L 9 U 853/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 2064/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 853/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 8. November 2005 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob sich die Unfallfolgen beim Kläger wesentlich verschlimmert haben.

Der 1950 geborene Kläger erlitt am 19.6.1970 auf dem Weg von seiner Wohnung zur Arbeit einen Arbeitsunfall, als er mit seinem PKW von der Fahrbahn abkam und gegen eine Hauswand prallte. Hierbei zog er sich multiple Schnittverletzungen im Gesicht, insbesondere im Bereich der Augen, zu.

Mit Bescheid vom 21.12.1970 gewährte die Beklagte dem Kläger ab 28.9.1970 eine vorläufige Rente nach einer MdE um 20 vH.

Zur Feststellung der Dauerrente ließ die Beklagte den Kläger vom Augenarzt Dr. Gottesleben gutachterlich untersuchen. Dieser stellte beim Kläger im Gutachten vom 23.2.1972 folgende Unfallfolgen fest: "Rechtes Auge Hornhautnarbe nach perforierender Verletzung, Defekt der Regenbogenhaut, Linsenlosigkeit, Auswärtsschielen, mangelhaftes stereoskopisches Sehen, erhebliche Herabsetzung der Sehschärfe". Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte er auf 20 vH.

Dementsprechend gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 10.3.1972 dem Kläger ab 1.4.1972 anstelle der bisher gewährten vorläufigen Rente eine Dauerrente nach einer MdE um 20 vH.

Am 25.7.2003 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag, da sich der Zustand am rechten Auge, insbesondere die Schielstellung sowie der Augendruck, verschlechtert hätten.

Die Beklagte ließ den Kläger von Privatdozent Dr. S. Augenklinik am Klinikum O., gutachterlich untersuchen. Dieser führte im Gutachten vom 15.12.2003 aus, beim Kläger sei eine Verschlechterung eingetreten. Die Sehkraftminderung betrage 1/30 Metervisus; das Außenschielen habe zugenommen. Die MdE betrage 25% und errechne sich nur aus der Fehlsichtigkeit des Klägers. Die Entstellung habe hierauf keinen Einfluss.

Mit Bescheid vom 20.1.2004 lehnte die Beklagte eine Rentenerhöhung ab, weil sich die Verhältnisse nicht wesentlich geändert hätten.

Hiergegen legte der Kläger am 11.2.2004 Widerspruch ein und machte geltend, wegen Problemen mit dem Augendruck und rezidivierender Entzündungen müsse er vierteljährlich den Augenarzt aufsuchen. Durch das Außenschielen und die verzogene Pupille sei er beeinträchtigt. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.5.2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen erhob der Kläger am 16.6.2004 Klage zum Sozialgericht (SG) Freiburg, mit der er die Gewährung einer Rente nach einer MdE um mindestens 30 vH weiter verfolgte. Das SG beauftragte Professor Dr. F., Universitäts-Augenklinik Freiburg, mit der Erstattung eines Gutachtens. In dem zusammen mit Professor Dr. R. erstatteten Gutachten vom 6.12.2004 nebst ergänzender Stellungnahme vom 13.1.2005 führte er aus, seit dem Gutachten von Dr. G. vom 23.2.1972 habe sich die Sehschärfe am rechten Auge des Klägers weiter verschlechtert. Außerdem habe sich das Auswärtsschielen so entwickelt, dass es entstellend wirke. Am rechten Auge des Klägers fänden sich nunmehr folgende Veränderungen: 1. Herabsetzung der Sehschärfe auf 1/50 2. Erhöhter intraocularer Augendruck 3. Hornhaut- und Bindehautnarben, Pupillenverziehung, Linsenlosigkeit 4. Sekundäres Außenschielen 5. Gesichtsfeldsausfall 6. Vermehrte Blendempfindlichkeit. Er schätze die MdE auf 30 vH. Die Änderung liege seit der letzten gutachterlichen Untersuchung vom 6.12.2004 vor.

Der behandelnde Augenarzt des Klägers Dr. H. erklärte unter dem 28.2.2005, er behandle den Kläger seit Mai 1989. Seit wann die Sehschärfe des rechten Auges auf 1/50 herabgesetzt sei und der Schielwinkel zugenommen habe, könne er nicht sagen, da dies für die Behandlung des Klägers nicht maßgeblich sei. Die beim Kläger bestehende funktionelle Einäugigkeit, das entstellte verletzte Auge und ein großer, auch dem Laien sofort auffallender Schielwinkel habe seines Erachtens schon seit der Erstuntersuchung am 16.5.1989 eine MdE um 30% bedingt.

Die Beklagte legte eine Stellungnahme von Dr. Wilms vom 5.4.2005 vor, der ausführte, Dr. S. habe beim Kläger eine Sehschärfe ohne Korrektur von 1/40, mit Korrektur (10,75 Dptr.sph) 1/30 festgestellt, während Professor Dr. R. von einer Sehschärfe von 1/50 ausgehe. Die Ergebnisse der Sehkraftprüfung könnten nicht gewertet werden, da dem Gutachter ein erheblicher Fehler unterlaufen sei. Er gehe nämlich nicht darauf ein, wieso bei einem linsenlosen Auge eine Korrektur von - 0,5 Dptr.sph zur Erreichung der optimalen Sehschärfe ausreiche. Eine wesentliche Verschlimmerung, d. h. eine Erhöhung der MdE um 10 vH, sei nicht eingetreten. Zwar sei es zu einer geringgradigen Sehverschlechterung gekommen. Die sogenannte nicht korrigierte Linsenlosigkeit eines Auges - funktionelle Einäugigkeit - sei mit einer MdE um 25 vH zu bewerten. Die Zunahme des Außenschielens habe auf die MdE-Einschätzung keinen Einfluss.

Mit Urteil vom 8.11.2005 hob das SG den Bescheid der Beklagten vom 20.1.2004 i. d. F. des Widerspruchsbescheids vom 19.5.2004 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger auf Grund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 19.6.1970 eine Rente nach einer MdE um 30 vH vom 1.12.2004 an bis auf weiteres zu gewähren. Im übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, das SG sei zur Überzeugung gelangt, dass die durch die Folgen des Unfalls bedingte MdE jedenfalls seit der gutachterlichen Untersuchung am 11.11.2004 30 vH betrage. Ausgehend von einer Sehschärfe rechts von 1/40 oder schlechter und einer beidäugigen Sehschärfe von 0,8 bzw. 1,0 ergebe sich nach der einschlägigen Sehschärfentabelle bereits eine MdE um 30 vH. Eine MdE um 25 vH bei funktioneller Einäugigkeit gelte lediglich für den Fall des uneingeschränkten Sehvermögens auf dem zweiten Auge. Die optische Wirkung des Schielens erachte das SG als beeinträchtigend im Erwerbsleben und halte die MdE-Einschätzung des Sachverständigen mit 30 vH für durchaus plausibel.

Gegen das am 13.2.2006 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21.2.2006 unter Vorlage einer weiteren Stellungnahme von Dr. W. vom 24.2.2006 Berufung eingelegt und vorgetragen, während Dr. S. für das linke Auge eine Sehleistung von 1,0 ohne Korrektur angebe, gebe Professor Dr. R. eine Sehleistung von 0,63 an. Die reduzierte Sehleistung des linken Auges werde nicht erklärt, sodass diese nicht eine höhere MdE rechtfertige. Eine nach dem Unfall am linken Auge unfallunabhängig eingetretene Verschlimmerung sei als Nachschaden bei der Bewertung der MdE nicht zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 8. November 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen

Er erwidert, das Urteil des SG sei zutreffend. Das Gutachten von Professor Dr. R. stehe nicht im Widerspruch zum Gutachten von Dr. S ... Vielmehr belege es eine Verschlechterung der Sehkraft am linken Auge, zumal die Erstuntersuchung am 18.11.2003 und die zweite am 11.11.2004 stattgefunden habe. Unzutreffend sei auch, dass die Verschlechterung am linken Auge - als sogenannter Nachschaden - nicht zu berücksichtigen sei. Professor Dr. R. weise daraufhin, dass alle Abweichungen vom Normalen unfallbedingt seien. Unabhängig davon sei auf Grund der funktionellen Einäugigkeit und der Entstellung auf Grund der optischen Wirkung des Schielens eine MdE um 30 vH gerechtfertigt.

Der Senat hat Dr. H. schriftlich als sachverständige Zeugen zu der Sehschärfe des Klägers am linken Auge gehört (Auskunft vom 27.7.2006) und ein augenärztliches Gutachten eingeholt.

Der Augenarzt Dr. H. hat im Gutachten vom 6.4.2007 beim Kläger folgende unfallbedingten Veränderungen festgestellt: • Zustand nach perforierender Verletzung am rechten Auge • Herabsetzung der Sehschärfe auf unter 1/50 rechts • Sekundärer Strabismus divergens am rechten Auge • Hornhautnarben am rechten Auge, Bindehautnarben, Pupillenverziehung, Aphakie am rechten Auge • Sekundärglaukom am rechten Auge • Gesichtsfelddefekt • Hornhautnarben am linken Auge nach nicht perforierender Hornhautverletzung • Erhöhte Blendempfindlichkeit • Fehlendes Stereosehen. Die Änderung bestehe in der Herabsetzung der Sehschärfe von früher 0,2 auf nunmehr 1/50 (Gutachten Professor Dr. R.) bzw. auf weniger als 1/50 (Untersuchungszeitpunkt 14.3.2007). Die sekundäre Auswärtsschielstellung des rechten Auges habe sich deutlich verstärkt. Außerdem habe sich seit der Begutachtung im Jahr 1972 ein Sekundärglaukom entwickelt, welches die jetzt nachweisbare Gesichtsfeldseinschränkung erklären könne. Er gehe davon aus, dass die Änderung seit Juli 2003 bestehe. Seines Erachtens sei eine MdE um 30 vH gerechtfertigt, wobei neben der funktionellen Einäugigkeit, die schon allein eine MdE um 25 vH bedinge, die ausgeprägte sekundäre Schielstellung, die auch seines Erachtens entstellend wirke, sowie die immer wieder auftretenden Entzündungen zu berücksichtigen seien.

Die Beklagte hat eine erneute Stellungnahme von Dr. W. vom 6.6.2007 vorgelegt, der u. a. ausführt, die funktionelle Einäugigkeit sei mit 25 vH einzuschätzen. Ob durch eine weitere Sehleistungsreduktion des linken Auges eine weitere Erhöhung auf 30 vH in Frage komme, lasse sich - auf Grund des nicht verwertbaren Gutachtens - nicht klären. Die Meinung, dass es sich auf Grund des Schielwinkels um eine Entstellung handle, die eine Erhöhung auf 30 vH rechtfertige, sei eine rein subjektive Entscheidung.

Hierzu hat Dr. H. eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme vom 16.7.2007 abgegeben.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung der Beklagten ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und entschieden, dass dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 19.6.1970 eine Rente nach einer MdE um 30 vH ab 1.12.2004 zusteht.

Rechtsgrundlage für die Neufeststellung der Rente ist § 48 Sozialgesetzbuch (SGB) X. Nach dieser Vorschrift ist ein Anspruch auf Rente neu festzustellen, wenn in den für seine letzte Feststellungen maßgebend gewesenen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Eine solche liegt bei der Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit vor, wenn sie mehr als 5 vom Hundert beträgt und sie - bei Rente auf unbestimmte Zeit - länger als drei Monate andauert (§ 73 Abs. 3 SGB VII). Ob eine wesentliche Änderung vorliegt, ist durch einen Vergleich der für die letzte Feststellung maßgebenden Verhältnisse mit denjenigen zu ermitteln, die bei der Prüfung der Neufeststellung vorliegen. Die wesentliche Änderung muss mit Wahrscheinlichkeit auf den erlittenen Arbeitsunfall wesentlich zurückzuführen sein und darf nicht durch andere, vom Arbeitsunfall unabhängige Umstände verursacht worden sein. Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit reicht nicht (ständige Rechtsprechung BSGE 19, 52; BSG SozR 4-2700 § 8 Nr. 17).

Im Vergleich zu den von Dr. G. im Gutachten vom 23.2.1972 erhobenen Befunden ist eine wesentliche Änderung im Sinne einer Verschlimmerung eingetreten. Die Sehschärfe von damals 0,2 ist nunmehr auf 1/50 (Gutachten Professor Dr. R.) bzw. auf weniger als 1/50 (Gutachten Dr. H.) herabgesunken. Unstreitig ist, dass beim Kläger eine funktionelle Einäugigkeit besteht, die für sich allein eine MdE um 25 vH bedingt. Ferner liegt nunmehr ein Sekundärglaukom vor, welches die nunmehr vorliegende Gesichtsfeldseinschränkung erklären kann. Zusätzlich zu berücksichtigen sind auch die ausgeprägte Schielstellung, die entstellend wirkt, sowie die immer wieder auftretenden Entzündungen. Dies führt zu einer Änderung der MdE um mehr als 5 vH, sodass dem Kläger eine Rente nach einer MdE um 30 vH zusteht. Der Senat schließt sich damit den übereinstimmenden Beurteilungen von Dr. H. sowie der Gerichtssachverständigen Professor Dr. R. und Dr. H. an.

Den hiervon abweichenden Beurteilungen von Dr. S. und Dr. W. folgt der Senat nicht, zumal sie bei der MdE-Bewertung nicht die entstellende Wirkung der Schielstellung und die rezidivierenden Entzündungen sowie die Gesichtsfeldseinschränkung berücksichtigt haben.

Da auf Grund der oben beschriebenen Veränderungen eine unfallbedingte MdE um 30 vH erreicht wird, lässt der Senat dahingestellt, ob eine (nicht unfallbedingte) Verschlechterung des linken Auges als sogenannter Nachschaden (BSG SozR Nr. 15 zu § 30 BVG) unberücksichtigt zu bleiben hat oder ob von einem Nachschaden nur dann die Rede sein kann, wenn es an dem nicht verletzten Auge zu einem Unfall bzw. Schaden gekommen ist und nicht schon dann, wenn es sich um eine altersübliche Abnahme des Sehvermögens handelt.

Nach alledem war das angefochtene Urteil des SG nicht zu beanstanden. Die Berufung der Beklagten musste deswegen zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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