Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 1 J 186/83
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 13/11 J 8/85
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Durch das Potsdamer Abkommen wurde den in den früheren deutschen Ostgebieten verbliebenen deutschen Volkszugehörigen kein subjektives Recht auf Ausreise eingeräumt. Das Potsdamer Abkommen kann deshalb bei einem deutschen Volkszugehörigen, der sich seit seiner Volljährigkeit bei den polnischen Behörden mehrere Jahre vergeblich um eine Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bemüht hat, nicht die Annahme einer „feindlichen Maßnahme” i.S.v. § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO begründen.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 23. November 1984 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger ein Fünftel der außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Vormerkung der Zeit vom 16. Oktober 1960 bis zum 31. März 1966 als Ersatzzeit.
Der Kläger ist 1938 in K./O. geboren. Er ist deutscher Staatsangehöriger. Am 4. April 1966 siedelte der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland um. Er ist Inhaber des Vertriebenenausweises "A.”.
Vor seiner Umsiedlung war der Kläger – dessen Familie nach Kriegsende nicht aus O. vertrieben worden war – nach seinen Angaben in dem seinem Vater H. bzw. seinen Schwestern E. und O. F. gehörenden landwirtschaftlichen Betrieb tätig. Er war während dieser Tätigkeit nicht in das System der polnischen Rentenversicherung einbezogen. Zwischen dem 7. November 1958 und dem 15. Oktober 1960 leistete der Kläger seinen polnischen Militärdienst ab.
Im Januar 1980 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Feststellung seines Versicherungsverlaufs in der Bundesrepublik Deutschland und die Anerkennung von Versicherungszeiten aus der Zeit vor seiner Umsiedlung. Durch Bescheid vom 30. September 1982 wurde der Versicherungsverlauf des Klägers festgestellt und der Zeitraum vom 4. April 1966 bis zum 30. April 1966 als Ersatzzeit (Vertreibungszeit) vorgemerkt. Durch den im vorliegenden Verfahren an 25. September 1985 abgeschlossenen Teilvergleich wurde aus der Zeit vor der Umsiedlung des Klägers der Zeitraum der Ableistung des polnischen Militärdienstes vom 7. November 1958 bis zum 15. Oktober 1960 als Beschäftigungszeit anerkannt. Die vom Kläger beanspruchte Anerkennung weiterer Versicherungszeiten aus der Zeit vor der Umsiedlung wurde durch den Bescheid vom 30. September 1982 abgelehnt. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 19. April 1983 mit der Begründung zurückgewiesen, die Voraussetzungen für eine Anerkennung weiterer Versicherungszeiten seien weder nach dem deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen noch nach der Bestimmungen des Fremdrentengesetzes als erfüllt anzusehen.
Die am 19. Mai 1983 dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht Darmstadt durch Urteil vom 23. November 1984 abgewiesen. Hinsichtlich der vom Kläger beanspruchten Vormerkung der Zeit bis März 1966 als Ersatzzeit hat das Sozialgericht – nach Einvernahme der Geschwister E., O. und Dr. E. F. über die Ausreisebemühungen des Klägers sowie der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage, ob der Kläger durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr gehindert gewesen sei – den Rückkehrwillen des Klägers als glaubhaft gemacht angesehen. Vom Sozialgericht wurde angenommen, dies reiche indes für die Feststellung einer Ersatzzeit nicht aus. Von einer feindlichen Maßnahme im Sinne von § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) könne hinsichtlich der Behinderung der Ausreise des Klägers nicht gesprochen werden, weil in Polen während der streitigen Zeit als Verwaltungspraxis ein generelles Ausreiseverbot bestanden habe, das gegen alle Bevölkerungsgruppen Polens gerichtet gewesen sei. Das Verbleiben des Klägers sei deshalb nicht auf feindliche Maßnahmen zurückzuführen gewesen.
Gegen das am 6. Dezember 1984 zur Post aufgelieferte Urteil richtet sich die am 3. Januar 1985 eingegangene Berufung. Der Kläger trägt vor, seine Familie habe sich bereits seit 1953 um die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bemüht. Bis 1966 sei die Ausreise von den polnischen Behörden jedoch verzögert worden. Auch Vorsprachen bei der amerikanischen Botschaft seien ergebnislos geblieben. Beistandsersuchen an das Deutsche Rote Kreuz seien von den polnischen Behörden abgefangen worden. Erst am 4. April 1966 sei schließlich die Ausreise – unter Hinterlassung sämtlichen Besitzes – möglich geworden. In dieser Verzögerung liege seitens des polnischen Staates eine feindliche Maßnahme, die die Vormerkung einer Ersatzzeit jedenfalls für die Zeit nach erfolgter Ableistung des polnischer Wehrdienstes rechtfertige.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 23. November 1984 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 30. September 1982 und des Widerspruchsbescheids vom 19. April 1983 zu verurteilen, die Zeit vom 16. Oktober 1960 bis zum 31. März 1966 als Ersatzzeit vorzumerken.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend. Da das Ausreiseverbot die gesamte Bevölkerung in der Volksrepublik Polen betroffen habe, lasse sich aus der Hinderung der Ausreise im Falle des Klägers kein Ersatzzeittatbestand ableiten.
Der Senat hat das Gutachten des Privatdozenten Dr. R. (Osteuropa – Institut M. vom 1. März 1976, das in dem vor dem Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen geführten Rechtsstreit L-3/An-29/72 erstattet worden ist, beigezogen. Dr. R. weist in seinem Anschreiben an das Gericht vom 16. Oktober 1985 darauf hin, daß die Fragestellung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen sich allein auf die Ausreisemöglichkeit aus Polen bezogen habe. Die Praxis gebe indes Anlaß, ergänzend darauf hinzuweisen, daß die Zurückhaltung der Volksdeutschen in Polen 1945 bis 1955 nicht rechtens gewesen sei, denn nach den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens vom 8. August 1945 seien alle Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei auszusiedeln gewesen. Die Zurückhaltung der Deutschen stelle also eine Verletzung des auch seitens des polnischen Staates anerkannten Potsdamer Abkommens dar und damit einen Verstoß gegen internationales Recht.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vertrags der Beteiligten wird im übrigen Bezug genommen auf den gesamten weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogene Versichertenakte der Beklagten (Versicherungsnummer: ) und die weiterhin beigezogene Entschädigungsakte des Ausgleichsamtes der Staat Darmstadt (Az.: ).
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –): Berufungsausschließungsgründe nach §§ 144 ff. SGG liegen nicht vor.
In der Sache ist die Berufung, soweit vom Kläger Ansprüche über den am 25. September 1985 abgeschlossenen Teilvergleich hinaus geltend gemacht werden, jedoch unbegründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Vormerkung der Zeit nach Ableistung des polnischen Militärdienstes bis zu seiner Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland als Ersatzzeit zu.
Für die Erfüllung der Wartezeit in der gesetzlichen Rentenversicherung werden nach der – vorliegend allein in Betracht kommenden – Bestimmung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO solche Zeiten als Ersatzzeiten angerechnet, in denen der Versicherte während oder nach Beendigung eines Krieges ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland oder aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen oder dort festgehalten werden ist.
Zu Recht hat das Sozialgericht das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint.
Zwar kann davon abgegangen werden, daß sich den Kläger jedenfalls bereits ab 1956/1957 um eine Ausreise nach der Bundesrepublik Deutschland bemüht hat. Insbesondere kann dies der Aussage seines Bruders Dr. E. F. vom 26. April 1984 entnommen werden. Denn der Zeuge bekundete ab diesem Zeitpunkt die wiederholte Antragstellung durch den Kläger bei den zuständigen polnischen Behörden um die Erteilung einer entsprechenden Ausreisegenehmigung. Ob sich der Kläger bereits früher um eine solche Ausreise bemüht hatte – seine Schwester O. spricht in ihrer Aussage vom 7. Oktober 1984 allgemein von den "fünfziger Jahren” kann insoweit dahinstehen. Denn selbst wenn das Verbleiben des Klägers vor 1956 im heutigen Staatsgebiet der Volksrepublik Polen "freiwillig” gewesen, der Kläger also bis zu diesem Zeitpunkt nicht an einer Ausreise gehindert worden wäre, hindert dies die Annahme eines Ersatzzeittatbestandes nicht. Denn erst seit dem Erreichen der Volljährigkeit stand dem Kläger ein eigenständiges Aufenthaltsbestimmungsrecht zu. Frühestens zu dem Zeitpunkt, zu dem der Kläger über dieses Recht verfügte, konnte von ihm, um die Annahme eines freiwilligen Verbleibs zu entkräften, erwartet werden, daß er sich um eine Umsiedlung bemühte. Das aber hat der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch getan.
Daß sich der Kläger jedenfalls mit dem Erreichen der Volljährigkeit bis zu seiner tatsächlichen Ausreise im April 1966 erfolglos um eine Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland bemüht hat, rechtfertigt indes noch nicht die Annahme eines Ersatzzeittatbestandes. Denn vorliegend fehlt es an einer (auch) gegen den Kläger als deutschem Volkszugehörigen gerichteten "feindlichen Maßnahme”, durch die dessen Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland verhindert worden wäre.
Wann eine Rückkehrverhinderung bzw. ein Festgehaltenwerden im Sinne von § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO nach Beendigung des Krieges durch "feindliche Maßnahmen” verursacht worden ist, ist im Gesetz selbst nicht näher definiert. Auch eine zeitliche Begrenzung enthält § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO insoweit nicht. Dennoch kann den Begriff der feindlichen Maßnahme in seiner Anwendung auf Nachkriegsgeschehen nicht so verstanden werden, daß er alle Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates umfaßt, die im Ergebnis zu einer Einschränkung der Möglichkeit der Ausreise geführt haben (BSG Urteil vom 16. Dezember 1981 – 11 RA 82/80 = SozR 2200 § 1251 RVO Nr. 91 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat anschließt, muß es sich vielmehr um Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates handeln, die sich allgemein gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland gerichtet haben (BSG a.a.O.; BSG SozR 2200 § 1251 Nr. 7, Nr. 33 und Nr. 52; BSG Urteil vom 21. Februar 1985 – 11 RA 9/84). Hierunter fallen solche Maßnahmen, die allein oder hauptsächlich deutsche Bevölkerungsteile treffen oder gerade eine Ausreise nach Deutschland verhindern sollten (BSG a.a.O.).
Diejenigen Umstände, die bis 1966 eine Umsiedlung des Klägers in die Bundesrepublik Deutschland verhinderten, können nicht zu den feindlichen Maßnahmen des polnischen Staates im Sinne von § 1251 RVO gerechnet werden. Denn, wie das Sozialgericht – unter Berufung auf das Rechtsgutachten von Dr. G. vom Institut für Ostrecht – zu Recht ausgeführt hat, muß davon ausgegangen werden, daß in Polen, auch während des vorliegend streitigen Zeitraums, als Verwaltungspraxis und ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung ein Ausreiseverbot mit Genehmigungsvorbehalt bestanden hat, das sich auf die gesamte Bevölkerung – also auch Bevölkerungskreise nichtdeutscher, insbesondere auch polnischer Abstammung – bezogen hat. Noch deutlicher als im Rechtsgutachten von Dr. G. kommt dies in dem vom Senat beigezogenen Gutachten von Dr. R. vom 1. März 1976 zum Ausdruck, das Grundlage der Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Juni 1976 (L-3/An-29/72 = Breithaupt 1977, Seite 236 ff.) gewesen ist. Nach diesem Gutachten wurden gleichermaßen die Ausreiseersuchen der polnischen sowie auch der volksdeutschen Bevölkerung administrativ vereitelt, wenn es sich um arbeitsfähige Personen handelte. Daß – wie den Angaben in diesem Gutachten zu entnehmen ist – insbesondere ab 1956 die Zahl gerade auch der Volksdeutschen, denen eine Ausreise ermöglicht wurde, zugenommen hat – auch wenn dies insoweit, wie der Sachverständige ausführt, insbesondere bei der Auswahl der Antragsteller mit einer administrativen Willkür verbunden gewesen war – unterstreicht insoweit die Annahme, daß die deutschen Bevölkerungskreise jedenfalls nicht mehr von der Beschränkung der Ausreisemöglichkeit betroffen waren, als dies bei den übrigen Teilen der Bevölkerung der Fall gewesen ist.
Soweit Dr. G. in seinem Gutachten vom 3. September 1984 die Meinung vertritt, daß die von den polnischen Behörden nach 1945 durchgeführten "Verifizierungsverfahren”, jenen sich die Deutschen teils durch Zwang, teils aus Angst unterzogen hätten und in deren Folge ihre Eingliederung in den polnischen Staatenverband erfolgt war, als feindliche Maßnahmen nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO anzusehen seien, kann dieser Auffassung nicht gefolgt werden. Denn auch bei den solchermaßen zu polnischer Staatsbürgern gewordenen deutschen Volkszugehörigen ist hinsichtlich der Ausreisemöglichkeiten keine Situation eingetreten, die diese Ausreisemöglichkeit gegenüber der übrigen – polnischen und deutschen – Bevölkerung zusätzlich verschlechtert hätte.
Auch der Hinweis von Dr. R. in seinem Anschreiben an den Senat vom 16. Oktober 1985 auf die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, kann zu keinem anderen Ergebnis führen. Ziffer XIII der deutschen Fassung des Potsdamer Abkommens zwischen den Signatarstaaten Großbritannien, Sowjetunion und den Vereinigten Staaten vom 2. August 1945 (veröffentlicht u.a. bei Rauschning, "Die Gesamtverfassung Deutschlands”, 1962, Seite 95 ff.) – Ziffer XIII der deutschen Fassung entspricht inhaltlich der Ziffer XII der englischen Fassung – der allein im Sinne der Ausführungen von Dr. R. in Betracht gezogen werden kann, enthält erkennbar kein subjektives Recht der deutschen Bevölkerung auf "Ausreise”. Vielmehr ist in dieser Bestimmung des Potsdamer Abkommens, die mit "Ordnungsmäßige Überführung deutscher Bevölkerungsteile” (englische Fassung Orderly Transfer of German Population) überschrieben ist, lediglich eine Regelung des Vollzugs der zwangsweisen Umsiedlung u.a. aus den der polnischen Verwaltung übertragenen Gebieten enthalten, die – so den Text des Abkommens – in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen solle. Ein Ausreiserecht der deutschen Bevölkerung, zumal bezogen auf den vorliegend umstrittenen Zeitraum, der mehr als zwanzig Jahre nach Abschluß des Abkommens, oder jedenfalls – wenn man auf den Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit des Klägers abstellt – mehr als zehn Jahre nach seinen Unterzeichnung liegt, kann dem Abkommen noch nicht einmal andeutungsweise entnommen werden. Dahingestellt bleiben kann daher die Frage, inwieweit das Potsdamer Abkommen, sei es als völkerrechtlicher Vertrag oder aber als Regierungsvereinbarung anderer Art (vgl. dazu Hacker, Das Parlament 1970, Beilage 31, Seite 1) überhaupt subjektive Rechte der in Polen verbliebenen deutschen Bevölkerung begründen konnte.
Die Berufung des Klägers war nach alledem zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz. Dabei hat der Senat den Teilvergleich vom 25. September 1985 und die in erster Instanz weitergehenden Anträge des Klägers in die Kostenregelung einbezogen und die Übernahme eines Fünftels der außergerichtlichen Kosten durch die Beklagte als angemessen betrachtet.
Die Revision hat der Senat gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da er dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beimißt.
II. Die Beklagte hat dem Kläger ein Fünftel der außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Vormerkung der Zeit vom 16. Oktober 1960 bis zum 31. März 1966 als Ersatzzeit.
Der Kläger ist 1938 in K./O. geboren. Er ist deutscher Staatsangehöriger. Am 4. April 1966 siedelte der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland um. Er ist Inhaber des Vertriebenenausweises "A.”.
Vor seiner Umsiedlung war der Kläger – dessen Familie nach Kriegsende nicht aus O. vertrieben worden war – nach seinen Angaben in dem seinem Vater H. bzw. seinen Schwestern E. und O. F. gehörenden landwirtschaftlichen Betrieb tätig. Er war während dieser Tätigkeit nicht in das System der polnischen Rentenversicherung einbezogen. Zwischen dem 7. November 1958 und dem 15. Oktober 1960 leistete der Kläger seinen polnischen Militärdienst ab.
Im Januar 1980 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Feststellung seines Versicherungsverlaufs in der Bundesrepublik Deutschland und die Anerkennung von Versicherungszeiten aus der Zeit vor seiner Umsiedlung. Durch Bescheid vom 30. September 1982 wurde der Versicherungsverlauf des Klägers festgestellt und der Zeitraum vom 4. April 1966 bis zum 30. April 1966 als Ersatzzeit (Vertreibungszeit) vorgemerkt. Durch den im vorliegenden Verfahren an 25. September 1985 abgeschlossenen Teilvergleich wurde aus der Zeit vor der Umsiedlung des Klägers der Zeitraum der Ableistung des polnischen Militärdienstes vom 7. November 1958 bis zum 15. Oktober 1960 als Beschäftigungszeit anerkannt. Die vom Kläger beanspruchte Anerkennung weiterer Versicherungszeiten aus der Zeit vor der Umsiedlung wurde durch den Bescheid vom 30. September 1982 abgelehnt. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 19. April 1983 mit der Begründung zurückgewiesen, die Voraussetzungen für eine Anerkennung weiterer Versicherungszeiten seien weder nach dem deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen noch nach der Bestimmungen des Fremdrentengesetzes als erfüllt anzusehen.
Die am 19. Mai 1983 dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht Darmstadt durch Urteil vom 23. November 1984 abgewiesen. Hinsichtlich der vom Kläger beanspruchten Vormerkung der Zeit bis März 1966 als Ersatzzeit hat das Sozialgericht – nach Einvernahme der Geschwister E., O. und Dr. E. F. über die Ausreisebemühungen des Klägers sowie der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage, ob der Kläger durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr gehindert gewesen sei – den Rückkehrwillen des Klägers als glaubhaft gemacht angesehen. Vom Sozialgericht wurde angenommen, dies reiche indes für die Feststellung einer Ersatzzeit nicht aus. Von einer feindlichen Maßnahme im Sinne von § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) könne hinsichtlich der Behinderung der Ausreise des Klägers nicht gesprochen werden, weil in Polen während der streitigen Zeit als Verwaltungspraxis ein generelles Ausreiseverbot bestanden habe, das gegen alle Bevölkerungsgruppen Polens gerichtet gewesen sei. Das Verbleiben des Klägers sei deshalb nicht auf feindliche Maßnahmen zurückzuführen gewesen.
Gegen das am 6. Dezember 1984 zur Post aufgelieferte Urteil richtet sich die am 3. Januar 1985 eingegangene Berufung. Der Kläger trägt vor, seine Familie habe sich bereits seit 1953 um die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bemüht. Bis 1966 sei die Ausreise von den polnischen Behörden jedoch verzögert worden. Auch Vorsprachen bei der amerikanischen Botschaft seien ergebnislos geblieben. Beistandsersuchen an das Deutsche Rote Kreuz seien von den polnischen Behörden abgefangen worden. Erst am 4. April 1966 sei schließlich die Ausreise – unter Hinterlassung sämtlichen Besitzes – möglich geworden. In dieser Verzögerung liege seitens des polnischen Staates eine feindliche Maßnahme, die die Vormerkung einer Ersatzzeit jedenfalls für die Zeit nach erfolgter Ableistung des polnischer Wehrdienstes rechtfertige.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 23. November 1984 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 30. September 1982 und des Widerspruchsbescheids vom 19. April 1983 zu verurteilen, die Zeit vom 16. Oktober 1960 bis zum 31. März 1966 als Ersatzzeit vorzumerken.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend. Da das Ausreiseverbot die gesamte Bevölkerung in der Volksrepublik Polen betroffen habe, lasse sich aus der Hinderung der Ausreise im Falle des Klägers kein Ersatzzeittatbestand ableiten.
Der Senat hat das Gutachten des Privatdozenten Dr. R. (Osteuropa – Institut M. vom 1. März 1976, das in dem vor dem Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen geführten Rechtsstreit L-3/An-29/72 erstattet worden ist, beigezogen. Dr. R. weist in seinem Anschreiben an das Gericht vom 16. Oktober 1985 darauf hin, daß die Fragestellung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen sich allein auf die Ausreisemöglichkeit aus Polen bezogen habe. Die Praxis gebe indes Anlaß, ergänzend darauf hinzuweisen, daß die Zurückhaltung der Volksdeutschen in Polen 1945 bis 1955 nicht rechtens gewesen sei, denn nach den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens vom 8. August 1945 seien alle Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei auszusiedeln gewesen. Die Zurückhaltung der Deutschen stelle also eine Verletzung des auch seitens des polnischen Staates anerkannten Potsdamer Abkommens dar und damit einen Verstoß gegen internationales Recht.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vertrags der Beteiligten wird im übrigen Bezug genommen auf den gesamten weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogene Versichertenakte der Beklagten (Versicherungsnummer: ) und die weiterhin beigezogene Entschädigungsakte des Ausgleichsamtes der Staat Darmstadt (Az.: ).
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –): Berufungsausschließungsgründe nach §§ 144 ff. SGG liegen nicht vor.
In der Sache ist die Berufung, soweit vom Kläger Ansprüche über den am 25. September 1985 abgeschlossenen Teilvergleich hinaus geltend gemacht werden, jedoch unbegründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Vormerkung der Zeit nach Ableistung des polnischen Militärdienstes bis zu seiner Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland als Ersatzzeit zu.
Für die Erfüllung der Wartezeit in der gesetzlichen Rentenversicherung werden nach der – vorliegend allein in Betracht kommenden – Bestimmung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO solche Zeiten als Ersatzzeiten angerechnet, in denen der Versicherte während oder nach Beendigung eines Krieges ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland oder aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen oder dort festgehalten werden ist.
Zu Recht hat das Sozialgericht das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint.
Zwar kann davon abgegangen werden, daß sich den Kläger jedenfalls bereits ab 1956/1957 um eine Ausreise nach der Bundesrepublik Deutschland bemüht hat. Insbesondere kann dies der Aussage seines Bruders Dr. E. F. vom 26. April 1984 entnommen werden. Denn der Zeuge bekundete ab diesem Zeitpunkt die wiederholte Antragstellung durch den Kläger bei den zuständigen polnischen Behörden um die Erteilung einer entsprechenden Ausreisegenehmigung. Ob sich der Kläger bereits früher um eine solche Ausreise bemüht hatte – seine Schwester O. spricht in ihrer Aussage vom 7. Oktober 1984 allgemein von den "fünfziger Jahren” kann insoweit dahinstehen. Denn selbst wenn das Verbleiben des Klägers vor 1956 im heutigen Staatsgebiet der Volksrepublik Polen "freiwillig” gewesen, der Kläger also bis zu diesem Zeitpunkt nicht an einer Ausreise gehindert worden wäre, hindert dies die Annahme eines Ersatzzeittatbestandes nicht. Denn erst seit dem Erreichen der Volljährigkeit stand dem Kläger ein eigenständiges Aufenthaltsbestimmungsrecht zu. Frühestens zu dem Zeitpunkt, zu dem der Kläger über dieses Recht verfügte, konnte von ihm, um die Annahme eines freiwilligen Verbleibs zu entkräften, erwartet werden, daß er sich um eine Umsiedlung bemühte. Das aber hat der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch getan.
Daß sich der Kläger jedenfalls mit dem Erreichen der Volljährigkeit bis zu seiner tatsächlichen Ausreise im April 1966 erfolglos um eine Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland bemüht hat, rechtfertigt indes noch nicht die Annahme eines Ersatzzeittatbestandes. Denn vorliegend fehlt es an einer (auch) gegen den Kläger als deutschem Volkszugehörigen gerichteten "feindlichen Maßnahme”, durch die dessen Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland verhindert worden wäre.
Wann eine Rückkehrverhinderung bzw. ein Festgehaltenwerden im Sinne von § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO nach Beendigung des Krieges durch "feindliche Maßnahmen” verursacht worden ist, ist im Gesetz selbst nicht näher definiert. Auch eine zeitliche Begrenzung enthält § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO insoweit nicht. Dennoch kann den Begriff der feindlichen Maßnahme in seiner Anwendung auf Nachkriegsgeschehen nicht so verstanden werden, daß er alle Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates umfaßt, die im Ergebnis zu einer Einschränkung der Möglichkeit der Ausreise geführt haben (BSG Urteil vom 16. Dezember 1981 – 11 RA 82/80 = SozR 2200 § 1251 RVO Nr. 91 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat anschließt, muß es sich vielmehr um Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates handeln, die sich allgemein gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland gerichtet haben (BSG a.a.O.; BSG SozR 2200 § 1251 Nr. 7, Nr. 33 und Nr. 52; BSG Urteil vom 21. Februar 1985 – 11 RA 9/84). Hierunter fallen solche Maßnahmen, die allein oder hauptsächlich deutsche Bevölkerungsteile treffen oder gerade eine Ausreise nach Deutschland verhindern sollten (BSG a.a.O.).
Diejenigen Umstände, die bis 1966 eine Umsiedlung des Klägers in die Bundesrepublik Deutschland verhinderten, können nicht zu den feindlichen Maßnahmen des polnischen Staates im Sinne von § 1251 RVO gerechnet werden. Denn, wie das Sozialgericht – unter Berufung auf das Rechtsgutachten von Dr. G. vom Institut für Ostrecht – zu Recht ausgeführt hat, muß davon ausgegangen werden, daß in Polen, auch während des vorliegend streitigen Zeitraums, als Verwaltungspraxis und ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung ein Ausreiseverbot mit Genehmigungsvorbehalt bestanden hat, das sich auf die gesamte Bevölkerung – also auch Bevölkerungskreise nichtdeutscher, insbesondere auch polnischer Abstammung – bezogen hat. Noch deutlicher als im Rechtsgutachten von Dr. G. kommt dies in dem vom Senat beigezogenen Gutachten von Dr. R. vom 1. März 1976 zum Ausdruck, das Grundlage der Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Juni 1976 (L-3/An-29/72 = Breithaupt 1977, Seite 236 ff.) gewesen ist. Nach diesem Gutachten wurden gleichermaßen die Ausreiseersuchen der polnischen sowie auch der volksdeutschen Bevölkerung administrativ vereitelt, wenn es sich um arbeitsfähige Personen handelte. Daß – wie den Angaben in diesem Gutachten zu entnehmen ist – insbesondere ab 1956 die Zahl gerade auch der Volksdeutschen, denen eine Ausreise ermöglicht wurde, zugenommen hat – auch wenn dies insoweit, wie der Sachverständige ausführt, insbesondere bei der Auswahl der Antragsteller mit einer administrativen Willkür verbunden gewesen war – unterstreicht insoweit die Annahme, daß die deutschen Bevölkerungskreise jedenfalls nicht mehr von der Beschränkung der Ausreisemöglichkeit betroffen waren, als dies bei den übrigen Teilen der Bevölkerung der Fall gewesen ist.
Soweit Dr. G. in seinem Gutachten vom 3. September 1984 die Meinung vertritt, daß die von den polnischen Behörden nach 1945 durchgeführten "Verifizierungsverfahren”, jenen sich die Deutschen teils durch Zwang, teils aus Angst unterzogen hätten und in deren Folge ihre Eingliederung in den polnischen Staatenverband erfolgt war, als feindliche Maßnahmen nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO anzusehen seien, kann dieser Auffassung nicht gefolgt werden. Denn auch bei den solchermaßen zu polnischer Staatsbürgern gewordenen deutschen Volkszugehörigen ist hinsichtlich der Ausreisemöglichkeiten keine Situation eingetreten, die diese Ausreisemöglichkeit gegenüber der übrigen – polnischen und deutschen – Bevölkerung zusätzlich verschlechtert hätte.
Auch der Hinweis von Dr. R. in seinem Anschreiben an den Senat vom 16. Oktober 1985 auf die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, kann zu keinem anderen Ergebnis führen. Ziffer XIII der deutschen Fassung des Potsdamer Abkommens zwischen den Signatarstaaten Großbritannien, Sowjetunion und den Vereinigten Staaten vom 2. August 1945 (veröffentlicht u.a. bei Rauschning, "Die Gesamtverfassung Deutschlands”, 1962, Seite 95 ff.) – Ziffer XIII der deutschen Fassung entspricht inhaltlich der Ziffer XII der englischen Fassung – der allein im Sinne der Ausführungen von Dr. R. in Betracht gezogen werden kann, enthält erkennbar kein subjektives Recht der deutschen Bevölkerung auf "Ausreise”. Vielmehr ist in dieser Bestimmung des Potsdamer Abkommens, die mit "Ordnungsmäßige Überführung deutscher Bevölkerungsteile” (englische Fassung Orderly Transfer of German Population) überschrieben ist, lediglich eine Regelung des Vollzugs der zwangsweisen Umsiedlung u.a. aus den der polnischen Verwaltung übertragenen Gebieten enthalten, die – so den Text des Abkommens – in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen solle. Ein Ausreiserecht der deutschen Bevölkerung, zumal bezogen auf den vorliegend umstrittenen Zeitraum, der mehr als zwanzig Jahre nach Abschluß des Abkommens, oder jedenfalls – wenn man auf den Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit des Klägers abstellt – mehr als zehn Jahre nach seinen Unterzeichnung liegt, kann dem Abkommen noch nicht einmal andeutungsweise entnommen werden. Dahingestellt bleiben kann daher die Frage, inwieweit das Potsdamer Abkommen, sei es als völkerrechtlicher Vertrag oder aber als Regierungsvereinbarung anderer Art (vgl. dazu Hacker, Das Parlament 1970, Beilage 31, Seite 1) überhaupt subjektive Rechte der in Polen verbliebenen deutschen Bevölkerung begründen konnte.
Die Berufung des Klägers war nach alledem zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz. Dabei hat der Senat den Teilvergleich vom 25. September 1985 und die in erster Instanz weitergehenden Anträge des Klägers in die Kostenregelung einbezogen und die Übernahme eines Fünftels der außergerichtlichen Kosten durch die Beklagte als angemessen betrachtet.
Die Revision hat der Senat gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da er dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beimißt.
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