Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 2 P 1098/95
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 14 P 1335/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 16. Juli 1996 aufgehoben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 30. März 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 1995 sowie unter Änderung des Bescheides vom 9. Januar 1998 verurteilt, der Klägerin Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen nach der Pflegestufe III auch für die Zeit ab dem 1. April 1995 bis zum 3. November 1997 in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die 1991 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen nach der Pflegestufe III.
Die Klägerin ist durch ihren Vater P. B. bei der Beklagten pflegeversichert. Die Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer motorischen und starken geistigen Entwicklungsverzögerung, wahrscheinlich cerebraler Genese. Zudem besteht bei ihr eine Gleichgewichtsstörung, ein Rundrücken, eine Außenrotation des rechten Fußes sowie eine muskuläre Schwäche, Insbesondere am Rumpf und an den Beinen.
Die Klägerin wird von ihrer Mutter gepflegt und betreut, wobei die Familie zunächst in einer Wohnung im 1. Stock eines Mehrfamilienwohnhauses lebte und seit dem 14. August 1997 ein zweistöckiges Einfamilienhaus (mit 2 Treppen) bewohnt. Seit September 1994 besucht die Klägerin von 9.00–13.00 Uhr einen integrativen Kindergarten (mit Mittagessen). Vom 10. November 1993 bis zum 1. April 1995 bezog die Klägerin Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit gemäß § 53 a.F. Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V), welche die Beklagte mit Bescheid vom 30. Dezember 1993 aufgrund eines Gutachtens des Kinderarztes Dr. G. vom 17. Dezember 1993 bewilligt hatte. Ab dem 1. April 1995 erfolgte aufgrund der Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes ohne weitere Antragstellung eine Einstufung in die Pflegestufe II.
Aufgrund eines Antrages der Klägerin vom 14. Oktober 1994 auf Bewilligung von Leistungen (Pflegegeld) der Pflegestufe III nach § 37 Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung – (SGB XI) ließ die Beklagte die Klägerin durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) in deren häuslicher Umgebung untersuchen. Dr. G., externer Gutachter des MDK, stellte in seinem Gutachten vom 15. März 1995 fest, die Klägerin habe einen Hilfebedarf bei allen in dem Gutachtensvordruck aufgeführten Verrichtungen im Rahmen der Körperpflege, Ernährung sowie Mobilität. Die Klägerin könne Situationen absolut nicht wahrnehmen und Gefahren absolut nicht erkennen. Freies Stehen und Gehen sei ihr nicht möglich, an der Hand könne sie nur wenige Schritte laufen, Windeln müßten gewechselt werden. Die Klägerin könne nicht sprechen, auch keine Silben. Nachts jammere sie manchmal nach der Mutter. Aufgrund dieser Defizite bedürfe die Klägerin ständiger Überwachung. Die erforderliche Zeit gehe deutlich über den Zeitbereich der Pflege eines gleichaltrigen Kindes (2,5 Stunden) hinaus. An Therapien würden Frühförderung und Krankengymnastik stattfinden. Der Gutachter bejahte das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe II. Die Beklagte bewilligte aufgrund dieses Gutachtens der Klägerin mit Bescheid vom 30. März 1995 weiterhin die Zahlung eines Pflegegeldes nach der Pflegestufe II. Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihr Hilfebedarf sei so groß, daß ihre Mutter als Pflegekraft jederzeit, Tag und Nacht, erreichbar sein müsse. Der Beklagte veranlaßte daraufhin eine weitere Begutachtung durch den MDK, und zwar nach Aktenlage durch Frau Dr. W ... Die Ärztin stellte in ihrem Gutachten vom 7. Juli 1995 fest, der Hilfebedarf sei zutreffend im Bereich der Pflegestufe II festgestellt. Es fehle an dem für die Einstufung in die Pflegestufe III notwendigen Tatbestandsmerkmal der Betreuung "rund um die Uhr, auch nachts”. Der erste Gutachter habe ausdrücklich festgestellt, daß nachts nicht regelmäßig pflegerische Einsätze erforderlich seien.
Mit Widerspruchsbescheid vom 1. November 1995, zugestellt mit Postzustellungsurkunde an den gesetzlichen Vertreter der Klägerin am 3. November 1995, wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, nach den Feststellungen des Erstgutachters sowie des Zweitgutachters erfülle der Hilfebedarf der Klägerin bei summarischer Betrachtung nicht die zeitlichen Mindestanforderungen für die Pflegestufe III.
Die Klägerin hat dagegen die am 28. November 1995 beim Sozialgericht Wiesbaden eingegangene Klage erhoben und geltend gemacht, die Voraussetzungen für eine Zuordnung zur Pflegestufe III seien in ihrem Fall gegeben. Aufgrund ihrer körperlichen und insbesondere geistigen Behinderung bedürfe sie einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung, auch nachts. Im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind lasse sich der erhöhte Pflegebedarf nicht konkret in Stunden und Minuten angeben, da er eben rund um die Uhr erforderlich sei. Nachts werde sie öfters wach und verlange weinend oder jammernd nach der Mutter.
Während des Klageverfahrens veranlaßte die Beklagte eine weitere Untersuchung durch den MDK, den Kinderarzt Dr. G., in der häuslichen Umgebung der Klägerin. Dr. G. führte in seinem Gutachten vom 6. Februar 1996 aus, die Mobilität der Klägerin habe sich seit seiner Vorbegutachtung im März 1995 entschieden verbessert. Die Klägerin laufe inzwischen selbständig in schnellen, unsicheren Schritten in der Wohnung herum; langsames Gehen falle ihr noch immer schwer. An Therapiemaßnahmen würden bei der Klägerin weiterhin Frühförderung und Krankengymnastik stattfinden. 1995 sei eine Akupunkturbehandlung durchgeführt worden. Im übrigen beschrieb Dr. G. den Zustand der Klägerin als identisch mit dem Zustand, den er bei seiner Begutachtung im März 1995 vorgefunden hatte. Der Arzt hielt weiterhin die Zuordnung zur Pflegestufe II für zutreffend, wobei er ausführte, "den Eltern ist nicht begreiflich zu machen, daß Überwachung und Aufsicht im Pflegegesetz nicht Erwähnung finden”. Wie in seinem Vorgutachten machte Dr. G. auch diesmal keinerlei Angaben zum jeweils anfallenden Zeitaufwand bei den erforderlichen Leistungen der Grundpflege.
Das Sozialgericht hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 16. Juli 1996 Beweis erhoben durch Vernehmung der Erzieherin der Klägerin S. S. als Zeugin sowie durch Einholung einer mündlichen ergänzenden Stellungnahme zum Pflegebedarf durch Dr. MDK. Die Zeugin S. S. hat dabei angegeben, die Klägerin habe in den zwei Jahren im Kindergarten gelernt zu laufen und laufe jetzt sogar recht schnell. Umgekehrt könne sie aber keinerlei Gefahren erkennen. Die komplette Selbstversorgung habe sich nicht geändert, die Klägerin müsse gewickelt, gefüttert und nach dem Essen gewaschen werden; auch beim Sprechen seien keine Fortschritte zu erkennen. Dr. L. hat die Einschätzung durch Dr. G. in dessen Gutachten für zutreffend erklärt.
Mit Urteil vom 16. Juli 1996 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe III. Sie sei nicht schwerstpflegebedürftig im Sinne des Gesetzes (§§ 14, 15 SGB XI) i.V.m. den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen nach § 17 SGB XI zur näheren Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie i.V.m. der Begutachtungsanleitung "Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI”, die am 29. Mai 1995 als Richtlinie nach § 282 Satz 3 SGB X beschlossen wurde. Die in der Begutachtungsanleitung angegebenen Zeitwerte für gesunde Kinder im Alter der Klägerin zwischen 3 und 6 Jahren seien bei der Bemessung des Zeitaufwandes im konkreten Fall in Abzug zu bringen. Zutreffend habe der Gutachter des Medizinischen Dienstes ca. 2,5 Stunden Hilfebedarf für ein gesundes Kind im Alter von 3 bis 5 Jahren im Tagesdurchschnitt berechnet. Im konkreten Fall sei ein Hilfebedarf im hauswirtschaftlichen Bereich von 45 Minuten zu unterstellen. Der Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege, Ernährung und Mobilität sei unter Zugrundelegung der Angaben der Mutter der Klägerin, der Aussage der sachverständigen Zeugin Frau S. sowie der Feststellungen des Gutachters des Medizinischen Dienstes Dr. G. nahezu doppelt so hoch einzuschätzen wie bei einem gesunden Kind, d.h. 4 bis 5 Stunden. Ausschlaggebend sei, so das Sozialgericht, daß die Klägerin inzwischen motorisch gute Fortschritte gemacht habe. Sie müsse zwar gewickelt, gefüttert und nach dem Essen gewaschen werden, habe jedoch ihre festen Essenszeiten, die sie auch zeige. Eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung verneinte das Sozialgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme mit der Begründung, auch bei gesunden Kindern im Alter von 3 bis 5 Jahren sei im Schlafverhalten eine sehr große Variationsbreite festzustellen. Der Umstand, daß die Klägerin nachts öfters wach werde, weine oder jammere, reiche nicht aus um eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung im Sinne des SGB XI zu begründen. Außerdem sei durch ein Spezialbett (seit Juli 1996) der Betreuungsaufwand inzwischen auch verringert worden.
Gegen das dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 1. Oktober 1996 mit Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat die Klägerin (per Telefax) am 22. Oktober 1996 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt.
Während des Berufungsverfahrens veranlaßte die Beklagte aufgrund eines "Neuantrages” der Klägerin (vom 4. November 1997) eine erneute Begutachtung durch den MDK in der häuslichen Umgebung der Klägerin, und zwar durch Frau Dr. M. S ... Die Ärztin beschrieb die Fähigkeiten der Klägerin in bezug auf die Aktivitäten des täglichen Lebens im wesentlichen, ebenso wie sie von Dr. G. in dem Vorgutachten vom 6. Februar 1996 dargestellt waren. Hinsichtlich der Fähigkeit "sich sauber halten und kleiden können” teilte Frau Dr. M.-S. mit, die Klägerin "schaffe es” inzwischen, die Windel aufzureißen, und müsse aus diesem Grund zusätzlich mehrmals täglich gewaschen bzw. geduscht sowie umgezogen werden. Hinsichtlich der Fähigkeit "Ruhen und Schlafen können” führte die Ärztin aus: "Nächtliche Unruhe bzw. Umtriebigkeit, kein fester Tag- und Nachtrhythmus. Mutter schläft seit 5 Monaten jede Nacht auf einem Notbett vor M. Bett, da sie dann deutlich ruhiger wäre.” Die Ärztin nahm das Vorliegen eines außergewöhnlich hohen Pflegeaufwandes an, wobei sie den Zeitaufwand für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege im einzelnen schätzte und einen täglichen Zeitaufwand von insgesamt 487 Minuten für die Grundpflege sowie 60 Minuten für die hauswirtschaftliche Versorgung ermittelte. Dr. M.-S. stufte die Klägerin in die Pflegestufe III ein. Das Gutachten enthält dazu den handschriftlichen Vermerk der Sachbearbeiterin "F.” der Beklagten, "Id Anruf MDK W. ab Antragstellung”. Aufgrund dieses Gutachtens bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 9. Januar 1998 Pflegegeld der Pflegestufe III ab dem Zeitpunkt des Neuantrages (4. November 1997).
Die Klägerin ist der Auffassung, sie sei auch für die Zeit vom 1. April 1995 bis zum Zeitpunkt des Neuantrages als schwerstpflegebedürftig einzustufen, da sie bei allen Aktivitäten und sämtlichen pflegeversicherungsrechtlich relevanten Verrichtungen rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedurft habe. Aufgrund ihres konkreten Krankheitsbildes sei sie nicht in der Lage, auch nur einfachste Verrichtungen des täglichen Lebens allein und ohne fremde Hilfe zu bewerkstelligen, die ein gesundes Kind im Alter der Klägerin im streitigen Zeitraum von 3 bis 6 Jahren bereits selbständig ausüben könne. Dr. G. sei in seinen Gutachten von März 1995 und Februar 1996 der konkreten Pflegesituation nicht gerecht geworden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 16. Juli 1996 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 30. März 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 1995 sowie des Bescheides vom 9. Januar 1998 zu verurteilen, ihr Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen nach Pflegestufe III auch für die Zeit vom 1. April 1995 bis zum 3. November 1997 in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen,
hilfsweise,
Frau Dr. M.-S. dazu zu hören, wie der Pflegebedarf in der Vergangenheit nach ihrer Auffassung einzuschätzen ist.
Sie ist der Auffassung, in dem streitigen Zeitraum vom 1. April 1995 bis 3. November 1997 würden die Voraussetzungen für eine Zuordnung zur Pflegestufe III bei der Klägerin nicht vorliegen. Verglichen mit einem gesunden gleichaltrigen Kind von 3 bis 6 Jahren sei der Mehrbedarf an Hilfe im streitigen Zeitraum nicht so groß gewesen, daß dadurch der für die Zuordnung zur Pflegestufe III erforderliche zeitliche Mindestaufwand erfüllt worden sei.
Der Senat hat die Mutter der Klägerin als Pflegeperson in der mündlichen Verhandlung zur Pflegebedürftigkeit im streitigen Zeitraum nochmals formlos angehört. Diesbezüglich wird Bezug genommen auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 19. Februar 1998.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die Krankenakte des Kinderneurologischen Zentrums des Landes , die zum Verfahren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§ 151, Abs. 1, §§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung der Klägerin ist auch in der Sache begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 16. Juli 1996 konnte nicht aufrechterhalten werden. Der Bescheid der Beklagten vom 30. März 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 1995 sowie der Bescheid vom 9. Januar 1996 sind zu ändern.
Nach Auffassung des Senats liegen die Voraussetzungen für ein Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen der Pflegestufe III (§ 37 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. den §§ 14, 15 SGB XI) auch in dem Zeitraum vom 1. April 1995 bis zum 3. November 1997 vor. Allein für diese Zeit ist die Gewährung von Pflegegeld der Stufe III noch im Streit, nachdem die Beklagte mit Bescheid vom 9. Januar 1998 Pflegegeld der Stufe III ab dem 4. November 1997 bewilligt hat und die Klägerin ihren Antrag entsprechend reduziert hat. Der den ursprünglichen Verwaltungsakt ändernde Bescheid vom 9. Januar 1998 ist dabei nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden.
Pflegegeld erhalten nach § 37 Abs. 1 SGB XI Pflegebedürftige. Dies sind nach § 14 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablaufe des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.
Nach § 14 Abs. 3 SGB XI besteht Hilfe im Sinne des Abs. 1 in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen.
In § 14 Abs. 4 SGB XI werden die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Sinne des Abs. 1 erläutert. Dazu gehören im Bereich der sogenannten Grundpflege im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung (§ 14 Abs. 4 Nr. 1), im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2), im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (§ 14 Abs. 4 Nr. 3).
Neben der Grundpflege gehören zu den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen nach § 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Für die Gewährung von Leistungen wie des Pflegegeldes nach § 37 SGB XI sind die pflegebedürftigen Personen im Sinne des § 14 SGB XI einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB XI sind
1. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
2. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
3. Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Durch das Erste Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 14. Juni 1996 (Bundesgesetzblatt I, Seite 830) hat der Gesetzgeber nunmehr im Gesetz selbst auch die Zeitdauer der Pflegemaßnahmen bestimmt, die für die Zuordnung zu den unterschiedlichen Stufen der Pflegebedürftigkeit in § 15 Abs. 1 maßgeblich sein sollen. Dabei hat der Gesetzgeber grundsätzlich die Zeitvorgaben aus Ziffer 4.1 der Pflegebedürftigkeitsrichtlinien vom 7. November 1994 übernommen. Nach § 15 Abs. 3 SGB XI in der Fassung des Ersten SGB XI-Änderungsgesetzes (1. SGB XI-ÄndG) muß der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt betragen in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen (§ 15 Abs. 3 Nr. 1), in der Pflegestufe II mindestens 3 Stunden; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens 2 Stunden entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 2), in der Pflegestufe III mindestens 5 Stunden, wobei auf die Grundpflege mindestens 4 Stunden entfallen müssen (§ 15 Abs. 3 Nr. 3).
Bei Kindern, wie im vorliegenden Fall, hat der Gesetzgeber in § 15 Abs. 2 SGB XI darüber hinaus bestimmt, daß für die Zuordnung der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend ist.
Die Klägerin hatte im Zeitraum vom 1. April 1995 bis zum 3. November 1997 im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI "rund um die Uhr, auch nachts”, Hilfebedarf im Bereich der sogenannten Grundpflege, wobei der zusätzliche Hilfebedarf, der über den Bedarf eines gesunden gleichaltrigen Kindes hinausgeht, nach Auffassung des Senats im streitigen Zeitraum so groß war, daß die Mindestpflegezeit nach § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI erfüllt war.
Bei der Feststellung des Bedarfs der Hilfe der Klägerin im streitigen Zeitraum sowie des dafür erforderlichen zeitlichen Aufwandes, der durch Schätzung entsprechend dem Rechtsgedanken nach §§ 286 und 287 der Zivilprozeßordnung zu ermitteln ist, (vgl. Wilde in Hauck/Wilde Sozialgesetzbuch, SGB XI, Soziale Pflegeversicherung, Stand: 1. August 1997, § 15 Rdnr. 20; Trenk-Hinterberger in Wannagat, Kommentar zum Recht des Sozialgesetzbuchs, Soziale Pflegeversicherung, 1997, § 15 SGB XI Rdnr. 29; LSG Mainz, Beschluss vom 3. September 1997 – L-5/P-12/96), berücksichtigt der Senat insbesondere die Angaben der Pflegeperson der Klägerin, ihrer Mutter, die Angaben der Zeugin S. sowie die Feststellungen der Gutachter des MDK, Dr. G. in seinen Gutachten vom 15. März 1995 und vom 6. Februar 1996 sowie Frau Dr. M.-S. in deren aktuellem Gutachten vom 17. Dezember 1997. Auch dieses letzte Gutachten vom 17. Dezember 1997 kann für den – zurückliegenden – Zeitraum vom 1. April 1995 bis zum 3. November 1997 herangezogen werden, soweit sich seit dem 1. April 1995 die pflegerelevanten Aspekte nicht verändert haben. Ein Vergleich der Feststellungen der Ärzte Dr. G. und Dr. M.-S. zu den Fähigkeiten der Klägerin in bezug auf die Aktivitäten des täglichen Lebens ergibt, daß der Zustand der Klägerin und der dadurch bedingte Pflegeaufwand seit dem 1. April 1995 unverändert dadurch bestimmt wird, daß die Klägerin nicht kommunizieren kann und völlig unselbständig ist hinsichtlich der Fähigkeit "Essen können” und "sich sauber halten und kleiden können”. Aufgrund ihrer geistigen Behinderung ist der Klägerin – unverändert – eine Anpassung an Situationen sowie das Einschätzen von Gefahren sowohl draußen als auch innerhalb vertrauter Räume nicht möglich. Im Rahmen der Mobilität der Klägerin hat sich eine den Pflegebedarf beeinflussende Veränderung in den hier zu beurteilenden 2 1/2 Jahren ergeben. Die Klägerin, die 1995 noch nicht frei stehen und gehen konnte, kann nunmehr (seit 1996) laufen, wenngleich mit unsicheren schnellen Schritten. Als weiterer pflegerelevanter Aspekt, der sich verändert hat, ist zu beachten, daß es die Klägerin nach den Angaben von Frau Dr. M.-S. in ihrem Gutachten vom Dezember 1997 "inzwischen” schafft, ihre Windel aufzureißen. Der Senat geht davon aus, daß diese Sachlage im Zeitpunkt der letzten Begutachtung durch Dr. G. (Februar 1996) noch nicht gegeben war, da Dr. G. in seinem Gutachten diesen pflegerelevanten Aspekt nicht schildert. Dies steht in Einklang mit den Angaben der Mutter der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung am 19. Februar 1998, in dem diese mitgeteilt hat, genau könne sie sich nicht erinnern, sie meine aber, daß die Klägerin seit etwa 1 1/2 bis 2 Jahren ihre Windeln aufreiße. Schließlich ist in dem hier zu beurteilenden Zeitraum die Änderung der Wohnsituation zu berücksichtigen, die sich auf die Pflege auswirkt. Seit August 1997 bewohnt die Familie der Klägerin ein Einfamilienhaus mit zwei Treppen und – nach den Angaben von Frau Dr. M.-S. – mehreren Stufen.
Der Senat schätzt den im Tagesdurchschnitt anfallenden zeitlichen Aufwand für den Hilfebedarf der Klägerin im Bereich der Grundpflege in dem hier streitigen Zeitraum, in dem die Klägerin 3 bis 6 Jahre alt gewesen ist, mit mindestens 437 (bis etwa Mitte 1996) bzw. 480 Minuten (ab Mitte 1996 bis zum Umzug) ein. Dabei gilt im einzelnen folgendes:
Die Klägerin benötigt im Bereich der Körperpflege zu allen in § 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI genannten Verrichtungen Hilfe, und zwar durch vollständige Übernahme der Verrichtungen durch ihre Mutter. Erschwerend für die Pflege und als zeitaufwendig ist dabei insbesondere zu berücksichtigen, daß das fast 4- bis 6jährige Kind mehrmals täglich (mindestens 7-mal) gewickelt werden mußte. Weiterhin kommt erschwerend hinzu, daß die Klägerin durch das Spiel mit der Nahrung öfters verschmutzt gewesen ist, welches wiederum ein häufiges Waschen bedingt. Die Angaben in den Gutachten von Dr. G. und Frau Dr. M.-S. decken sich hinsichtlich der Häufigkeit der täglich im Bereich der Körperpflege anfallenden Verrichtungen. Hinsichtlich der Verrichtung Waschen hat Dr. G. indes in seinem Gutachten einen täglichen Bedarf von 3 bis 5-mal angegeben, während Frau Dr. M.-S. einen Bedarf von 7 bis 8-mal täglich angegeben hat. Der Unterschied läßt sich dadurch erklären, daß die Klägerin es inzwischen schafft, ihre Windel aufzureißen, und aufgrund der dadurch bedingten Verschmutzung zusätzlich gewaschen werden muß. Frau Dr. M.-S. hat für die im Bereich der Körperpflege anfallenden Verrichtungen (Waschen, Duschen, Zahnpflege, Kämmen, Darm- und Blasenentleerung) insgesamt einen Zeitbedarf von täglich 205 Minuten angesetzt, wobei sie für die Verrichtung Waschen im einzelnen täglich 48 Minuten veranschlagt hat. Der Senat hält diese Bewertung zu der Sachlage im Zeitpunkt der Untersuchung durch Frau Dr. M.-S. im Dezember 1997 für zutreffend und geht davon aus, daß für den zurückliegenden Zeitraum bis etwa Mitte 1996 (Windelaufreißen) – nur – 180 Minuten anzusetzen sind, unter Berücksichtigung, daß die Verrichtung Waschen bis dahin nicht so häufig anfiel.
Im Bereich der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) bedarf die Klägerin seit dem 1. April 1995 vollständig der Hilfe ihrer Mutter. Die 3- bis 6jährige Klägerin mußte und muß gefüttert werden. Erschwerend kommt im Rahmen dieser Verrichtung hinzu, daß die Klägerin die Bedeutung von Essen und Eßbesteck nicht erkennt und mit dem Essen spielt oder es wegwirft. Dies haben sowohl Dr. G. als auch Frau Dr. M.-S. in ihren Gutachten beschrieben. Dr. G. hat die Häufigkeit der Nahrungsaufnahme mit 3 bis 4-mal in seinen beiden Gutachten angegeben. Frau Dr. M.-S. berücksichtigt diese Verrichtung 5-mal täglich und schätzt dabei den Zeitaufwand pro Tag mit 113 Minuten ein, wobei sie 13 Minuten für die mundgerechte Zubereitung angerechnet hat. Der Senat schätzt den Zeitaufwand pro Tag für eine Mahlzeit ebenfalls mit 20 Minuten ein, wobei von 3 Hauptmahlzeiten und mindestens einer Zwischenmahlzeit täglich auszugehen ist. Auch die Mahlzeit(en), die die Klägerin im Kindergarten einnimmt, ist zu berücksichtigen, da das hier streitige Pflegegeld nicht als Entgelt der Pflegeperson konzipiert ist und nicht die Pflegeperson, sondern allein der Pflegebedürftige Empfänger dieser Leistung ist (BSG, Urteil vom 17. Januar 1996 – 3 RK 4/95). Für den Bereich der Ernährung insgesamt (mundgerechte Zubereitung und Aufnahme der Nahrung) hält der Senat einen Zeitaufwand im streitigen Zeitraum von (mindestens) 90 Minuten für zutreffend.
Auch im Rahmen der Mobilität bedarf bzw. bedurfte die Klägerin nach Auffassung des Senats im streitigen Zeitraum der Hilfe zu sämtlichen in § 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI im Bereich der Mobilität aufgeführten Verrichtungen. Dr. G. hat in seinem zweiten Gutachten einen Bedarf der Klägerin für die Verrichtung Stehen, Gehen, Treppensteigen, Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung nicht mehr angenommen, da die Klägerin zu diesem Zeitpunkt in der Lage war, selbständig mit unsicheren, schnellen Schritten zu laufen. Demgegenüber hat Frau Dr. M.-S. zutreffend in ihrem Gutachten angenommen, daß die Klägerin weiterhin, insbesondere beim Gehen innerhalb der Wohnung, der Hilfe jedenfalls durch eine Teilübernahme der Mutter bedarf, da sie sich nicht zielgerichtet und unsicher bewegt. Frau Dr. M.-S. hat die Verrichtung Gehen 15-mal täglich berücksichtigt, wobei sie nur das Bewegen innerhalb der Wohnung in Zusammenhang mit Verrichtungen im Bereich der Körperpflege und Ernährung zugrunde gelegt hat ("dreimal wickeln, fünfmal Eßplatz, zweimal Schlafzimmer”). Dadurch wird indes nach Auffassung des Senats der im Rahmen der Verrichtung Gehen im konkreten Fall anfallende Hilfebedarf nicht vollständig erfaßt.
Im konkreten Fall ist nämlich zu berücksichtigen, daß die motorischen Fortschritte der Klägerin im streitigen Zeitraum, d.h. ihre Fähigkeit, überhaupt frei stehen und insbesondere laufen zu können, im Zusammenhang mit ihrem Unvermögen, Gefahren überhaupt zu erkennen, zu einer erheblichen Eigengefährdung führen. Die Klägerin kann bei der Verrichtung "Gehen” nicht alleine gelassen werden, sondern bedarf dabei ständig der Beaufsichtigung (im Sinne von § 14 Abs. 3 SGB XI). Bei einem restriktiven Verständnis der Begriffe im Rahmen der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI), insbesondere der Verrichtung "Gehen” nur im Sinne eines Bewegens im Zusammenhang mit Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, Ernährung und hauswirtschaftlichen Versorgung würde der Pflege orientierungsloser bzw. motorisch unruhiger Menschen mit schwerer geistiger Behinderung wie der Klägerin nicht Rechnung getragen. Eine solche restriktive Auslegung ist nach Auffassung des Senats weder vom Wortlaut gedeckt noch von dem gesetzgeberischen Ziel, welches man den Materialien, der Gesetzesbegründung zum Pflegeversicherungsgesetz entnehmen kann.
Die restriktive Auslegung, die Frau Dr. M.-S. hier angewandt hat, die die Begriffe Gehen, Stehen und Treppensteigen nur als ein Bewegen im Zusammenhang mit den Verrichtungen im Bereich der Körperpflege und der Ernährung sowie der hauswirtschaftlichen Versorgung versteht, entspricht indes den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeits-Richtlinien) vom 7. November 1994 (siehe dort 3.4.2) sowie der Begutachtungsanleitung "Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI” des MDK vom 29. Mai 1995 (gültig bis zum 31. Mai 1997; siehe dort 5.3) als auch den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien) vom 21. März 1997 (siehe dort 5.3). Eine Bindung des Senats, der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, an diese Richtlinien und die Begutachtungsanleitung besteht nicht. Vielmehr haben die Gerichte die Bescheide der Pflegekassen, die auf diesen Richtlinien beruhen, uneingeschränkt auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gesetz und der Verfassung zu überprüfen (SG Speyer, Urteil vom 9. April 1996 – S-3/P-23/95 in Breithaupt 1996, Seite 521). Bei der Begutachtungsanleitung vom 29. Mai 1995 (Richtlinien nach § 282 S. 3 SGB V) handelt es sich nur um Verfahrensregelungen und Auslegungshinweise für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (SG Speyer a.a.O.). Auch die Pflegebedürftigkeits-Richtlinien sowie die Begutachtungs-Richtlinien (Richtlinien nach § 17 SGB XI), die gegenüber der Begutachtungsanleitung eine höhere Rechtsqualität besitzen (die Genehmigung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung und bei den Begutachtungs-Richtlinien zudem des Bundesministeriums für Gesundheit ist erforderlich) haben keinen Rechtsnormcharakter. Vielmehr handelt es sich auch bei diesen Richtlinien nur um allgemeine Verwaltungsvorschriften mit Bindung lediglich für die Pflegekassen bzw. den MDK zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen (SG Speyer a.a.O.; Trenk-Hinterberger, a.a.O., § 17 Rdnr. 5; Wilde in Hauck/Wilde, a.a.O., § 17 Rdnr. 4 ff.). Diese sind als Gesetzeskonkretisierungen nur dann zu respektieren, wenn diese Konkretisierungen vertretbar erscheinen und nicht offensichtlich unzutreffend sind (Trenk-Hinterberger a.a.O.; Wilde in Hauck/Wilde, a.a.O.).
Die in den Richtlinien und der Begutachtungsanleitung vorgenommene Auslegung der Begriffe der Mobilität hält der Senat nicht für vertretbar. Der Wortlaut des § 14 Abs. 4 SGB XI ordnet die Verrichtungen Gehen, Stehen und Treppensteigen dem Bereich der Mobilität gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI zu, der eigenständig und gleichwertig neben den anderen Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) und der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) steht (s. Lachwitz, Definition der Grundpflege im Sinne des SGB XI, in: Rechtsdienst der Lebenshilfe 1996, S. 155, 159). Auch mit den Materialien zum Pflegeversicherungsgesetz läßt sich die restriktive Auslegung der Begriffe der Mobilität in den obengenannten Richtlinien und der Begutachtungsanleitung nicht rechtfertigen. Als Beispielsfall für einen Rund-um-die-Uhr-Bedarf der Pflegestufe III führt die Gesetzesbegründung nämlich den Fall eines an "Morbus Alzheimer” Erkrankten an, bei dem eine starke Unruhe besteht und der seine Wohnung nicht mehr selbständig nutzen kann, da er sich im Umgang mit Strom, Wasser, Scheren und anderen Haushaltsgegenständen gefährdet und zudem seine Angehörigen nicht mehr erkennt und versucht, die Wohnung zu verlassen. Der Hilfebedarf – so die Gesetzesbegründung (siehe BT-Drucksache 12/5262, zu Nummer 3 zu § 13 des Entwurfs zum Pflegeversicherungsgesetz, Fallbeispiel b, Seite 98) – besteht in diesem Beispiel in der Anleitung und der Beaufsichtigung in nahezu allen Bereichen der Körperpflege, der Mobilität und der Ernährung. Die Pflege sei rund um die Uhr notwendig, um z.B. in der Nacht das Umherirren in der Stadt oder die Selbstgefährdung durch tägliche Gebrauchsgegenstände zu verhindern.
Der Gesetzesbegründung läßt sich somit entnehmen, daß der Gesetzgeber den besonderen Bedarf von geistig Behinderten erkannt hat und daß die in § 14 Abs. 4 SGB XI im Bereich der Mobilität genannten Verrichtungen in jedem Falle weit auszulegen sind, um diesem Personenkreis im Rahmen des Pflegeversicherungsgesetzes gerecht zu werden.
Vorliegend kann dahinstehen, ob dem besonderen Pflegebedarf bei geistig und mehrfach behinderten Menschen durch eine sinnvolle weite Auslegung des Begriffs der Mobilität vollständig Rechnung getragen wird und auch nur in diesem Rahmen Rechnung getragen werden kann (so Wilde/Pilz, Behandlungspflege und Beaufsichtigung in der Pflegeversicherung – Zur Bedeutung des Verrichtungskatalogs in § 14 Abs. 4 SGB XI, in: SGb 1997, S. 409, 411; Lachwitz, a.a.O. sowie derselbe Verfasser, Probleme bei den Feststellungen von Pflegebedürftigkeit (SGb XI), in: MED SACH 1997, S. 51, 54; Dalichau/Grüner/Müller-Alten, Pflegeversicherung, Sozialgesetzbuch Elftes Buch, Kommentar, Stand: 1. Oktober 1997, Band I, § 14 Erläuterungen II 3., Seite 37) oder ob dem besonderen Pflege- und Aufsichtsbedarf zur Vermeidung von Fremd- und Eigengefährdungen bei geistig Behinderten nur dadurch Rechnung getragen werden kann, daß der Katalog der Verrichtungen in § 14 Abs. 4 SGB XI nicht als abschließend angesehen wird und die Aufsicht insbesondere zur Vermeidung von Fremd- oder Eigengefährdung auch als eigener Pflegebedarf unabhängig von den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen berücksichtigt wird (so Udsching, Rechtsfragen bei der Bemessung des Pflegebedarfs in: VSSR 1996, S. 271, 277 ff.; Kukla, Fortentwicklung der Pflege-Begutachtungsgrundlagen vor dem Hintergrund des BSG-Urteils vom 17. April 1996, KRV 1997, Seite 71). Im konkreten Fall ergibt sich jedenfalls bei der wie oben ausgeführt gebotenen Auslegung der Begriffe der Mobilität, insbesondere der Verrichtung Gehen in dem Sinne, daß es nicht darauf ankommt, welchem Ziel die Bewegung dient, daß der Hilfebedarf der Klägerin in einem Ausmaß besteht, der die Voraussetzungen der Mindestpflegezeit nach § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI, sowie der Rund-um-die-Uhr-Pflege nach § 15 Abs. 1 Ziffer 3 SGB XI erfüllt.
Die Klägerin bedarf für die Verrichtung Gehen, seit sie laufen kann, zur Vermeidung von Eigengefährdung der besonderen Aufsicht ihrer Eltern. Dies läßt sich den Feststellungen von Dr. G. in seinem Gutachten vom 6. Februar 1996 entnehmen (wobei der Gutachter diese Hilfe für nicht relevant hielt) sowie auch der Aussage der Zeugin S., die bei der Beweisaufnahme vor dem Sozialgericht ausgeführt hat, die Klägerin könne nunmehr laufen und laufe zwar schnell, umgekehrt könne sie aber keine Gefahren erkennen. Die Mutter der Klägerin hat diese Sachlage im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 19. Februar 1998 nochmals – glaubhaft – bestätigt.
In dem Gutachten von Frau Dr. M.-S. ist vermerkt, daß die Klägerin "manchmal ins Zimmer” bzw. "manchmal ins Gitterspezialbett” eingeschlossen werden müsse. Die Mutter der Klägerin hat dazu im Termin am 19. Februar 1998 angegeben, vor dem Umzug, d.h. in der alten Wohnung, habe sie die Klägerin auch nur dann in den Laufstall gesetzt, wenn sie gerade selbst mal zur Toilette gehen mußte und auf die Klägerin nicht habe achten können. Es kann im vorliegenden Fall indes nicht von der Mutter verlangt werden, die Klägerin ständig auf diese Art und Weise vor Eigengefährdung zu schützen. Abzulehnen sind grundsätzlich Maßnahmen, die einerseits den zeitlichen Pflegeaufwand reduzieren, andererseits aber die Bewegungsfreiheit des Behinderten erheblich tangieren (siehe dazu Lachwitz, a.a.O., in MED SACH 1997, S. 54). Der Senat schätzt den zeitlichen Aufwand für die Hilfe bei der Verrichtung Gehen im streitigen Zeitraum auf täglich mindestens 60 Minuten ein, wobei sich die Häufigkeit des Standartwechsels der Klägerin in der Vergangenheit nicht mehr genau feststellen läßt. Dieser Zeitaufwand ist für den gesamten streitigen Zeitraum, d.h. ab dem 1. April 1995 im Rahmen dieser Verrichtung im Bereich der Mobilität zu veranschlagen. Zu berücksichtigen ist, daß für die Zeit, bevor die Klägerin laufen konnte, ein Zeitaufwand anzusetzen ist für die Förderung des Erlernens der Gehfähigkeit im Sinne einer Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtung im Sinne von § 14 Abs. 3 SGB XI. Bei geistig Behinderten ist aufgrund der fehlenden Möglichkeit der Kommunikation davon auszugehen, daß die Anleitung einen zeitaufwendigen Vorgang darstellt, der bei der zeitlichen Bemessung des Pflegeaufwandes besonders zu berücksichtigen ist (dazu Lachwitz, a.a.O., in MED SACH 1997, S. 55; sowie BSG, Urteil vom 14. Dezember 1994 – 3 RK 14/94 – und – Urteil vom 17. April 1996 – 3 RK 28/95 zur Feststellung von Schwerpflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 53 ff. SGB V a.F.).
Hinsichtlich der Verrichtung Stehen ist ein Hilfebedarf der Klägerin im streitigen Zeitraum für den Transfer in die Duschwanne anzusetzen. Das Gericht hält auch für den streitigen Zeitraum den von Frau Dr. M.-S. geschätzten Aufwand von 2 Minuten pro Tag für zutreffend.
Hinsichtlich der Verrichtung Treppensteigen im Bereich der Mobilität hat Frau Dr. M.-S. einen Zeitaufwand von 22 Minuten angesetzt, da die Klägerin das Treppensteigen nur an der Hand kann und beim Hinuntergehen getragen werden muß. Die Begutachtung von Frau Dr. M.-S. fand indessen in der neuen häuslichen Umgebung der Klägerin statt mit zwei Treppen und Stufen im offenen Wohnzimmer/Küche/Eßzimmer. Da die Familie der Klägerin im streitigen Zeitraum indes noch eine Wohnung im 1. Stock eines Mehrfamilienwohnhauses bewohnte, kann für diese Verrichtung innerhalb der Wohnung bis zum Umzug der Familie im August 1997 ein solcher Zeitaufwand nicht angerechnet werden.
Für die vollständig von der Pflegeperson zu übernehmende Verrichtung An- und Auskleiden hat Frau Dr. M. S. einen Zeitaufwand von 77 Minuten täglich angenommen, wobei sie davon ausgegangen ist, daß diese Verrichtung mehrmals, ca. 8 bis 10-mal am Tag, anfällt. Für den streitigen Zeitraum geht das Gericht davon aus, daß das An- und Auskleiden jedenfalls bis etwa Mitte 1996 nicht so häufig erforderlich gewesen ist (Dr. G. hat zur Häufigkeit in seinen Gutachten keine Angaben gemacht), da die Klägerin ihre Windeln noch nicht aufreißen konnte. Auch bis dahin ist aber ein Hilfebedarf für vollständiges Ankleiden durchschnittlich 2-mal täglich (30 Minuten) und für vollständiges Entkleiden 2-mal täglich (20 Minuten) anzunehmen, zumal sich die Klägerin beim Spielen und mit Nahrung beschmutzt hat. Insgesamt ist bis etwa Mitte 1996 von einem Zeitaufwand von 50 Minuten pro Tag für diese Verrichtung auszugehen.
Für die Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung haben sowohl Dr. G. als auch Frau Dr. M.-S. einen Hilfebedarf verneint. Nach Auffassung des Senats ist indes auch für diese Verrichtung ein Hilfebedarf anzunehmen und ein entsprechender zeitlicher Aufwand im Rahmen der Grundpflege in Ansatz zu bringen. In der Gesetzesbegründung heißt es zu dem Begriff Mobilität, daß dabei der Hilfebedarf innerhalb und außerhalb der Wohnung entscheidend ist: "Das Leben des Pflegebedürftigen soll aber nicht auf die Wohnung beschränkt werden. Der Pflegebedürftige muß vielmehr die Möglichkeit haben, seine Wohnung zu verlassen, um Ärzte, Krankengymnasten, Sprachtherapeuten, Apotheken oder Behörden aufzusuchen. Es sollen nur solche Verrichtungen außerhalb der Wohnung in die Begutachtung einbezogen werden, die für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unumgänglich sind und das persönliche Erscheinen des Pflegebedürftigen notwendig machen. Weitere Hilfen – z.B. bei Spaziergängen oder Besuchen von kulturellen Veranstaltungen – sind zwar wünschenswert, können aber durch die Pflegeversicherung nicht finanziert werden” (BT-Drucksache 12/5262, Seite 97, zu § 12 Abs. 4 des Entwurfs des Pflegeversicherungsgesetzes). Diese Begründung haben sowohl die Pflegeversicherungs-Richtlinien (siehe dort 3.4.2) als auch die Begutachtungs-Richtlinien (siehe dort 5.3) für die Definition der Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung übernommen.
Den Angaben in den Gutachten der Gutachter des MDK für den streitigen Zeitraum ist zu entnehmen, daß die Klägerin 1995 eine Akupunkturbehandlung zur Verbesserung der Fußstellung und des Rundrückens durchgeführt hat. Weiterhin besuchte sie nach den Angaben ihrer Mutter in der mündlichen Verhandlung am 19. Februar 1998 bis Mitte 1996 zweimal und seitdem einmal wöchentlich außer Haus die Krankengymnastik mit einem zeitlichen Aufwand von jeweils 1 3/4 Stunden, wobei die eigentliche Behandlungszeit 45 Minuten betragen hat. Hinzu kommen Arztbesuche – nach den Angaben der Mutter unregelmäßig –, die für die Aufrechterhaltung der Lebensführung der Klägerin zu Hause unumgänglich sind und ihr persönliches Erscheinen notwendig machen. Vorliegend kann dahinstehen, ob in diesem Rahmen auch Hilfebedarf zu berücksichtigen ist, den die Klägerin für das Aufsuchen des Kindergartens von ihrer Mutter benötigt. Die Begutachtungs-Richtlinien (siehe dort 5.3) verneinen die Berücksichtigung eines solchen Bedarfs. Für die Berücksichtigung kann sprechen, daß auch der Besuch des Kindergartens der Förderung der Fähigkeiten der Klägerin dient. So hat ihre Mutter in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Wiesbaden angegeben, daß die Klägerin sich dort "etwas von den anderen Kindern abgucken” soll. Für die Begleitung zur Krankengymnastik allein ist jedenfalls umgerechnet ein Zeitaufwand von 17 Minuten bis Mitte 1996 und danach von 8 Minuten täglich als Hilfebedarf für die betreffende Verrichtung im Bereich der Mobilität anzusetzen.
Für die Verrichtung Aufstehen und Zu-Bett-Gehen im Bereich der Mobilität, die von der Mutter der Klägerin vollständig übernommen werden muß, hat Frau Dr. M.-S. in ihrem Gutachten 38 Minuten veranschlagt und auf die "Unruhe” der Klägerin hingewiesen. Das Gutachten der Ärztin enthält hinsichtlich der Fähigkeit "Ruhen und Schlafen können” zudem die Anmerkung, "nächtliche Unruhe bzw. Umtriebigkeit, kein fester Tag- und Nachtrhythmus; Mutter schläft seit 5 Monaten jede Nacht auf einem Notbett vor M. Bett, da sie dann deutlich ruhiger werde”. Auch den Gutachten von Dr. G. läßt sich für den hier streitigen Zeitraum entnehmen, daß die Unruhe der Klägerin regelmäßige nächtliche Interventionen der Pflegeperson erfordert. So heißt es in dem Gutachten von Dr. G. vom 6. Februar 1996, "kommt nachts öfters mal, auch über Stunden”. Die dadurch erforderlichen regelmäßigen nächtlichen Pflegeeinsätze der Mutter zur Beruhigung des Kindes sind unter der Verrichtung Zu-Bett-Gehen zu erfassen. Nur wenn man unter dieser Verrichtung auch die ungestörte und gefahrlose Aufrechterhaltung der Bettruhe versteht, wird man insbesondere dem Hilfebedarf geistig Behinderter gerecht. Wie oben schon zur Verrichtung "Gehen” ausgeführt, ergibt sich aus den Materialien zum Pflegeversicherungsgesetz, insbesondere dem Fallbeispiel des an Morbus Alzheimer Erkrankten zur Auslegung des Begriffs der Rund-um-die-Uhr-Pflege der Pflegestufe III BT-Drucksache 12/5262, a.a.O., S. 98, daß der Gesetzgeber den besonderen Bedarf geistig Behinderter erkannt hat und in jedem Fall eine weite Auslegung der in § 14 Abs. 4 genannten Verrichtungen gewollt ist (siehe zur Auslegung dieser Verrichtung auch Wilde/Pilz, a.a.O., Seite 411). Der Senat hält im streitigen Zeitraum die Berücksichtigung eines durchschnittlichen täglichen Zeitaufwandes für die Verrichtung Zu-Bett-Gehen von 38 Minuten mindestens für angemessen.
Die Klägerin bedarf bzw. bedurfte im streitigen Zeitraum im Sinne von § 15 Abs. 1 Nr. 3 SGB XI "rund um die Uhr, auch nachts” der Hilfe. In § 15 Abs. 1 Nr. 3 SGB XI ist nicht definiert, wann die Voraussetzung "auch nachts” erfüllt ist. In den Materialien heißt es dazu zur Pflegestufe III (siehe BT-Drucksache 12/5262, S. 98, zu Nr. 3 zu § 13 des Entwurfs) "der Hilfebedarf besteht regelmäßig auch in der Nacht. Die Zuordnung erfolgt auch dann, wenn eine ununterbrochene Bereitschaft der Pflegeperson zur Hilfeleistung erforderlich ist. Der Pflegebedürftige kann nicht allein gelassen werden. Bei psychisch Kranken, dementen und hirnverletzten Menschen sind die Voraussetzungen dann erfüllt, wenn der Bedarf an Beaufsichtigung oder Anleitung so groß ist, daß der Pflegebedürftige rund um die Uhr, d.h. auch in der Nacht, beaufsichtigt oder angeleitet werden muß”. Wie oben schon ausgeführt, hatte die Klägerin regelmäßig im streitigen Zeitraum nachts Hilfebedarf bei der Verrichtung "Zu-Bett-Gehen” in dem Sinne, daß nur durch ein Beruhigen der Mutter die Nachtruhe aufrecht erhalten bzw. überhaupt gewährleistet werden konnte. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob der Hilfebedarf notwendig ist, weil der Pflegebedürftige im Bett unruhig ist und deswegen immer wieder aufsteht, oder sich wie die Klägerin in einem Gitterbett befindet und nicht aufstehen kann, aber dort derart verhält, daß sie selbst nicht zum Schlafen kommen kann. Aus den Angaben in dem Gutachten von Frau Dr. M.-S. insbesondere den Angaben der Mutter der Klägerin im Termin am 19. Februar 1998 kann man schließen, daß das im Juli 1996 angeschaffte Spezialgitterbett keine – positive – Veränderung des nächtlichen Verhaltens der Klägerin gebracht hat. Das nächtliche Verhalten der Klägerin erforderte in dem streitigen Zeitraum regelmäßige Hilfeleistungen der Mutter durch Beruhigen. Hinzu kommen nach den Angaben der Mutter der Klägerin im Termin am 19. Februar 1998 nächtliche Hilfeleistungen im Bereich der Grundpflege durch Windelwechsel, wenn die Klägerin wach ist.
Der Zeitaufwand für die vorliegend erforderlichen Leistungen der Grundpflege erfüllt den zeitlichen Mindestaufwand der Grundpflege, der nach § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI für eine Zuordnung in Pflegestufe III erforderlich ist. Der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind – und nur dieser ist nach § 15 Abs. 2 SGB XI für die Zuordnung maßgeblich – beträgt im Rahmen der Grundpflege mindestens 4 Stunden (240 Minuten). Die Begutachtungsanleitung (siehe dort nach 5.4) sowie die Begutachtungsrichtlinien (siehe dort 7.) enthalten standardisierte Erfahrungswerte (Tabellen) für Kinder bis zu 12 Jahren; diese nennen das jeweilige Alter, von dem an "erfahrungsgemäß fast alle der altersentsprechend entwickelten und gesunden Kinder” die jeweiligen Verrichtungen beherrschen. Für ein gesundes Kind im Alter der Klägerin – diese war im streitigen Zeitraum 3 (fast 4) bis 6 Jahre alt – sehen die Tabellen insgesamt einen Hilfebedarf täglich in den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität (dies umfaßt auch das "Beruhigen”) von 2,5 bis 1,75 Stunden vor. Der Senat hält diese Tabellenwerte für zutreffend. Nach Abzug der damit für ein gesundes Kind – höchstens – anzusetzenden 150 Minuten von dem im streitigen Zeitraum konkret anfallenden Gesamtbedarf an Pflegezeit im Bereich der Grundpflege von mindestens 437 Minuten (bis etwa Mitte 1996) bzw. 480 Minuten (ab Mitte 1996 bis zum Umzug) ergibt sich ein zusätzlicher Hilfebedarf von 287 bzw. 330 Minuten täglich im streitigen Zeitraum. Nach dem Umzug der Familie am 14. August 1997 ergeben sich noch höhere Werte, da die die Pflege erschwerende veränderte Wohnsituation ("Treppensteigen”) zu berücksichtigen ist.
Auch im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI; § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI) ist bei der Klägerin gegenüber einem gesunden im streitigen Zeitraum gleichaltrigen Kind ein zusätzlicher Hilfebedarf von mindestens 60 Minuten täglich erforderlich. Der behinderungsbedingte Pflegemehraufwand ergibt sich dadurch, daß die Wäsche und Kleidung der Klägerin, die sich nicht sauber halten kann und (seit 1996) ihre Windeln aufreißt, besonders häufig gewechselt und gewaschen werden muß. Die Mutter der Klägerin hat im Termin am 19. Februar 1998 zudem glaubhaft angegeben, das Bettlaken der Klägerin sei öfters naß und müsse nachts ausgewechselt werden, da sich aufgrund des Schlafens der Klägerin mit offenem Mund ein großer Speichelfluß bilde. Die Mund- und Gaumenform der Klägerin sowie der Speichelfluß werden unter anderem auch in dem Arztbrief von Prof. Dr. A., Chefarzt der Kinderklinik der in an Dr. A. vom 2. Januar 1992 beschrieben, der sich in der vom Senat beigezogenen Krankenakte des Kinderneurologischen Zentrums des Landes befindet.
Soweit die Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung beantragt hat, "Frau Dr. M.-S. dazu zu hören, wie der Pflegebedarf in der Vergangenheit nach ihrer Auffassung einzuschätzen ist,” mußte der Senat dem nicht entsprechen. Der gestellte "Hilfsantrag” bezog sich ersichtlich allein auf eine noch vorzunehmende Festlegung des im streitigen Zeitraum noch offenen Pflegebedarfs und Zeitaufwandes, was in der mündlichen Verhandlung (kontrovers) unter Einbeziehung der Prozeßbeteiligten erörtert worden ist. Eine Beweisaufnahme war schon deshalb nicht erforderlich, weil der Senat – wie, bereits oben erwähnt – auf der Grundlage des von Frau Dr. M.-S. erstellten Gutachtens vom 17. Dezember 1997 (vgl. zu dieser Verfahrensweise BGH NJW 1993, S. 2382 f.) ohne Rechtsfehler in eigener Einschätzung zu einer "zuverlässigen Beantwortung der Beweisfrage gelangen konnte”.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird zugelassen, da die hier angesprochenen Rechtsfragen, insbesondere die Auslegung der in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen bei geistigen Behinderungen nicht geklärt und von grundsätzlicher Bedeutung ist (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die 1991 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen nach der Pflegestufe III.
Die Klägerin ist durch ihren Vater P. B. bei der Beklagten pflegeversichert. Die Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer motorischen und starken geistigen Entwicklungsverzögerung, wahrscheinlich cerebraler Genese. Zudem besteht bei ihr eine Gleichgewichtsstörung, ein Rundrücken, eine Außenrotation des rechten Fußes sowie eine muskuläre Schwäche, Insbesondere am Rumpf und an den Beinen.
Die Klägerin wird von ihrer Mutter gepflegt und betreut, wobei die Familie zunächst in einer Wohnung im 1. Stock eines Mehrfamilienwohnhauses lebte und seit dem 14. August 1997 ein zweistöckiges Einfamilienhaus (mit 2 Treppen) bewohnt. Seit September 1994 besucht die Klägerin von 9.00–13.00 Uhr einen integrativen Kindergarten (mit Mittagessen). Vom 10. November 1993 bis zum 1. April 1995 bezog die Klägerin Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit gemäß § 53 a.F. Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V), welche die Beklagte mit Bescheid vom 30. Dezember 1993 aufgrund eines Gutachtens des Kinderarztes Dr. G. vom 17. Dezember 1993 bewilligt hatte. Ab dem 1. April 1995 erfolgte aufgrund der Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes ohne weitere Antragstellung eine Einstufung in die Pflegestufe II.
Aufgrund eines Antrages der Klägerin vom 14. Oktober 1994 auf Bewilligung von Leistungen (Pflegegeld) der Pflegestufe III nach § 37 Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung – (SGB XI) ließ die Beklagte die Klägerin durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) in deren häuslicher Umgebung untersuchen. Dr. G., externer Gutachter des MDK, stellte in seinem Gutachten vom 15. März 1995 fest, die Klägerin habe einen Hilfebedarf bei allen in dem Gutachtensvordruck aufgeführten Verrichtungen im Rahmen der Körperpflege, Ernährung sowie Mobilität. Die Klägerin könne Situationen absolut nicht wahrnehmen und Gefahren absolut nicht erkennen. Freies Stehen und Gehen sei ihr nicht möglich, an der Hand könne sie nur wenige Schritte laufen, Windeln müßten gewechselt werden. Die Klägerin könne nicht sprechen, auch keine Silben. Nachts jammere sie manchmal nach der Mutter. Aufgrund dieser Defizite bedürfe die Klägerin ständiger Überwachung. Die erforderliche Zeit gehe deutlich über den Zeitbereich der Pflege eines gleichaltrigen Kindes (2,5 Stunden) hinaus. An Therapien würden Frühförderung und Krankengymnastik stattfinden. Der Gutachter bejahte das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe II. Die Beklagte bewilligte aufgrund dieses Gutachtens der Klägerin mit Bescheid vom 30. März 1995 weiterhin die Zahlung eines Pflegegeldes nach der Pflegestufe II. Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihr Hilfebedarf sei so groß, daß ihre Mutter als Pflegekraft jederzeit, Tag und Nacht, erreichbar sein müsse. Der Beklagte veranlaßte daraufhin eine weitere Begutachtung durch den MDK, und zwar nach Aktenlage durch Frau Dr. W ... Die Ärztin stellte in ihrem Gutachten vom 7. Juli 1995 fest, der Hilfebedarf sei zutreffend im Bereich der Pflegestufe II festgestellt. Es fehle an dem für die Einstufung in die Pflegestufe III notwendigen Tatbestandsmerkmal der Betreuung "rund um die Uhr, auch nachts”. Der erste Gutachter habe ausdrücklich festgestellt, daß nachts nicht regelmäßig pflegerische Einsätze erforderlich seien.
Mit Widerspruchsbescheid vom 1. November 1995, zugestellt mit Postzustellungsurkunde an den gesetzlichen Vertreter der Klägerin am 3. November 1995, wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, nach den Feststellungen des Erstgutachters sowie des Zweitgutachters erfülle der Hilfebedarf der Klägerin bei summarischer Betrachtung nicht die zeitlichen Mindestanforderungen für die Pflegestufe III.
Die Klägerin hat dagegen die am 28. November 1995 beim Sozialgericht Wiesbaden eingegangene Klage erhoben und geltend gemacht, die Voraussetzungen für eine Zuordnung zur Pflegestufe III seien in ihrem Fall gegeben. Aufgrund ihrer körperlichen und insbesondere geistigen Behinderung bedürfe sie einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung, auch nachts. Im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind lasse sich der erhöhte Pflegebedarf nicht konkret in Stunden und Minuten angeben, da er eben rund um die Uhr erforderlich sei. Nachts werde sie öfters wach und verlange weinend oder jammernd nach der Mutter.
Während des Klageverfahrens veranlaßte die Beklagte eine weitere Untersuchung durch den MDK, den Kinderarzt Dr. G., in der häuslichen Umgebung der Klägerin. Dr. G. führte in seinem Gutachten vom 6. Februar 1996 aus, die Mobilität der Klägerin habe sich seit seiner Vorbegutachtung im März 1995 entschieden verbessert. Die Klägerin laufe inzwischen selbständig in schnellen, unsicheren Schritten in der Wohnung herum; langsames Gehen falle ihr noch immer schwer. An Therapiemaßnahmen würden bei der Klägerin weiterhin Frühförderung und Krankengymnastik stattfinden. 1995 sei eine Akupunkturbehandlung durchgeführt worden. Im übrigen beschrieb Dr. G. den Zustand der Klägerin als identisch mit dem Zustand, den er bei seiner Begutachtung im März 1995 vorgefunden hatte. Der Arzt hielt weiterhin die Zuordnung zur Pflegestufe II für zutreffend, wobei er ausführte, "den Eltern ist nicht begreiflich zu machen, daß Überwachung und Aufsicht im Pflegegesetz nicht Erwähnung finden”. Wie in seinem Vorgutachten machte Dr. G. auch diesmal keinerlei Angaben zum jeweils anfallenden Zeitaufwand bei den erforderlichen Leistungen der Grundpflege.
Das Sozialgericht hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 16. Juli 1996 Beweis erhoben durch Vernehmung der Erzieherin der Klägerin S. S. als Zeugin sowie durch Einholung einer mündlichen ergänzenden Stellungnahme zum Pflegebedarf durch Dr. MDK. Die Zeugin S. S. hat dabei angegeben, die Klägerin habe in den zwei Jahren im Kindergarten gelernt zu laufen und laufe jetzt sogar recht schnell. Umgekehrt könne sie aber keinerlei Gefahren erkennen. Die komplette Selbstversorgung habe sich nicht geändert, die Klägerin müsse gewickelt, gefüttert und nach dem Essen gewaschen werden; auch beim Sprechen seien keine Fortschritte zu erkennen. Dr. L. hat die Einschätzung durch Dr. G. in dessen Gutachten für zutreffend erklärt.
Mit Urteil vom 16. Juli 1996 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe III. Sie sei nicht schwerstpflegebedürftig im Sinne des Gesetzes (§§ 14, 15 SGB XI) i.V.m. den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen nach § 17 SGB XI zur näheren Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie i.V.m. der Begutachtungsanleitung "Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI”, die am 29. Mai 1995 als Richtlinie nach § 282 Satz 3 SGB X beschlossen wurde. Die in der Begutachtungsanleitung angegebenen Zeitwerte für gesunde Kinder im Alter der Klägerin zwischen 3 und 6 Jahren seien bei der Bemessung des Zeitaufwandes im konkreten Fall in Abzug zu bringen. Zutreffend habe der Gutachter des Medizinischen Dienstes ca. 2,5 Stunden Hilfebedarf für ein gesundes Kind im Alter von 3 bis 5 Jahren im Tagesdurchschnitt berechnet. Im konkreten Fall sei ein Hilfebedarf im hauswirtschaftlichen Bereich von 45 Minuten zu unterstellen. Der Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege, Ernährung und Mobilität sei unter Zugrundelegung der Angaben der Mutter der Klägerin, der Aussage der sachverständigen Zeugin Frau S. sowie der Feststellungen des Gutachters des Medizinischen Dienstes Dr. G. nahezu doppelt so hoch einzuschätzen wie bei einem gesunden Kind, d.h. 4 bis 5 Stunden. Ausschlaggebend sei, so das Sozialgericht, daß die Klägerin inzwischen motorisch gute Fortschritte gemacht habe. Sie müsse zwar gewickelt, gefüttert und nach dem Essen gewaschen werden, habe jedoch ihre festen Essenszeiten, die sie auch zeige. Eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung verneinte das Sozialgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme mit der Begründung, auch bei gesunden Kindern im Alter von 3 bis 5 Jahren sei im Schlafverhalten eine sehr große Variationsbreite festzustellen. Der Umstand, daß die Klägerin nachts öfters wach werde, weine oder jammere, reiche nicht aus um eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung im Sinne des SGB XI zu begründen. Außerdem sei durch ein Spezialbett (seit Juli 1996) der Betreuungsaufwand inzwischen auch verringert worden.
Gegen das dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 1. Oktober 1996 mit Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat die Klägerin (per Telefax) am 22. Oktober 1996 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt.
Während des Berufungsverfahrens veranlaßte die Beklagte aufgrund eines "Neuantrages” der Klägerin (vom 4. November 1997) eine erneute Begutachtung durch den MDK in der häuslichen Umgebung der Klägerin, und zwar durch Frau Dr. M. S ... Die Ärztin beschrieb die Fähigkeiten der Klägerin in bezug auf die Aktivitäten des täglichen Lebens im wesentlichen, ebenso wie sie von Dr. G. in dem Vorgutachten vom 6. Februar 1996 dargestellt waren. Hinsichtlich der Fähigkeit "sich sauber halten und kleiden können” teilte Frau Dr. M.-S. mit, die Klägerin "schaffe es” inzwischen, die Windel aufzureißen, und müsse aus diesem Grund zusätzlich mehrmals täglich gewaschen bzw. geduscht sowie umgezogen werden. Hinsichtlich der Fähigkeit "Ruhen und Schlafen können” führte die Ärztin aus: "Nächtliche Unruhe bzw. Umtriebigkeit, kein fester Tag- und Nachtrhythmus. Mutter schläft seit 5 Monaten jede Nacht auf einem Notbett vor M. Bett, da sie dann deutlich ruhiger wäre.” Die Ärztin nahm das Vorliegen eines außergewöhnlich hohen Pflegeaufwandes an, wobei sie den Zeitaufwand für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege im einzelnen schätzte und einen täglichen Zeitaufwand von insgesamt 487 Minuten für die Grundpflege sowie 60 Minuten für die hauswirtschaftliche Versorgung ermittelte. Dr. M.-S. stufte die Klägerin in die Pflegestufe III ein. Das Gutachten enthält dazu den handschriftlichen Vermerk der Sachbearbeiterin "F.” der Beklagten, "Id Anruf MDK W. ab Antragstellung”. Aufgrund dieses Gutachtens bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 9. Januar 1998 Pflegegeld der Pflegestufe III ab dem Zeitpunkt des Neuantrages (4. November 1997).
Die Klägerin ist der Auffassung, sie sei auch für die Zeit vom 1. April 1995 bis zum Zeitpunkt des Neuantrages als schwerstpflegebedürftig einzustufen, da sie bei allen Aktivitäten und sämtlichen pflegeversicherungsrechtlich relevanten Verrichtungen rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedurft habe. Aufgrund ihres konkreten Krankheitsbildes sei sie nicht in der Lage, auch nur einfachste Verrichtungen des täglichen Lebens allein und ohne fremde Hilfe zu bewerkstelligen, die ein gesundes Kind im Alter der Klägerin im streitigen Zeitraum von 3 bis 6 Jahren bereits selbständig ausüben könne. Dr. G. sei in seinen Gutachten von März 1995 und Februar 1996 der konkreten Pflegesituation nicht gerecht geworden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 16. Juli 1996 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 30. März 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 1995 sowie des Bescheides vom 9. Januar 1998 zu verurteilen, ihr Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen nach Pflegestufe III auch für die Zeit vom 1. April 1995 bis zum 3. November 1997 in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen,
hilfsweise,
Frau Dr. M.-S. dazu zu hören, wie der Pflegebedarf in der Vergangenheit nach ihrer Auffassung einzuschätzen ist.
Sie ist der Auffassung, in dem streitigen Zeitraum vom 1. April 1995 bis 3. November 1997 würden die Voraussetzungen für eine Zuordnung zur Pflegestufe III bei der Klägerin nicht vorliegen. Verglichen mit einem gesunden gleichaltrigen Kind von 3 bis 6 Jahren sei der Mehrbedarf an Hilfe im streitigen Zeitraum nicht so groß gewesen, daß dadurch der für die Zuordnung zur Pflegestufe III erforderliche zeitliche Mindestaufwand erfüllt worden sei.
Der Senat hat die Mutter der Klägerin als Pflegeperson in der mündlichen Verhandlung zur Pflegebedürftigkeit im streitigen Zeitraum nochmals formlos angehört. Diesbezüglich wird Bezug genommen auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 19. Februar 1998.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die Krankenakte des Kinderneurologischen Zentrums des Landes , die zum Verfahren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§ 151, Abs. 1, §§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung der Klägerin ist auch in der Sache begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 16. Juli 1996 konnte nicht aufrechterhalten werden. Der Bescheid der Beklagten vom 30. März 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 1995 sowie der Bescheid vom 9. Januar 1996 sind zu ändern.
Nach Auffassung des Senats liegen die Voraussetzungen für ein Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen der Pflegestufe III (§ 37 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. den §§ 14, 15 SGB XI) auch in dem Zeitraum vom 1. April 1995 bis zum 3. November 1997 vor. Allein für diese Zeit ist die Gewährung von Pflegegeld der Stufe III noch im Streit, nachdem die Beklagte mit Bescheid vom 9. Januar 1998 Pflegegeld der Stufe III ab dem 4. November 1997 bewilligt hat und die Klägerin ihren Antrag entsprechend reduziert hat. Der den ursprünglichen Verwaltungsakt ändernde Bescheid vom 9. Januar 1998 ist dabei nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden.
Pflegegeld erhalten nach § 37 Abs. 1 SGB XI Pflegebedürftige. Dies sind nach § 14 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablaufe des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.
Nach § 14 Abs. 3 SGB XI besteht Hilfe im Sinne des Abs. 1 in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen.
In § 14 Abs. 4 SGB XI werden die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Sinne des Abs. 1 erläutert. Dazu gehören im Bereich der sogenannten Grundpflege im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung (§ 14 Abs. 4 Nr. 1), im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2), im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (§ 14 Abs. 4 Nr. 3).
Neben der Grundpflege gehören zu den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen nach § 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Für die Gewährung von Leistungen wie des Pflegegeldes nach § 37 SGB XI sind die pflegebedürftigen Personen im Sinne des § 14 SGB XI einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB XI sind
1. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
2. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
3. Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Durch das Erste Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 14. Juni 1996 (Bundesgesetzblatt I, Seite 830) hat der Gesetzgeber nunmehr im Gesetz selbst auch die Zeitdauer der Pflegemaßnahmen bestimmt, die für die Zuordnung zu den unterschiedlichen Stufen der Pflegebedürftigkeit in § 15 Abs. 1 maßgeblich sein sollen. Dabei hat der Gesetzgeber grundsätzlich die Zeitvorgaben aus Ziffer 4.1 der Pflegebedürftigkeitsrichtlinien vom 7. November 1994 übernommen. Nach § 15 Abs. 3 SGB XI in der Fassung des Ersten SGB XI-Änderungsgesetzes (1. SGB XI-ÄndG) muß der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt betragen in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen (§ 15 Abs. 3 Nr. 1), in der Pflegestufe II mindestens 3 Stunden; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens 2 Stunden entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 2), in der Pflegestufe III mindestens 5 Stunden, wobei auf die Grundpflege mindestens 4 Stunden entfallen müssen (§ 15 Abs. 3 Nr. 3).
Bei Kindern, wie im vorliegenden Fall, hat der Gesetzgeber in § 15 Abs. 2 SGB XI darüber hinaus bestimmt, daß für die Zuordnung der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend ist.
Die Klägerin hatte im Zeitraum vom 1. April 1995 bis zum 3. November 1997 im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI "rund um die Uhr, auch nachts”, Hilfebedarf im Bereich der sogenannten Grundpflege, wobei der zusätzliche Hilfebedarf, der über den Bedarf eines gesunden gleichaltrigen Kindes hinausgeht, nach Auffassung des Senats im streitigen Zeitraum so groß war, daß die Mindestpflegezeit nach § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI erfüllt war.
Bei der Feststellung des Bedarfs der Hilfe der Klägerin im streitigen Zeitraum sowie des dafür erforderlichen zeitlichen Aufwandes, der durch Schätzung entsprechend dem Rechtsgedanken nach §§ 286 und 287 der Zivilprozeßordnung zu ermitteln ist, (vgl. Wilde in Hauck/Wilde Sozialgesetzbuch, SGB XI, Soziale Pflegeversicherung, Stand: 1. August 1997, § 15 Rdnr. 20; Trenk-Hinterberger in Wannagat, Kommentar zum Recht des Sozialgesetzbuchs, Soziale Pflegeversicherung, 1997, § 15 SGB XI Rdnr. 29; LSG Mainz, Beschluss vom 3. September 1997 – L-5/P-12/96), berücksichtigt der Senat insbesondere die Angaben der Pflegeperson der Klägerin, ihrer Mutter, die Angaben der Zeugin S. sowie die Feststellungen der Gutachter des MDK, Dr. G. in seinen Gutachten vom 15. März 1995 und vom 6. Februar 1996 sowie Frau Dr. M.-S. in deren aktuellem Gutachten vom 17. Dezember 1997. Auch dieses letzte Gutachten vom 17. Dezember 1997 kann für den – zurückliegenden – Zeitraum vom 1. April 1995 bis zum 3. November 1997 herangezogen werden, soweit sich seit dem 1. April 1995 die pflegerelevanten Aspekte nicht verändert haben. Ein Vergleich der Feststellungen der Ärzte Dr. G. und Dr. M.-S. zu den Fähigkeiten der Klägerin in bezug auf die Aktivitäten des täglichen Lebens ergibt, daß der Zustand der Klägerin und der dadurch bedingte Pflegeaufwand seit dem 1. April 1995 unverändert dadurch bestimmt wird, daß die Klägerin nicht kommunizieren kann und völlig unselbständig ist hinsichtlich der Fähigkeit "Essen können” und "sich sauber halten und kleiden können”. Aufgrund ihrer geistigen Behinderung ist der Klägerin – unverändert – eine Anpassung an Situationen sowie das Einschätzen von Gefahren sowohl draußen als auch innerhalb vertrauter Räume nicht möglich. Im Rahmen der Mobilität der Klägerin hat sich eine den Pflegebedarf beeinflussende Veränderung in den hier zu beurteilenden 2 1/2 Jahren ergeben. Die Klägerin, die 1995 noch nicht frei stehen und gehen konnte, kann nunmehr (seit 1996) laufen, wenngleich mit unsicheren schnellen Schritten. Als weiterer pflegerelevanter Aspekt, der sich verändert hat, ist zu beachten, daß es die Klägerin nach den Angaben von Frau Dr. M.-S. in ihrem Gutachten vom Dezember 1997 "inzwischen” schafft, ihre Windel aufzureißen. Der Senat geht davon aus, daß diese Sachlage im Zeitpunkt der letzten Begutachtung durch Dr. G. (Februar 1996) noch nicht gegeben war, da Dr. G. in seinem Gutachten diesen pflegerelevanten Aspekt nicht schildert. Dies steht in Einklang mit den Angaben der Mutter der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung am 19. Februar 1998, in dem diese mitgeteilt hat, genau könne sie sich nicht erinnern, sie meine aber, daß die Klägerin seit etwa 1 1/2 bis 2 Jahren ihre Windeln aufreiße. Schließlich ist in dem hier zu beurteilenden Zeitraum die Änderung der Wohnsituation zu berücksichtigen, die sich auf die Pflege auswirkt. Seit August 1997 bewohnt die Familie der Klägerin ein Einfamilienhaus mit zwei Treppen und – nach den Angaben von Frau Dr. M.-S. – mehreren Stufen.
Der Senat schätzt den im Tagesdurchschnitt anfallenden zeitlichen Aufwand für den Hilfebedarf der Klägerin im Bereich der Grundpflege in dem hier streitigen Zeitraum, in dem die Klägerin 3 bis 6 Jahre alt gewesen ist, mit mindestens 437 (bis etwa Mitte 1996) bzw. 480 Minuten (ab Mitte 1996 bis zum Umzug) ein. Dabei gilt im einzelnen folgendes:
Die Klägerin benötigt im Bereich der Körperpflege zu allen in § 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI genannten Verrichtungen Hilfe, und zwar durch vollständige Übernahme der Verrichtungen durch ihre Mutter. Erschwerend für die Pflege und als zeitaufwendig ist dabei insbesondere zu berücksichtigen, daß das fast 4- bis 6jährige Kind mehrmals täglich (mindestens 7-mal) gewickelt werden mußte. Weiterhin kommt erschwerend hinzu, daß die Klägerin durch das Spiel mit der Nahrung öfters verschmutzt gewesen ist, welches wiederum ein häufiges Waschen bedingt. Die Angaben in den Gutachten von Dr. G. und Frau Dr. M.-S. decken sich hinsichtlich der Häufigkeit der täglich im Bereich der Körperpflege anfallenden Verrichtungen. Hinsichtlich der Verrichtung Waschen hat Dr. G. indes in seinem Gutachten einen täglichen Bedarf von 3 bis 5-mal angegeben, während Frau Dr. M.-S. einen Bedarf von 7 bis 8-mal täglich angegeben hat. Der Unterschied läßt sich dadurch erklären, daß die Klägerin es inzwischen schafft, ihre Windel aufzureißen, und aufgrund der dadurch bedingten Verschmutzung zusätzlich gewaschen werden muß. Frau Dr. M.-S. hat für die im Bereich der Körperpflege anfallenden Verrichtungen (Waschen, Duschen, Zahnpflege, Kämmen, Darm- und Blasenentleerung) insgesamt einen Zeitbedarf von täglich 205 Minuten angesetzt, wobei sie für die Verrichtung Waschen im einzelnen täglich 48 Minuten veranschlagt hat. Der Senat hält diese Bewertung zu der Sachlage im Zeitpunkt der Untersuchung durch Frau Dr. M.-S. im Dezember 1997 für zutreffend und geht davon aus, daß für den zurückliegenden Zeitraum bis etwa Mitte 1996 (Windelaufreißen) – nur – 180 Minuten anzusetzen sind, unter Berücksichtigung, daß die Verrichtung Waschen bis dahin nicht so häufig anfiel.
Im Bereich der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) bedarf die Klägerin seit dem 1. April 1995 vollständig der Hilfe ihrer Mutter. Die 3- bis 6jährige Klägerin mußte und muß gefüttert werden. Erschwerend kommt im Rahmen dieser Verrichtung hinzu, daß die Klägerin die Bedeutung von Essen und Eßbesteck nicht erkennt und mit dem Essen spielt oder es wegwirft. Dies haben sowohl Dr. G. als auch Frau Dr. M.-S. in ihren Gutachten beschrieben. Dr. G. hat die Häufigkeit der Nahrungsaufnahme mit 3 bis 4-mal in seinen beiden Gutachten angegeben. Frau Dr. M.-S. berücksichtigt diese Verrichtung 5-mal täglich und schätzt dabei den Zeitaufwand pro Tag mit 113 Minuten ein, wobei sie 13 Minuten für die mundgerechte Zubereitung angerechnet hat. Der Senat schätzt den Zeitaufwand pro Tag für eine Mahlzeit ebenfalls mit 20 Minuten ein, wobei von 3 Hauptmahlzeiten und mindestens einer Zwischenmahlzeit täglich auszugehen ist. Auch die Mahlzeit(en), die die Klägerin im Kindergarten einnimmt, ist zu berücksichtigen, da das hier streitige Pflegegeld nicht als Entgelt der Pflegeperson konzipiert ist und nicht die Pflegeperson, sondern allein der Pflegebedürftige Empfänger dieser Leistung ist (BSG, Urteil vom 17. Januar 1996 – 3 RK 4/95). Für den Bereich der Ernährung insgesamt (mundgerechte Zubereitung und Aufnahme der Nahrung) hält der Senat einen Zeitaufwand im streitigen Zeitraum von (mindestens) 90 Minuten für zutreffend.
Auch im Rahmen der Mobilität bedarf bzw. bedurfte die Klägerin nach Auffassung des Senats im streitigen Zeitraum der Hilfe zu sämtlichen in § 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI im Bereich der Mobilität aufgeführten Verrichtungen. Dr. G. hat in seinem zweiten Gutachten einen Bedarf der Klägerin für die Verrichtung Stehen, Gehen, Treppensteigen, Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung nicht mehr angenommen, da die Klägerin zu diesem Zeitpunkt in der Lage war, selbständig mit unsicheren, schnellen Schritten zu laufen. Demgegenüber hat Frau Dr. M.-S. zutreffend in ihrem Gutachten angenommen, daß die Klägerin weiterhin, insbesondere beim Gehen innerhalb der Wohnung, der Hilfe jedenfalls durch eine Teilübernahme der Mutter bedarf, da sie sich nicht zielgerichtet und unsicher bewegt. Frau Dr. M.-S. hat die Verrichtung Gehen 15-mal täglich berücksichtigt, wobei sie nur das Bewegen innerhalb der Wohnung in Zusammenhang mit Verrichtungen im Bereich der Körperpflege und Ernährung zugrunde gelegt hat ("dreimal wickeln, fünfmal Eßplatz, zweimal Schlafzimmer”). Dadurch wird indes nach Auffassung des Senats der im Rahmen der Verrichtung Gehen im konkreten Fall anfallende Hilfebedarf nicht vollständig erfaßt.
Im konkreten Fall ist nämlich zu berücksichtigen, daß die motorischen Fortschritte der Klägerin im streitigen Zeitraum, d.h. ihre Fähigkeit, überhaupt frei stehen und insbesondere laufen zu können, im Zusammenhang mit ihrem Unvermögen, Gefahren überhaupt zu erkennen, zu einer erheblichen Eigengefährdung führen. Die Klägerin kann bei der Verrichtung "Gehen” nicht alleine gelassen werden, sondern bedarf dabei ständig der Beaufsichtigung (im Sinne von § 14 Abs. 3 SGB XI). Bei einem restriktiven Verständnis der Begriffe im Rahmen der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI), insbesondere der Verrichtung "Gehen” nur im Sinne eines Bewegens im Zusammenhang mit Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, Ernährung und hauswirtschaftlichen Versorgung würde der Pflege orientierungsloser bzw. motorisch unruhiger Menschen mit schwerer geistiger Behinderung wie der Klägerin nicht Rechnung getragen. Eine solche restriktive Auslegung ist nach Auffassung des Senats weder vom Wortlaut gedeckt noch von dem gesetzgeberischen Ziel, welches man den Materialien, der Gesetzesbegründung zum Pflegeversicherungsgesetz entnehmen kann.
Die restriktive Auslegung, die Frau Dr. M.-S. hier angewandt hat, die die Begriffe Gehen, Stehen und Treppensteigen nur als ein Bewegen im Zusammenhang mit den Verrichtungen im Bereich der Körperpflege und der Ernährung sowie der hauswirtschaftlichen Versorgung versteht, entspricht indes den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeits-Richtlinien) vom 7. November 1994 (siehe dort 3.4.2) sowie der Begutachtungsanleitung "Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI” des MDK vom 29. Mai 1995 (gültig bis zum 31. Mai 1997; siehe dort 5.3) als auch den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien) vom 21. März 1997 (siehe dort 5.3). Eine Bindung des Senats, der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, an diese Richtlinien und die Begutachtungsanleitung besteht nicht. Vielmehr haben die Gerichte die Bescheide der Pflegekassen, die auf diesen Richtlinien beruhen, uneingeschränkt auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gesetz und der Verfassung zu überprüfen (SG Speyer, Urteil vom 9. April 1996 – S-3/P-23/95 in Breithaupt 1996, Seite 521). Bei der Begutachtungsanleitung vom 29. Mai 1995 (Richtlinien nach § 282 S. 3 SGB V) handelt es sich nur um Verfahrensregelungen und Auslegungshinweise für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (SG Speyer a.a.O.). Auch die Pflegebedürftigkeits-Richtlinien sowie die Begutachtungs-Richtlinien (Richtlinien nach § 17 SGB XI), die gegenüber der Begutachtungsanleitung eine höhere Rechtsqualität besitzen (die Genehmigung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung und bei den Begutachtungs-Richtlinien zudem des Bundesministeriums für Gesundheit ist erforderlich) haben keinen Rechtsnormcharakter. Vielmehr handelt es sich auch bei diesen Richtlinien nur um allgemeine Verwaltungsvorschriften mit Bindung lediglich für die Pflegekassen bzw. den MDK zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen (SG Speyer a.a.O.; Trenk-Hinterberger, a.a.O., § 17 Rdnr. 5; Wilde in Hauck/Wilde, a.a.O., § 17 Rdnr. 4 ff.). Diese sind als Gesetzeskonkretisierungen nur dann zu respektieren, wenn diese Konkretisierungen vertretbar erscheinen und nicht offensichtlich unzutreffend sind (Trenk-Hinterberger a.a.O.; Wilde in Hauck/Wilde, a.a.O.).
Die in den Richtlinien und der Begutachtungsanleitung vorgenommene Auslegung der Begriffe der Mobilität hält der Senat nicht für vertretbar. Der Wortlaut des § 14 Abs. 4 SGB XI ordnet die Verrichtungen Gehen, Stehen und Treppensteigen dem Bereich der Mobilität gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI zu, der eigenständig und gleichwertig neben den anderen Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) und der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) steht (s. Lachwitz, Definition der Grundpflege im Sinne des SGB XI, in: Rechtsdienst der Lebenshilfe 1996, S. 155, 159). Auch mit den Materialien zum Pflegeversicherungsgesetz läßt sich die restriktive Auslegung der Begriffe der Mobilität in den obengenannten Richtlinien und der Begutachtungsanleitung nicht rechtfertigen. Als Beispielsfall für einen Rund-um-die-Uhr-Bedarf der Pflegestufe III führt die Gesetzesbegründung nämlich den Fall eines an "Morbus Alzheimer” Erkrankten an, bei dem eine starke Unruhe besteht und der seine Wohnung nicht mehr selbständig nutzen kann, da er sich im Umgang mit Strom, Wasser, Scheren und anderen Haushaltsgegenständen gefährdet und zudem seine Angehörigen nicht mehr erkennt und versucht, die Wohnung zu verlassen. Der Hilfebedarf – so die Gesetzesbegründung (siehe BT-Drucksache 12/5262, zu Nummer 3 zu § 13 des Entwurfs zum Pflegeversicherungsgesetz, Fallbeispiel b, Seite 98) – besteht in diesem Beispiel in der Anleitung und der Beaufsichtigung in nahezu allen Bereichen der Körperpflege, der Mobilität und der Ernährung. Die Pflege sei rund um die Uhr notwendig, um z.B. in der Nacht das Umherirren in der Stadt oder die Selbstgefährdung durch tägliche Gebrauchsgegenstände zu verhindern.
Der Gesetzesbegründung läßt sich somit entnehmen, daß der Gesetzgeber den besonderen Bedarf von geistig Behinderten erkannt hat und daß die in § 14 Abs. 4 SGB XI im Bereich der Mobilität genannten Verrichtungen in jedem Falle weit auszulegen sind, um diesem Personenkreis im Rahmen des Pflegeversicherungsgesetzes gerecht zu werden.
Vorliegend kann dahinstehen, ob dem besonderen Pflegebedarf bei geistig und mehrfach behinderten Menschen durch eine sinnvolle weite Auslegung des Begriffs der Mobilität vollständig Rechnung getragen wird und auch nur in diesem Rahmen Rechnung getragen werden kann (so Wilde/Pilz, Behandlungspflege und Beaufsichtigung in der Pflegeversicherung – Zur Bedeutung des Verrichtungskatalogs in § 14 Abs. 4 SGB XI, in: SGb 1997, S. 409, 411; Lachwitz, a.a.O. sowie derselbe Verfasser, Probleme bei den Feststellungen von Pflegebedürftigkeit (SGb XI), in: MED SACH 1997, S. 51, 54; Dalichau/Grüner/Müller-Alten, Pflegeversicherung, Sozialgesetzbuch Elftes Buch, Kommentar, Stand: 1. Oktober 1997, Band I, § 14 Erläuterungen II 3., Seite 37) oder ob dem besonderen Pflege- und Aufsichtsbedarf zur Vermeidung von Fremd- und Eigengefährdungen bei geistig Behinderten nur dadurch Rechnung getragen werden kann, daß der Katalog der Verrichtungen in § 14 Abs. 4 SGB XI nicht als abschließend angesehen wird und die Aufsicht insbesondere zur Vermeidung von Fremd- oder Eigengefährdung auch als eigener Pflegebedarf unabhängig von den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen berücksichtigt wird (so Udsching, Rechtsfragen bei der Bemessung des Pflegebedarfs in: VSSR 1996, S. 271, 277 ff.; Kukla, Fortentwicklung der Pflege-Begutachtungsgrundlagen vor dem Hintergrund des BSG-Urteils vom 17. April 1996, KRV 1997, Seite 71). Im konkreten Fall ergibt sich jedenfalls bei der wie oben ausgeführt gebotenen Auslegung der Begriffe der Mobilität, insbesondere der Verrichtung Gehen in dem Sinne, daß es nicht darauf ankommt, welchem Ziel die Bewegung dient, daß der Hilfebedarf der Klägerin in einem Ausmaß besteht, der die Voraussetzungen der Mindestpflegezeit nach § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI, sowie der Rund-um-die-Uhr-Pflege nach § 15 Abs. 1 Ziffer 3 SGB XI erfüllt.
Die Klägerin bedarf für die Verrichtung Gehen, seit sie laufen kann, zur Vermeidung von Eigengefährdung der besonderen Aufsicht ihrer Eltern. Dies läßt sich den Feststellungen von Dr. G. in seinem Gutachten vom 6. Februar 1996 entnehmen (wobei der Gutachter diese Hilfe für nicht relevant hielt) sowie auch der Aussage der Zeugin S., die bei der Beweisaufnahme vor dem Sozialgericht ausgeführt hat, die Klägerin könne nunmehr laufen und laufe zwar schnell, umgekehrt könne sie aber keine Gefahren erkennen. Die Mutter der Klägerin hat diese Sachlage im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 19. Februar 1998 nochmals – glaubhaft – bestätigt.
In dem Gutachten von Frau Dr. M.-S. ist vermerkt, daß die Klägerin "manchmal ins Zimmer” bzw. "manchmal ins Gitterspezialbett” eingeschlossen werden müsse. Die Mutter der Klägerin hat dazu im Termin am 19. Februar 1998 angegeben, vor dem Umzug, d.h. in der alten Wohnung, habe sie die Klägerin auch nur dann in den Laufstall gesetzt, wenn sie gerade selbst mal zur Toilette gehen mußte und auf die Klägerin nicht habe achten können. Es kann im vorliegenden Fall indes nicht von der Mutter verlangt werden, die Klägerin ständig auf diese Art und Weise vor Eigengefährdung zu schützen. Abzulehnen sind grundsätzlich Maßnahmen, die einerseits den zeitlichen Pflegeaufwand reduzieren, andererseits aber die Bewegungsfreiheit des Behinderten erheblich tangieren (siehe dazu Lachwitz, a.a.O., in MED SACH 1997, S. 54). Der Senat schätzt den zeitlichen Aufwand für die Hilfe bei der Verrichtung Gehen im streitigen Zeitraum auf täglich mindestens 60 Minuten ein, wobei sich die Häufigkeit des Standartwechsels der Klägerin in der Vergangenheit nicht mehr genau feststellen läßt. Dieser Zeitaufwand ist für den gesamten streitigen Zeitraum, d.h. ab dem 1. April 1995 im Rahmen dieser Verrichtung im Bereich der Mobilität zu veranschlagen. Zu berücksichtigen ist, daß für die Zeit, bevor die Klägerin laufen konnte, ein Zeitaufwand anzusetzen ist für die Förderung des Erlernens der Gehfähigkeit im Sinne einer Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtung im Sinne von § 14 Abs. 3 SGB XI. Bei geistig Behinderten ist aufgrund der fehlenden Möglichkeit der Kommunikation davon auszugehen, daß die Anleitung einen zeitaufwendigen Vorgang darstellt, der bei der zeitlichen Bemessung des Pflegeaufwandes besonders zu berücksichtigen ist (dazu Lachwitz, a.a.O., in MED SACH 1997, S. 55; sowie BSG, Urteil vom 14. Dezember 1994 – 3 RK 14/94 – und – Urteil vom 17. April 1996 – 3 RK 28/95 zur Feststellung von Schwerpflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 53 ff. SGB V a.F.).
Hinsichtlich der Verrichtung Stehen ist ein Hilfebedarf der Klägerin im streitigen Zeitraum für den Transfer in die Duschwanne anzusetzen. Das Gericht hält auch für den streitigen Zeitraum den von Frau Dr. M.-S. geschätzten Aufwand von 2 Minuten pro Tag für zutreffend.
Hinsichtlich der Verrichtung Treppensteigen im Bereich der Mobilität hat Frau Dr. M.-S. einen Zeitaufwand von 22 Minuten angesetzt, da die Klägerin das Treppensteigen nur an der Hand kann und beim Hinuntergehen getragen werden muß. Die Begutachtung von Frau Dr. M.-S. fand indessen in der neuen häuslichen Umgebung der Klägerin statt mit zwei Treppen und Stufen im offenen Wohnzimmer/Küche/Eßzimmer. Da die Familie der Klägerin im streitigen Zeitraum indes noch eine Wohnung im 1. Stock eines Mehrfamilienwohnhauses bewohnte, kann für diese Verrichtung innerhalb der Wohnung bis zum Umzug der Familie im August 1997 ein solcher Zeitaufwand nicht angerechnet werden.
Für die vollständig von der Pflegeperson zu übernehmende Verrichtung An- und Auskleiden hat Frau Dr. M. S. einen Zeitaufwand von 77 Minuten täglich angenommen, wobei sie davon ausgegangen ist, daß diese Verrichtung mehrmals, ca. 8 bis 10-mal am Tag, anfällt. Für den streitigen Zeitraum geht das Gericht davon aus, daß das An- und Auskleiden jedenfalls bis etwa Mitte 1996 nicht so häufig erforderlich gewesen ist (Dr. G. hat zur Häufigkeit in seinen Gutachten keine Angaben gemacht), da die Klägerin ihre Windeln noch nicht aufreißen konnte. Auch bis dahin ist aber ein Hilfebedarf für vollständiges Ankleiden durchschnittlich 2-mal täglich (30 Minuten) und für vollständiges Entkleiden 2-mal täglich (20 Minuten) anzunehmen, zumal sich die Klägerin beim Spielen und mit Nahrung beschmutzt hat. Insgesamt ist bis etwa Mitte 1996 von einem Zeitaufwand von 50 Minuten pro Tag für diese Verrichtung auszugehen.
Für die Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung haben sowohl Dr. G. als auch Frau Dr. M.-S. einen Hilfebedarf verneint. Nach Auffassung des Senats ist indes auch für diese Verrichtung ein Hilfebedarf anzunehmen und ein entsprechender zeitlicher Aufwand im Rahmen der Grundpflege in Ansatz zu bringen. In der Gesetzesbegründung heißt es zu dem Begriff Mobilität, daß dabei der Hilfebedarf innerhalb und außerhalb der Wohnung entscheidend ist: "Das Leben des Pflegebedürftigen soll aber nicht auf die Wohnung beschränkt werden. Der Pflegebedürftige muß vielmehr die Möglichkeit haben, seine Wohnung zu verlassen, um Ärzte, Krankengymnasten, Sprachtherapeuten, Apotheken oder Behörden aufzusuchen. Es sollen nur solche Verrichtungen außerhalb der Wohnung in die Begutachtung einbezogen werden, die für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unumgänglich sind und das persönliche Erscheinen des Pflegebedürftigen notwendig machen. Weitere Hilfen – z.B. bei Spaziergängen oder Besuchen von kulturellen Veranstaltungen – sind zwar wünschenswert, können aber durch die Pflegeversicherung nicht finanziert werden” (BT-Drucksache 12/5262, Seite 97, zu § 12 Abs. 4 des Entwurfs des Pflegeversicherungsgesetzes). Diese Begründung haben sowohl die Pflegeversicherungs-Richtlinien (siehe dort 3.4.2) als auch die Begutachtungs-Richtlinien (siehe dort 5.3) für die Definition der Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung übernommen.
Den Angaben in den Gutachten der Gutachter des MDK für den streitigen Zeitraum ist zu entnehmen, daß die Klägerin 1995 eine Akupunkturbehandlung zur Verbesserung der Fußstellung und des Rundrückens durchgeführt hat. Weiterhin besuchte sie nach den Angaben ihrer Mutter in der mündlichen Verhandlung am 19. Februar 1998 bis Mitte 1996 zweimal und seitdem einmal wöchentlich außer Haus die Krankengymnastik mit einem zeitlichen Aufwand von jeweils 1 3/4 Stunden, wobei die eigentliche Behandlungszeit 45 Minuten betragen hat. Hinzu kommen Arztbesuche – nach den Angaben der Mutter unregelmäßig –, die für die Aufrechterhaltung der Lebensführung der Klägerin zu Hause unumgänglich sind und ihr persönliches Erscheinen notwendig machen. Vorliegend kann dahinstehen, ob in diesem Rahmen auch Hilfebedarf zu berücksichtigen ist, den die Klägerin für das Aufsuchen des Kindergartens von ihrer Mutter benötigt. Die Begutachtungs-Richtlinien (siehe dort 5.3) verneinen die Berücksichtigung eines solchen Bedarfs. Für die Berücksichtigung kann sprechen, daß auch der Besuch des Kindergartens der Förderung der Fähigkeiten der Klägerin dient. So hat ihre Mutter in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Wiesbaden angegeben, daß die Klägerin sich dort "etwas von den anderen Kindern abgucken” soll. Für die Begleitung zur Krankengymnastik allein ist jedenfalls umgerechnet ein Zeitaufwand von 17 Minuten bis Mitte 1996 und danach von 8 Minuten täglich als Hilfebedarf für die betreffende Verrichtung im Bereich der Mobilität anzusetzen.
Für die Verrichtung Aufstehen und Zu-Bett-Gehen im Bereich der Mobilität, die von der Mutter der Klägerin vollständig übernommen werden muß, hat Frau Dr. M.-S. in ihrem Gutachten 38 Minuten veranschlagt und auf die "Unruhe” der Klägerin hingewiesen. Das Gutachten der Ärztin enthält hinsichtlich der Fähigkeit "Ruhen und Schlafen können” zudem die Anmerkung, "nächtliche Unruhe bzw. Umtriebigkeit, kein fester Tag- und Nachtrhythmus; Mutter schläft seit 5 Monaten jede Nacht auf einem Notbett vor M. Bett, da sie dann deutlich ruhiger werde”. Auch den Gutachten von Dr. G. läßt sich für den hier streitigen Zeitraum entnehmen, daß die Unruhe der Klägerin regelmäßige nächtliche Interventionen der Pflegeperson erfordert. So heißt es in dem Gutachten von Dr. G. vom 6. Februar 1996, "kommt nachts öfters mal, auch über Stunden”. Die dadurch erforderlichen regelmäßigen nächtlichen Pflegeeinsätze der Mutter zur Beruhigung des Kindes sind unter der Verrichtung Zu-Bett-Gehen zu erfassen. Nur wenn man unter dieser Verrichtung auch die ungestörte und gefahrlose Aufrechterhaltung der Bettruhe versteht, wird man insbesondere dem Hilfebedarf geistig Behinderter gerecht. Wie oben schon zur Verrichtung "Gehen” ausgeführt, ergibt sich aus den Materialien zum Pflegeversicherungsgesetz, insbesondere dem Fallbeispiel des an Morbus Alzheimer Erkrankten zur Auslegung des Begriffs der Rund-um-die-Uhr-Pflege der Pflegestufe III BT-Drucksache 12/5262, a.a.O., S. 98, daß der Gesetzgeber den besonderen Bedarf geistig Behinderter erkannt hat und in jedem Fall eine weite Auslegung der in § 14 Abs. 4 genannten Verrichtungen gewollt ist (siehe zur Auslegung dieser Verrichtung auch Wilde/Pilz, a.a.O., Seite 411). Der Senat hält im streitigen Zeitraum die Berücksichtigung eines durchschnittlichen täglichen Zeitaufwandes für die Verrichtung Zu-Bett-Gehen von 38 Minuten mindestens für angemessen.
Die Klägerin bedarf bzw. bedurfte im streitigen Zeitraum im Sinne von § 15 Abs. 1 Nr. 3 SGB XI "rund um die Uhr, auch nachts” der Hilfe. In § 15 Abs. 1 Nr. 3 SGB XI ist nicht definiert, wann die Voraussetzung "auch nachts” erfüllt ist. In den Materialien heißt es dazu zur Pflegestufe III (siehe BT-Drucksache 12/5262, S. 98, zu Nr. 3 zu § 13 des Entwurfs) "der Hilfebedarf besteht regelmäßig auch in der Nacht. Die Zuordnung erfolgt auch dann, wenn eine ununterbrochene Bereitschaft der Pflegeperson zur Hilfeleistung erforderlich ist. Der Pflegebedürftige kann nicht allein gelassen werden. Bei psychisch Kranken, dementen und hirnverletzten Menschen sind die Voraussetzungen dann erfüllt, wenn der Bedarf an Beaufsichtigung oder Anleitung so groß ist, daß der Pflegebedürftige rund um die Uhr, d.h. auch in der Nacht, beaufsichtigt oder angeleitet werden muß”. Wie oben schon ausgeführt, hatte die Klägerin regelmäßig im streitigen Zeitraum nachts Hilfebedarf bei der Verrichtung "Zu-Bett-Gehen” in dem Sinne, daß nur durch ein Beruhigen der Mutter die Nachtruhe aufrecht erhalten bzw. überhaupt gewährleistet werden konnte. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob der Hilfebedarf notwendig ist, weil der Pflegebedürftige im Bett unruhig ist und deswegen immer wieder aufsteht, oder sich wie die Klägerin in einem Gitterbett befindet und nicht aufstehen kann, aber dort derart verhält, daß sie selbst nicht zum Schlafen kommen kann. Aus den Angaben in dem Gutachten von Frau Dr. M.-S. insbesondere den Angaben der Mutter der Klägerin im Termin am 19. Februar 1998 kann man schließen, daß das im Juli 1996 angeschaffte Spezialgitterbett keine – positive – Veränderung des nächtlichen Verhaltens der Klägerin gebracht hat. Das nächtliche Verhalten der Klägerin erforderte in dem streitigen Zeitraum regelmäßige Hilfeleistungen der Mutter durch Beruhigen. Hinzu kommen nach den Angaben der Mutter der Klägerin im Termin am 19. Februar 1998 nächtliche Hilfeleistungen im Bereich der Grundpflege durch Windelwechsel, wenn die Klägerin wach ist.
Der Zeitaufwand für die vorliegend erforderlichen Leistungen der Grundpflege erfüllt den zeitlichen Mindestaufwand der Grundpflege, der nach § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI für eine Zuordnung in Pflegestufe III erforderlich ist. Der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind – und nur dieser ist nach § 15 Abs. 2 SGB XI für die Zuordnung maßgeblich – beträgt im Rahmen der Grundpflege mindestens 4 Stunden (240 Minuten). Die Begutachtungsanleitung (siehe dort nach 5.4) sowie die Begutachtungsrichtlinien (siehe dort 7.) enthalten standardisierte Erfahrungswerte (Tabellen) für Kinder bis zu 12 Jahren; diese nennen das jeweilige Alter, von dem an "erfahrungsgemäß fast alle der altersentsprechend entwickelten und gesunden Kinder” die jeweiligen Verrichtungen beherrschen. Für ein gesundes Kind im Alter der Klägerin – diese war im streitigen Zeitraum 3 (fast 4) bis 6 Jahre alt – sehen die Tabellen insgesamt einen Hilfebedarf täglich in den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität (dies umfaßt auch das "Beruhigen”) von 2,5 bis 1,75 Stunden vor. Der Senat hält diese Tabellenwerte für zutreffend. Nach Abzug der damit für ein gesundes Kind – höchstens – anzusetzenden 150 Minuten von dem im streitigen Zeitraum konkret anfallenden Gesamtbedarf an Pflegezeit im Bereich der Grundpflege von mindestens 437 Minuten (bis etwa Mitte 1996) bzw. 480 Minuten (ab Mitte 1996 bis zum Umzug) ergibt sich ein zusätzlicher Hilfebedarf von 287 bzw. 330 Minuten täglich im streitigen Zeitraum. Nach dem Umzug der Familie am 14. August 1997 ergeben sich noch höhere Werte, da die die Pflege erschwerende veränderte Wohnsituation ("Treppensteigen”) zu berücksichtigen ist.
Auch im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI; § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI) ist bei der Klägerin gegenüber einem gesunden im streitigen Zeitraum gleichaltrigen Kind ein zusätzlicher Hilfebedarf von mindestens 60 Minuten täglich erforderlich. Der behinderungsbedingte Pflegemehraufwand ergibt sich dadurch, daß die Wäsche und Kleidung der Klägerin, die sich nicht sauber halten kann und (seit 1996) ihre Windeln aufreißt, besonders häufig gewechselt und gewaschen werden muß. Die Mutter der Klägerin hat im Termin am 19. Februar 1998 zudem glaubhaft angegeben, das Bettlaken der Klägerin sei öfters naß und müsse nachts ausgewechselt werden, da sich aufgrund des Schlafens der Klägerin mit offenem Mund ein großer Speichelfluß bilde. Die Mund- und Gaumenform der Klägerin sowie der Speichelfluß werden unter anderem auch in dem Arztbrief von Prof. Dr. A., Chefarzt der Kinderklinik der in an Dr. A. vom 2. Januar 1992 beschrieben, der sich in der vom Senat beigezogenen Krankenakte des Kinderneurologischen Zentrums des Landes befindet.
Soweit die Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung beantragt hat, "Frau Dr. M.-S. dazu zu hören, wie der Pflegebedarf in der Vergangenheit nach ihrer Auffassung einzuschätzen ist,” mußte der Senat dem nicht entsprechen. Der gestellte "Hilfsantrag” bezog sich ersichtlich allein auf eine noch vorzunehmende Festlegung des im streitigen Zeitraum noch offenen Pflegebedarfs und Zeitaufwandes, was in der mündlichen Verhandlung (kontrovers) unter Einbeziehung der Prozeßbeteiligten erörtert worden ist. Eine Beweisaufnahme war schon deshalb nicht erforderlich, weil der Senat – wie, bereits oben erwähnt – auf der Grundlage des von Frau Dr. M.-S. erstellten Gutachtens vom 17. Dezember 1997 (vgl. zu dieser Verfahrensweise BGH NJW 1993, S. 2382 f.) ohne Rechtsfehler in eigener Einschätzung zu einer "zuverlässigen Beantwortung der Beweisfrage gelangen konnte”.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird zugelassen, da die hier angesprochenen Rechtsfragen, insbesondere die Auslegung der in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen bei geistigen Behinderungen nicht geklärt und von grundsätzlicher Bedeutung ist (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
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