Krankheiten mit der Tendenz zur Chronifizierung seien auf der labilen Persönlichkeitsbasis des Klägers durch massive aktuelle Konflikte - wie der Säureunfall und die psychosozialen Verletzungen im Jahr 1989 - ausgelöst worden. Seine Entwicklung von beruflichen Perspektiven bzw. seine Teilnahme an Praktika zeigten lediglich seine Primärpersönlichkeit mit der hohen Leistungsbereitschaft und der Suche nach sozialer Anerkennung. Erkennbar sei hierin die schwere konflikthafte Spannung zwischen Leistungswille und Leistungsunfähigkeit und die sich daraus ergebende Blockierung bis hin zur depressiven Störung während der gesamten streitgegenständlichen Zeit. Die zuletzt auf der Resignation des Klägers beruhende schwere depressive Hemmung sei nur der Gipfel des kontinuierlich bestehenden chronifizierten Krankheitsbildes, das mindestens von 2000 an bis heute bestanden habe und noch bestehe. Ab 01.02.2002 lägen beim Kläger daher eine chronifizierte Depression im Sinn einer neurotisch-reaktiven Entwicklung (Anpassungsstörung) mit dauerhaften, wechselnden Somatisierungsstörungen und intermittierend und zuletzt steigender wahnhafter misstrauischer Entwicklung sowie eine selbstunsicher ängstliche histrionische Persönlichkeitsstörung, die bis zu dem aktuellen Konflikt und auslösendem Ereignis (Unfall) durch Rationalisierungen und erhebliche Leistungsbereitschaft sowie soziale Anpassung kompensiert worden, danach aber unter den hinzukommenden psychosozialen und medizinischen Belastungen dekompensiert worden sei. Auf Grund dieser schweren chronifizierten psychischen Störungen könne der Kläger ab 01.02.2002 unter den üblichen Bedingungen eines Arbeitsverhältnisses keine regelmäßigen Tätigkeiten mehr verrichten.

Nach den Ausführungen von Dr. R. in seiner hierzu vom Senat eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom 09.09.2007 sei eine schwere Chronifizierung der psychisch-seelischen Gesundheitsstörungen kein absoluter Maßstab für die Beurteilung des Leistungsvermögens; maßgeblich sei hier allein das überdauernde Ausmaß der Depression. Da leichte bis mittelschwere depressive Störungen in der Regel noch nicht zu einer Beeinträchtigung des beruflichen Leistungsvermögens führten, komme es auf die psychopathologischen Charakteristika - wie schwerste depressiv-seelische Einengung mit deutlicher Minderung des Antriebs, Leistungsinsuffizienz etc. - einer mindestens mittelschweren, eher aber schweren depressiven Störung an. Ausreichende Hinweise für eine derartige überdauernde schwere depressive Störung für die Zeit vor 23.02.2005 fehlten aber.

Die Beklagte hat dem Kläger mit Bescheid vom 18.10.2007 im Anschluss an die Zeitrente Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer bewilligt. Grundlage hierfür ist ein Befundbericht von Dr. B. vom 24.09.2007, in dem eine Depression mit paranoiden Anteilen diagnostiziert wird und eine immer wiederkehrende akute Symptomatik mit Verfolgungsgefühl bei depressiver Grundhaltung des Klägers beschrieben wird.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts R. vom 18.07.2005 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2002 zu verurteilen, über den 31.01.2002 hinaus Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung bis 31.08.2005 zu zahlen, hilfsweise zur weiteren Sachaufklärung den behandelnden Arzt Dr. B. als sachverständigen Zeugen und die Ehefrau des Klägers als Zeugin zu der Frage zu hören, wie sich das Stimmungsbild des Klägers über den gesamten Zeitraum entwickelt hat (Leistungsinsuffizienz, Antriebsminderung, gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, schnelle Ermüdbarkeit und dgl. - s. Schriftsatz vom 15.11.2007).

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gerichtsakten beider Rechtszüge, der Archivakte des Sozialgerichts R. Az. S 1 RJ 34/00, der Akten der Arbeitsagentur R. und der Archivakte des OLG Nürnberg Az. 5 U 371/05 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die vom Kläger form- und fristgerecht eingelegte sowie statthafte Berufung ist gemäß §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Sie hat in der Sache aber keinen Erfolg.

Mit seinem Urteil vom 18.07.2005 hat das Sozialgericht die Klage gegen den Bescheid vom 21.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2002 insoweit zu Recht abgewiesen, als der Kläger auf Grund eines Leistungsfalls der Erwerbsminderung am 23.02.2005 keinen Anspruch auf Gewährung von Rentenleistungen vor dem 01.09.2005 hat. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens hat der Kläger keinen Anspruch auf Weitergewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit über den 31.01.2002 hinaus nach §§ 43, 44 des Sechsten Sozialgesetzbuches (SGB VI) in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung (a.F.) und auch keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit im Sinn der §§ 43, 240 SGB VI in der ab 01.01.2001 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (BGBl. I S. 1827 - n.F.-).

Der Kläger ist weder über den 31.01.2002 hinaus erwerbs- oder berufsunfähig noch vor dem 23.02.2005 auf Dauer voll oder teilweise erwerbsgemindert.

Der Anspruch des Klägers richtet sich zunächst nach den Vorschriften des SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung, weil der Kläger bereits auf Grund eines Leistungsfalles der Erwerbsunfähigkeit am 09.02.2000 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bis 31.01.2002 bezogen hat (§ 300 Abs. 2 SGB VI). Soweit ein neuer Leistungsfall der Erwerbsminderung erst nach dem 31.01.2002 nachgewiesen ist, beurteilt sich dieser Anspruch nach dem ab 01.01.2001 geltenden neuen Recht der Erwerbsminderung.

Nach §§ 43, 44 SGB VI a.F. und §§ 43, 240 SGB VI n.F. haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bzw. Erwerbsminderung, wenn sie 1. erwerbs- oder berufsunfähig bzw. erwerbsgemindert sind, 2. sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor dem Eintritt der Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Diese Voraussetzungen sind beim Kläger nicht allesamt erfüllt. Er ist nicht mindestens berufsunfähig im Sinn des § 240 Abs. 2 SGB VI n.F ... Erst recht erfüllt er nicht die strengeren Voraussetzungen für das Vorliegen einer teilweisen oder vollen Erwerbsminderung im Sinn von § 43 Abs. 1 Satz 2, § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI n.F. und einer Berufsunfähigkeit im Sinn des § 43 SGB VI a.F. sowie einer Erwerbsunfähigkeit im Sinn des § 44 SGB VI a.F ...

Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs.1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs.2 Satz 2 SGB VI). Nach der in Rechtsfortbildung der Versicherungsfälle der verminderten Erwerbsfähigkeit durch das Bundessozialgericht entwickelten und vom Gesetzgeber auch durch das EMRefG gebilligten (vgl. § 43 Abs.3 SGB VI) Arbeitsmarktrente ist der Versicherte darüber hinaus auch voll erwerbsgemindert, wenn das Leistungsvermögen auf unter sechs Stunden ab¬gesunken ist und der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist, weil der Versicherte keinen zumutbaren Arbeitsplatz innehält (Beschluss des Großen Senats des BSG vom 19.12.1996, SozR 3-2600 § 44 Nr.8).

Das berufliche Leistungsvermögen des Klägers ist in dem Zeitraum vom 01.02.2002 bis 22.02.2005 qualitativ, nicht aber quantitativ dauernd eingeschränkt. Der Eintritt eines unter sechs-stündigen Leistungsvermögens ist erst ab dem Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. B. am 23.02.2005 voll bewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Überzeugung des Senats (Vollbeweis) nachgewiesen. Es darf kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalles begründeter Zweifel bestehen (s. statt vieler Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage, § 118 Rdnr. 5 ff. und § 128 Rdnr. 3b m.w.N.). Kann das Gericht bestimmte Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen (non liquet), so gilt der Grundsatz, dass jeder die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (so etwa BSGE 27, 40). Der Kläger muss daher nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Folgen tragen, wenn eine Ungewissheit wegen der für ihn günstigen Tatsachen verblieben ist. Denn für das Vorliegen der rechtsbegründenden Tatbestandsvoraussetzungen der Erwerbsminderung trägt der Versicherte die Darlegungs- sowie die objektive Beweislast (so BSG SozR 3-2600 § 43 Rdnr. 14). Der Senat hat alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Er hat alle verfügbaren ärztlichen Unterlagen der behandelnden Ärzte, insbesondere auch die gesamte Patientenkartei von Dr. B., beigezogen sowie zur Auswertung dieser Unterlagen eine ergänzende Stellungnahme durch Dr. R. eingeholt. Es bestand keine Veranlassung zur Einvernahme des den Kläger behandelnden Arztes Dr. B. als sachverständigen Zeugen sowie der Ehefrau des Klägers als Zeugin zu der Frage, wie sich das Stimmungsbild des Klägers über den gesamten Zeitraum entwickelt hat (Leistungsinsuffizienz, Antriebsminderung, gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, schnelle Ermüdbarkeit und dgl. - s. Schriftsatz vom 15.11.2007). Denn diese Beweismittel sind überflüssig, weil bereits erfolgt, bzw. ungeeignet für eine Feststellung des Leistungsvermögens des Klägers. Zum einen hat der Senat von Dr. B. bereits die gesamte Patientenkartei mit allen vorhandenen ärztlichen Unterlagen sowie einen Befundbericht beigezogen und das Sozialgericht erholte von ihm ein Gutachten nach § 109 SGG. In diesen Unterlagen bzw. in diesem Gutachten hat Dr. B. seine langjährigen Erfahrungen und Beobachtungen auf Grund der Behandlung des Klägers umfassend niedergelegt. Eine Einvernahme des Dr. B. zur Entwicklung des Stimmungsbildes des Klägers ist, weil bereits in seinen umfassend beigezogenen ärztlichen Unterlagen und im Gutachten erfolgt, als überflüssig zu erachten (s. BSG, Urteil vom 24.02.1999, Az. B 5 RJ 32/98 R; Leitherer in Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage, § 103 Rdnr. 8). Zum anderen hält der Senat die Einvernahme der Ehefrau des Klägers zu der Frage der Entwicklung des Stimmungsbildes des Klägers sowohl für ungeeignet als auch für überflüssig, weil die Ehefrau als medizinischer Laie insoweit nicht alle entscheidenden objektiven Befunddaten zu erkennen und abzugeben vermag und diese Befunddaten bereits hinreichend von den zahlreichen Sachverständigen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren und den behandelnden Ärzten erhoben worden sind. Dem Beweisantrag des Klägers war daher nicht nachzukommen. Ein entsprechender Nachweis für das Vorliegen eines unter acht-stündigen und erst recht nicht eines unter sechs-stündigen Leistungsvermögens auf Dauer für den Zeitraum vom 01.02.2002 bis 22.02.2005 ist nicht erbracht, so dass nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Unerweislichkeit dieser Tatsache zu Lasten des Klägers geht.

Das auf unter 3 h täglich abgesunkene Leistungsvermögen des Klägers ab 23.02.2005 beruht nach den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen von Dr. R. allein auf einer gravierenden Verschlimmerung der depressiven Störung des Klägers. Nach dem von ihm sowie von Dr. B. jeweils bei der Untersuchung erhobenen psychopathologischen Befund besteht erst ab diesem Zeitpunkt ein schwerer depressiver Affekt mit massiver Einschränkung der affektiven Schwingungsfähigkeit. In den Vorgutachten von Dr. M., Dr. St. und Dr. R. (einschließlich des psychologischen Zusatzgutachtens von O.) war noch kein Befund diesen schweren Ausmaßes hinsichtlich der Depression feststellbar. So stellte Dr. M. in seinem Gutachten vom 30.01.2002 lediglich längerdauernde depressive Verstimmungszustände, Dr. St. in seinem Gutachten vom 04.07.2002 eine seelische Entwicklung mit körperbezogener Ausgestaltung bei Persönlichkeitsstörung und Dr. R. in seinem Gutachten vom 20.08.2003 unter Berücksichtigung des psychologischen Gutachtens von O. vom 23.07.2003 nur eine kombinierte Persönlichkeit mit histrionischen und paranoiden Zügen, die er unstreitig bereits in das Erwerbsleben eingebracht hatte, sowie eine Dysthymie fest. Eine mindestens mittelschwere oder gar schwere depressive rentenberechtigende Störung ist entsprechend seiner psychopathologischen Charakteristika - wie schwerste depressiv-seelische Einengung mit deutlicher Minderung des Antriebs, Leistungsinsuffizienz etc. - nicht für den Zeitraum zwischen 01.02.2002 und 23.02.2005 nachgewiesen. Die von Dr. M. beschriebenen längerdauernden depressiven Verstimmungszustände erreichen noch nicht das erforderliche Ausmaß der Beeinträchtigung des Klägers. Die stationären Aufenthalte im Bezirksklinikum R. von September bis November 2000 wegen eines ausgeprägten depressiven Syndroms mit akuten Suizidgedanken und von Februar bis April 2000 wegen einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen wiesen nur eine vorübergehenden Symptomatik auf (so Dr. R.) und führten unter Berücksichtigung der laufenden Behandlung des Klägers zu einer Besserung seines Gesundheitszustandes, so dass er ab Februar 2002 wieder mindestens 6 h bzw. 8 h täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsatzfähig war. Eine Verschlimmerung trat erst mit dem Scheitern der beruflichen Perspektiven und einer dadurch entstandenen schweren Depression des Klägers ab Februar 2005 ein. Dieses Ergebnis wird bestätigt durch die Teilnahme des Klägers an den von der Bundesagentur für Arbeit gewährten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vom 16.09.2002 bis 13.06. 2003 und seiner sich anschließenden selbständigen Tätigkeit bis 22.02.2005. Nach § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB VI a.F. ist nämlich nicht erwerbsunfähig, wer eine selbstständige Tätigkeit ausübt.

Der Ansicht von Dr. B. und Professor Dr. Sch., dass der Kläger bereits ab 01.02.2002 bei unverändertem Gesundheitszustand nicht mehr erwerbstätig habe sein können, kann daher nicht gefolgt werden. Auch Dr. B. geht von einer Verschlechterung der Depression des Klägers auf einen zuletzt mittelgradigen Schweregrad aus. So weist er in seinem Gutachten vom 07.03.2005 auf die zuletzt vorliegende schwere depressive Symptomatik mit Suizidalität hin, weil sich der Kläger in seinem Lebensentwurf völlig gescheitert gesehen habe. Auch in seinem Befundbericht vom 05.09.2006 beschreibt er rezidivierende depressive Episoden, zuletzt mittelgradig. In seinem für das OLG Nürnberg erstellten Gutachten vom 27.01.2006 räumt Professor Dr. Sch. ein, dass die Schwere der Erkrankung des Klägers über Strecken geringer ausgeprägt gewesen sei. Sowohl während der anfänglichen intensiven medizinischen und psychotherapeutischen rehabilitativen Maßnahmen als auch zu späteren Zeitpunkten seien Besserungstendenzen erkennbar gewesen. Allein die von ihm festgestellte Chronifizierung vermag noch keine konkrete Funktionsbeeinträchtigung auf Dauer mit der Folge zu begründen, dass auch das Leistungsvermögen des Klägers dauerhaft auf zumindest unter 6 h täglich abgesunken ist. Schließlich geht auch Professor Dr. Sch. von einer zuletzt vorliegenden schweren depressiven Hemmung des Klägers als Gipfel des kontinuierlich bestehenden chronifizierten Krankheitsbildes aus. Er vermag jedoch nicht nachvollziehbar zu begründen, dass bereits vor dem 23.02.2005 ein rentenberechtigendes Ausmaß dieser chronischen Störung bestand.

Der Kläger ist auch nicht über den 31.01.2002 hinaus berufsunfähig im Sinn des § 43 SGB VI a.F., weil seine Erwerbsfähigkeit nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Als Montagearbeiter (am Montageband bei BMW) ist er der Leitgruppe der ungelernten Arbeiter zuzuordnen und daher nach dem vom BSG entwickelten Mehrstufenschema als Ungelernter mit seinem Restleistungsvermögen auf alle ihm körperlich noch möglichen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Da er nicht vor dem 2. Januar 1961 geboren ist, erfüllt er auch nicht die Voraussetzungen einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit im Sinn des § 240 SGB VI n.F ...

Die Entscheidung gemäß § 193 SGG beruht auf der Erwägung, dass die Berufung des Klägers keinen Erfolg hatte.

Gründe, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

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Rechtskraft
Aus
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