L 2 KN 17/05 KR

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 24 KN 41/03 KR
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 KN 17/05 KR
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.01.2005 wird geändert und festgestellt, dass die Beklagte nicht berechtigt ist, jede Genehmigung und/oder Abrechnung von vertragsärztlich verordneten Kompressionsstrümpfen oder Kompressionsstrumpfhosen nach Maß von der Vorlage einer Maßkarte abhängig zu machen. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagte "die Genehmigung und/oder die Abrechnung von vertragsärztlich verordneten Kompressionsstrümpfen oder Kompressionsstrumpfhosen davon abhängig machen darf, dass zugelassene Hilfsmittellieferanten, die Mitglieder der Klägerinnen sind, eine Maßkarte vorlegen".

Die Klägerinnen sind die Innungen für Orthopädie-Technik der Regierungsbezirke des Landes Nordrhein-Westfalen. Ihnen gehören als Mitglieder zugelassene Leistungserbringer für Hilfsmittel an (§ 126 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - SGB V -). Die Klägerinnen haben am 10.11.1993 einen Vertrag gemäß § 127 SGB V mit den Primärkassen des Landes Nordrhein-Westfalen, zu denen auch die Beklagte gehört, geschlossen (Vertrag zwischen den 5 Innungen des Landes NRW und den Primärkassen gemäß § 127 SGB V; im Folgenden: Rahmenvertrag - RV -). Dieser regelte die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten seit dem 01.01.1994 (§ 15 Abs 1 RV). Ergänzend vereinbarten die Vertragspartner ab April 1998 eine Neufassung der Anlage zum RV zur Kompressionsstrumpf-/strumpfhosen-Versorgung, Hilfsmittel zur Kompressionstherapie (im Folgenden: HK). Die Beklagte kündigte den RV zum 31.12.2001. Am 21.02.2002 schlossen die Klägerinnen und die Beklagte im Hinblick auf das Verfahren S 24 KN 108/01 KR vor dem Sozialgericht Düsseldorf (L 2 KN 16/05 KR, Urteil vom 18.01.2007, Revisionsverfahren vor dem BSG anhängig, B 5 b KN 2/07 KR) die Vereinbarung: Die Abrechnungsmodalitäten und Preisvereinbarungen gemäß RV gelten bis zur rechtskräftigen Entscheidung bezogen auf die von einer Ausschreibung nicht erfassten Hilfsmittel weiter.

Die Beklagte hat ihre Zustimmung zu der Abgabe von Kompressionsstrümpfen/-strumpfhosen ab Klasse II in Verordnungsfällen über DM 300,00 (EUR 150,00) davon abhängig gemacht, dass bei Maßanfertigung deren Erforderlichkeit vorab durch Vorlage einer Maßkarte durch die Mitglieder der Klägerinnen als zugelassene Hilfsmittellieferanten nachgewiesen wird.

Die Klägerinnen haben am 28.04.2003 Klage zum Sozialgericht Düsseldorf (SG) erhoben. Zur Begründung haben sie vorgetragen, dass die Versorgung mit Kompressions-strümpfen/-strumpfhosen voraussetze, dass am entstauten Bein eine konkrete und genaue Messung vorgenommen werde. Bei dem auf einer Liege liegenden Versicherten würden die Maße in verschiedenen Höhen am Bein abgenommen. Die Maße des Versicherten würden in eine - vordruckartige - Maßkarte eingetragen. Sodann würden die gewonnenen Maße mit Maßschemata für vorkonfektionierte Kompressionsstrümpfe/-strumpfhosen abgeglichen. Danach werde entschieden, ob die Versorgung mit vorkonfektionierter Ware ausreiche oder eine Maßanfertigung zu verordnen sei. Somit finde die Entscheidung über Maß- oder Konfektionsversorgung im Zusammenhang mit der Messung des Versicherten vor Ort statt. Bei der Entscheidung über die Maßversorgung werde dies in Form eines Kostenvoranschlags bei der Beklagten zur Genehmigung eingereicht. Werde die Genehmigung erteilt, müsse noch einmal vor der endgültigen Herstellung des Maßstrumpfes eine Messung am Versicherten durchgeführt werden. Aufgrund der vertraglichen Vereinbarungen seien die festgestellten Messdaten mit den Schemata von mindestens drei Herstellern von Konfektionsware abzugleichen. Vertraglich sei nicht vereinbart, nachzuweisen, mit welchen Herstellerschemata der Abgleich stattgefunden habe. Aus der Maßkarte ergebe sich nicht die Notwendigkeit einer Maßversorgung. Erforderlich sei die Berücksichtigung der individuellen konkreten Verhältnisse am Bein des Versicherten nach Inaugenscheinnahme. Insoweit sei die von der Beklagten behauptete Vorlagepflicht schikanös. Aus den Maßkarten ergebe sich weder, mit welchen Herstellern von Konfektionsware die Daten abgeglichen worden seien, noch die Notwendigkeit der Maßversorgung selbst.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die von den Leistungserbringern in der Maßkarte eingetragenen Daten des Versicherten seien von der Beklagten im Falle der von den Leistungserbringern behaupteten Notwendigkeit zur Maßanfertigung eigenständig durch Abgleich von Messtabellen für konfektionierte medizinische Kompressionsstrümpfe/-hosen verschiedener Hersteller abzugleichen. Da die Maßtabellen der einzelnen Hersteller unterschiedliche Maßkorridore hätten, sei es denkbar, dass die erhobenen Messdaten des Versicherten bei einem anderen Hersteller von Konfektionswaren als von den Leistungserbringern ausgewählt, anstatt zur Versorgung nach Maßfertigung gleichwohl zur Versorgung mit Konfektionsware führen könne. Da der Leistungserbringer die einzelnen Körpermaße bei der Abrechnung vollständig angeben müsse, sei dies auch im vorgeschalteten Genehmigungsverfahren zu fordern. Die Einleitung des Genehmigungsverfahrens stehe lediglich in Abhängigkeit von der Preisgröße der vorgesehenen Versorgung. Da sie nach § 12 SGB V zu der wirtschaftlich erforderlichen Versorgung verpflichtet sei, stehe ihr auch die Entscheidung über die Auswahl des Einzelproduktes zu. Zudem könne sie nach § 275 Abs 3 Nr. 2 SGB V die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels in geeigneten Fällen durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) überprüfen lassen. Die Maßkarte sei die Grundlage für diese Überprüfung und könne daher zu Recht angefordert werden. Letztlich trage die Vorlage der Maßkarte wesentlich dazu bei, das Abgabeverhalten der Leistungserbringer transparent zu machen.

Mit Urteil vom 11.01.2005 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Rechtsauffassung der Beklagten sei zutreffend.

Mit ihrer Berufung verfolgen die Klägerinnen ihr Begehren weiter.

Die Klägerinnen beantragen,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.01.2005 abzuändern und festzustellen, dass die Beklagte nicht berechtigt ist, jede Genehmigung und/oder Abrechnung von vertragsärztlich verordneten Kompressionsstrümpfen oder Kompressionsstrumpfhosen nach Maß von der Vorlage einer Maßkarte abhängig zu machen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der weiteren Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den übrigen Inhalt der Streitakten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Die Klagebefugnis der Klägerinnen leitet sich aus § 127 Abs 1 SGB V (in der Fassung bis zum 31.12.2003) ab. Danach schließen über die Einzelheiten der Versorgung mit Hilfsmittel sowie über die Abrechnung der Festbeträge die Landesverbände der Krankenkassen sowie die Verbände der Ersatzkassen auf Landesebene mit Wirkung für ihre Mitgliedskassen Verträge mit Leistungserbringern oder den Verbänden der Leistungserbringer ab.

Die Klage ist gemäß § 55 Abs 1 Nr 1 SGG als "allgemeine" Feststellungsklage zulässig, weil die Klägerinnen, dem in der Berufungsinstanz gestellten Antrag entsprechend, die Feststellung von Rechten und Pflichten aus einem "aktuellen" Rechtsverhältnis begehren und ein Interesse an einer baldigen Feststellung besteht. Mit der Feststellungsklage kann auch die Feststellung einzelner Rechte und Pflichten begehrt werden, die auf einem Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten basieren (BSG Urteil vom 27.01.1977, 12/8 REh 1/75, SozR 2200 § 1385 Nr 3; Meyer-Ladewig/Keller, SGG, 8.Auflage, § 55 SGG Rdn. 6). Auf der Grundlage der weiter geltenden RV begehren die Klägerinnen, die Feststellung, dass die Beklagte nicht berechtigt ist, jede Genehmigung und/oder Abrechnung von vertragsärztlich verordneten Kompressionsstrümpfen oder Kompressionsstrumpfhosen nach Maß von der Vorlage einer Maßkarte abhängig zu machen. Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerinnen ihre (Unterlassungs-)Ansprüche gegen die Beklagte auch durch eine allgemeine Leistungsklage verfolgen könnten. Denn es ist davon auszugehen, dass die Beklagte angesichts ihrer in der Verfassung verankerten Bindung an Gesetz und Recht den Anspruch der Klägerinnen auch ohne Leistungsurteil mit Vollstreckungsdruck befriedigt (vgl. BSG Urteile vom 05.03.2002, B 2 U 9/01 R, 22.07.2004, B 3 KR 12/04 R, SozR 4-2500 § 125 Nr. 2; Meyer-Ladewig/Keller, SGG, 8.Auflage, § 55 Rdn. 19b). Die Klägerinnen haben ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung, weil die Beklage zu Unrecht davon ausgeht, ihr stehe ein Anspruch auf Vorlage der Maßkarte in jedem Einzelfall zu.

Demgegenüber können die Klägerinnen ihr Begehren nicht mit einer Verpflichtungsklage als spezieller Leistungsklage verfolgen. Denn die Verpflichtungsklage ist nur statthaft, wenn sie auf Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet ist (§ 54 Abs 1 Satz 1 Regelung 2 SGG). Eine Regelung durch Verwaltungsakt kommt nicht in Betracht, weil es sich um einen Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis handelt und damit eine (einseitig) hoheitliche Regelung durch Verwaltungsakt ausgeschlossen ist (vgl. BSG Urteil vom 24.01.1990, 3 RK 11/88, SozR 3-2200 § 376d Nr 1).

Entgegen der Auffassung des SG ist die Klage begründet.

Für die Praxis der Beklagten, jede Genehmigung und/oder Abrechnung von vertragsärztlich verordneten Kompressionsstrümpfen oder Kompressionsstrumpfhosen nach Maß von der Vorlage einer Maßkarte abhängig zu machen, fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Die Pflichten der Klägerinnen bestimmen sich aufgrund der Vereinbarung vom 21.02.2002 weiterhin nach den Regelungen des § 5 Abs 2 Satz 2 Nr. 2 RV und § 2 HK. Danach bedarf die Abgabe von Hilfsmitteln aus dem Bereich der Kleinorthopädie (Kompressionsstrumpf/-strumpfhosen) nur dann der vorherigen Zustimmung der Beklagten, soweit der vereinbarte Höchstpreis 300,00 DM (150,00 EUR) je Hilfsmittel überschritten wird. Darüber hinaus konkretisierten § 5 Abs 4 RV und § 2 HV die Abgabe von Maßanfertigungen sowie die die Art und Weise der Leistungserbringung. Danach ist der Leistungserbringer verpflichtet, in jedem Versorgungsfall die individuellen Maße des Versicherten entsprechend dem Maßschema für untere Extremitäten am entstauten Bein zu entnehmen. Anhand der individuellen Maße ist durch Abgleich der Maßschemata von mindestens drei Herstellern zu prüfen, ob die Abgabe konfektionierter Hilfsmittel zur Kompressionstherapie in Betracht kommt. Sofern der Vertragsarzt eine Maßanfertigung verordnet hat und eine Versorgung mit einem konfektionierten Hilfsmittel nicht möglich ist, kann eine Maßanfertigung abgegeben werden. Letztlich ist der Leistungserbringer verpflichtet, die Maßkarte bis zu einem Jahr nach der Versorgung aufzubewahren (§ 2 Abs.5 HK). Die Regelungen lassen weder ihrem Wortlaut noch ihrem Sinn und Zweck nach erkennen, dass der Leistungserbringer verpflichtet sein soll, bei jeder Maßanfertigung die Maßkarte vorzulegen. Die in § 2 Abs.5 HK vereinbarte Aufbewahrungspflicht deutet vielmehr darauf hin, dass die Maßkarte generell im Besitz des Leistungserbringers verbleiben soll. Ein Anspruch auf Vorlage der Maßkarte in jedem einzelnen Versorgungsfall lässt sich auch nicht mit § 12 Abs.1 SGB V begründen. Danach müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Es kann hier unentschieden bleiben, ob die zwischen den Beteiligten getroffenen (weiter geltenden) Regelungen nicht bereits eine (abschließende) Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots darstellen und jede weitere, dem Leistungserbringer auferlegte Verpflichtung, diesen in seinen Rechten unzulässig beeinträchtigt. Denn jedenfalls rechtfertigt das Bedürfnis der Beklagten, das Abgabeverhalten der Leistungserbringer transparent zu machen, nicht die Vorlage der Maßkarte in jedem Einzelfall. Eine stichprobenartige Vorlage der Maßkarten - auf Verlangen der Beklagten - würde diesem Bedürfnis ebenfalls ausreichend Rechnung tragen. Allerdings bieten die vertraglichen Regelungen selbst für eine auf Einzelfälle beschränkte Verpflichtung zur Vorlage der Maßkarte keine Anhaltspunkte.

Im Übrigen bleibt für den Senat nicht nachvollziehbar, dass sich die Beklagte, wie sie im Termin zur mündlichen Verhandlung dargelegt hat, in ca. 9000 Fällen einer Maßversorgung die Maßkarten vorlegen lässt, ohne andererseits Auskunft darüber geben zu können, ob der damit verbundene Verwaltungs- und Kostenaufwand gerechtfertigt ist. Denn in wie viel Fällen es zu Beanstandungen gekommen ist, konnte die Beklagte nicht darlegen. Vor diesem Hintergrund scheint das Verlangen der Beklagten jedenfalls nicht vom Wirtschaftlichkeitsgebot, sondern von sachfremden bzw. von einem objektiv nicht begründbaren Misstrauen den Klägerinnen gegenüber bestimmt zu sein. Insoweit übersieht die Klägerin allerdings, dass sie mit den Klägerinnen im Gleichordnungsverhältnis Verträge geschlossen hat, die abschließend die Rechte und Pflichten der Beteiligten regeln und unter im einzelnen geregelten Voraussetzungen gekündigt werden können. Lediglich in Bezug auf die Ausübung des Kündigungsrechts ist die Beklagte befugt, einseitig in das Vertragsverhältnis einzugreifen. Im Übrigen gilt für die Beklagte im Rahmen des durch Verträge geregelten Leistungserbringerrechts ebenfalls der Grundsatz "pacta sunt servanda".

Zur Frage des Anspruchs auf Vorlage der Maßkarte zu Abrechnungszwecken wird auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 07.11.2002, L 2 KN 66/01 KR, verwiesen und für die Frage der Beanstandung von Maßversorgung die Beklagte auf die Regelung des § 8 Abs 2 RV verwiesen. Stellt sich nach Begleichung einer Rechnung heraus, dass die Krankenkasse nicht oder nur teilweise leistungspflichtig ist, kann sie bereits geleistete Zahlungen bzw. Überzahlungen vom Leistungserbringer zurückfordern oder von der nächsten Zahlung absetzen. Der Sachverhalt ist dem Leistungserbringer unverzüglich mitzuteilen. Zurückgeforderte Beträge sind innerhalb 14 Tagen fällig. Die Aufrechnung mit Schadenersatzforderungen, die nicht die Zahlung bzw. Überzahlung abgerechneter Leistungen zum Gegenstand haben, setzt voraus, dass der geforderte Betrag unstrittig oder rechtskräftig festgestellt ist. Beanstandungen müssen von der Krankenkasse innerhalb von 12 Monaten nach Rechnungslegung geltend gemacht werden (§ 8 Abs 3 Satz 1 RV).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG in Verbindung mit § 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Der Streitwert ist mit 5.000,00 EUR festzusetzen (vgl. § 52 Abs 2 Gerichtskostengesetz - GKG -). Sach- und Streitstand bieten keine Anhaltspunkte für eine andere Bestimmung des Streitwertes.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht (§ 160 Abs 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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