L 25 B 543/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 156 AS 4574/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 B 543/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Hat ein ALG-II-Leistungsträger aufgrund einer vollstreckbaren einstweiligen Anordnung eines Sozialgerichts den gesamten streitigen Zahlbetrag bereits ausgezahlt, so ist seine Beschwerde gegen die einstweilige Anordnung in der Regel unbegründet.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. Februar 2008 insoweit aufgehoben, als der Antragsgegner darin vorläufig verpflichtet worden ist, der Antragstellerin Leistungen vor dem Monat Februar 2008 zu gewähren. Die Beschwerde des Antragsgegners im Übrigen sowie die Anschlussbeschwerde der Antragstellerin insgesamt werden zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu einem Drittel zu erstatten.

Gründe:

1. Die Beschwerde des Antragsgegners ist in vollem Umfang zulässig gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist jedoch nur teilweise begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts war insoweit aufzuheben, als darin dem Antragsgegner eine Leistungsverpflichtung auch für die Zeit vor dem Monat Februar 2008 auferlegt worden ist. Sowohl im Rubrum des angefochtenen Beschlusses als auch auf Seite 7 des ausgefertigten Beschlusstextes findet sich übereinstimmend eine Verpflichtung des Antragsgegners bereits ab dem Monat Februar 2006. Diese Verpflichtung deckt sich indessen weder mit dem formulierten Antragsbegehren noch mit dem hier streitigen Bewilligungszeitraum, sie steht auch in Gegensatz zu den zutreffenden Datumsangaben auf den Seiten 4 und 5 des Beschlusstextes und beruht offenbar auf einem Versehen. Vor diesem Hintergrund bedurfte es zur Klarstellung der aus dem Tenor ersichtlichen teilweisen Beschlussaufhebung.

2. Im Übrigen jedoch, d. h. soweit die Leistungsgewährung in den Monaten Februar, März und April 2008 betroffen ist, war die Beschwerde des Antragsgegners zurückzuweisen, weil sie insoweit unbegründet ist.

a) Dies ergibt sich zum Einen daraus, dass das Sozialgericht zu Recht einen Anordnungsgrund sowie – gestützt auf die hier verfassungsrechtlich gebotene Folgenabwägung – jedenfalls für die Zeit ab dem 08. Februar 2008 auch zu Recht einen Anordnungsanspruch der Antragstellerin bejaht hat. Der Senat folgt den Gründen der angefochtenen Entscheidung und sieht diesbezüglich gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG von einer weiteren Darstellung der Gründe ab. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass in diesem Zusammenhang den Erfolgsaussichten des Rechtsschutzbegehrens der Antragstellerin für das Verfahren der Hauptsache keine ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Zwar beurteilt der Senat die Erfolgsaussichten des Verfahrens der Hauptsache so, dass derzeit ein Unterliegen der Antragstellerin als wahrscheinlicher erscheint als ihr Obsiegen, weil nach derzeitigem Stand der auch vom Sozialgericht berücksichtigten obergerichtlichen Rechtsprechung wenig dafür spricht, dass die Antragstellerin die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 5 Satz 2 Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) erfüllt und dass eine Ermessensausübung durch den Antragsgegner zu einer Leistungsgewährung führen wird oder gar führen muss. Andererseits jedoch ist die Rechtslage in Ermangelung höchstrichterlicher Rechtsprechung zu § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II derzeit noch als so weit offen anzusehen, dass vor dem Hintergrund der grundrechtlichen Bedeutung des Verfahrens die vom Sozialgericht vorgenommene Folgenabwägung durchzuführen war mit dem Ergebnis, dass nach derzeitiger vorläufiger Betrachtung den Interessen der Antragstellerin Vorrang vor den öffentlichen Interessen zu geben ist.

b) Zum Anderen ist die Beschwerde des Antragsgegners aber auch deswegen unbegründet, weil ihr im Hinblick auf den gesamten zugesprochenen Leistungszeitraum vom 01. Februar bis zum 30. April 2008 das für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erforderliche eilige Regelungsbedürfnis mittlerweile fehlt. Ebenso, wie der Senat in ständiger Rechtsprechung gesteigerte Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes auf Seiten der Antragsteller in Verfahren nach § 86b Abs. 2 SGG stellt und in aller Regel keine Leistungen für die Vergangenheit zuspricht, sind – spiegelbildlich – auch gesteigerte Anforderungen an das Vorliegen eines eiligen Regelungsbedürfnisses auf Seiten eines die Beschwerde führenden Antragsgegners zu stellen. Dies folgt aus der besonderen Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz und der darin enthaltenen Garantie effektiven Rechtsschutzes. Die Funktion dieses einstweiligen Rechtsschutzes besteht allein darin, in den Fällen für vorläufigen Rechtsschutz zu sorgen, in denen der – grundsätzlich vorrangige – Rechtsschutz des Verfahrens der Hauptsache zu spät käme oder aus anderen Gründen keinen ausreichenden, insbesondere keinen effektiven Rechtsschutz bieten kann. Daraus folgt, dass – sowohl für Antragsteller als auch für Antragsgegner – Rechtsbehelfe und Rechtsmittel des einstweiligen Rechtsschutzes dann keinen Erfolg haben können, wenn dem jeweils Rechtsschutz Suchenden das Zuwarten auf den Abschluss des Verfahrens in der Hauptsache zumutbar ist.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend für den Antragsgegner erfüllt, denn ihm ist nunmehr das Zuwarten auf den Abschluss des Verfahrens in der Hauptsache zumutbar. Dies folgt daraus, dass der Antragsgegner mit Bescheid vom 17. März 2008 den angefochtenen Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. Februar 2008 ausgeführt und offenbar für den gesamten Anordnungsszeitraum die vom Sozialgericht vorläufig zugesprochenen Leistungen auch tatsächlich ausgezahlt hat. Zur faktischen Ausführung des angefochtenen Beschlusses war der Antragsgegner auch verpflichtet, weil der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. Februar 2008 sofort vollstreckbar war und weil der Senat mit Beschluss vom 14. März 2008 in dem Verfahren L 25 AS 570/08 ER den Antrag des Antragsgegners, die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. Februar 2008 durch einstweilige Anordnung auszusetzen, abgelehnt hatte. Dies bedeutet jedoch zugleich, dass der Antragsgegner – selbst wenn er jetzt im Verfahren der Beschwerde erfolgreich wäre – allenfalls erreichen könnte, dass er möglicherweise die bereits an die Antragstellerin ausgezahlten Beträge zurückfordern könnte. Hierbei wäre er jedoch an alle Schuldnerschutzvorschriften gebunden, insbesondere auch an die Vorschriften über Pfändungsfreigrenzen und Einschränkungen der Verrechnungsmöglichkeiten. Angesichts der jedenfalls derzeit bestehenden Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin und der Tatsache, dass ohnehin nur eine gekürzte Regelleistung zur Auszahlung gelangte, ist nicht damit zu rechnen, dass der Antragsgegner innerhalb kurzer Frist in die Lage versetzt werden könnte, gegebenenfalls die ausgezahlten Geldbeträge von der Antragstellerin zurückzuerhalten. Vor diesem Hintergrund besteht nach den vorgenannten Maßstäben kein eiliges Regelungsbedürfnis mehr für den Antragsgegner bezogen auf die Durchführung des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes. Vielmehr ist dem Antragsgegner insoweit uneingeschränkt zumutbar, den Ausgang des Verfahrens der Hauptsache abzuwarten und dort nach einem etwaigen Obsiegen die mögliche Rückforderung ausgezahlter Beträge zu prüfen. Sollte im Übrigen zwischenzeitlich eine wesentliche Besserung der persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragstellerin erkennbar werden, steht dem Antragsgegner auch die Möglichkeit eines an das Sozialgericht Berlin zu richtenden Abänderungsantrages bezüglich des angefochtenen Beschlusses auch nach Eintritt von dessen Rechtskraft zur Verfügung.

3. Die Anschlussbeschwerde der Antragstellerin war ebenfalls zurückzuweisen. Zwar ist sie zulässig, weil der Antragstellerin im Hinblick auf den noch andauernden Bewilligungszeitraum, der erst am 30. April 2008 endet, ein Rechtsschutzbedürfnis auch für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zusteht und insoweit auch ein Anordnungsgrund angenommen werden kann. Jedoch hat die Antragstellerin den Anordnungsanspruch nicht glaubhaft machen können. Zu Recht hat das Sozialgericht Berlin in seiner angefochtenen Entscheidung die zugesprochene Regelleistung um 30 % gekürzt, weil der Zuspruch allein auf der Grundlage einer Folgenabwägung vor dem Hintergrund der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz erfolgte. Der Senat weist in diesem Zusammenhang wiederum darauf hin, dass ein Unterliegen der Antragstellerin im Verfahren der Hauptsache derzeit als wahrscheinlicher erscheint als ihr Obsiegen und dass auch vor diesem Hintergrund ein allein auf die Durchführung einer Folgenabwägung gestützter zusprechender Beschluss eines Gerichts ohne Weiteres berechtigt ist, die angefochtene 30%-ige Kürzung der Regelleistung vorzunehmen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht in etwa dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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