L 11 (10) KA 16/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 17 KA 226/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 (10) KA 16/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.03.2005 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Zuerkennung eines individuellen Punktzahlengrenzwerts.

Nach § 7 des Honorarverteilungsmaßstabs (HVM) der Beklagten in der ab 01.01.1994 geltenden Fassung waren bis zum Quartal III/1999 Kürzungen wegen übermäßiger Ausdehnung der Kassenpraxis bei Überschreitung von Punktzahlengrenzwerten vorgesehen. Die Fachgruppe der Nervenärzte war bis zum Quartal IV/1995 in 2 Gruppen mit Punktzahlengrenzwerten - Nervenärzte ohne bzw. mit CT - unterteilt; ab dem Quartal IV/1995 wurden 9 Untergruppen ausgewiesen. Nach § 7 Abs. 7 HVM konnte der Vorstand der Beklagten auf Antrag des Arztes nach Anhörung des HVM-Ausschusses Ausnahmen zulassen und einen von der Fachgruppe abweichenden, angemessenen individuellen Punktzahlengrenzwert festlegen, wenn der Vertragsarzt regelmäßig ein von der Fachgruppentypik wesentlich abweichendes Leistungsspektrum erbracht hat und hierdurch der Fachgruppengrenzwert überschritten wurde.

Die Klägerin, eine aus Ärzten für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie bestehende Gemeinschaftspraxis, beantragte unter dem 30.01.1995 - unter Bezugnahme auf einen früheren Antrag vom 10.03.1994 - die Festsetzung einer individuellen Punktzahlobergrenze mit dem Vorbringen, sie erbringe als fachgruppenuntypische Leistungen in dem Bereich der Neurophysiologie, Elektromyographie, Elektroneurographie, Elektroencephalographie, akustisch, visuell, somatosensibel, magnetisch evozierte Potentiale, Sympathtic Skin Response sowie ferner extra- und transkranielle Dopplersonographie, Frequenzspektrumanalyse, Neuroradiologie, Labordiagnostik, Zytologie, Liquordiagnostik, Elektronystagmographie, Infusionstherapie, Psychotherapie und psychologische Testdiagnostik.

Nach Anhörung des HVM-Ausschuss lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 27.11.1995, Widerspruchsbescheid vom 28.03.1996): Ein fachgruppenuntypisches Leistungsspektrum liege in Anlehnung an § 7 Abs. 6 HVM dann vor, wenn der Anteil der vom Arzt beantragten und vom Vorstand der Beklagten anerkannten Leistungsbesonderheiten gemessen an der Gesamtleistung in mindestens vier aufeinanderfolgenden Quartalen mehr als 50 % betrage. Dies werde durch Gegenüberstellung des Anteils der beantragten und anerkannten Leistungsbesonderheiten mit der in dem betreffenden Quartal abgerechneten Gesamtpunktzahl Vertragskassen ermittelt. Danach betrage der Anteil der von den Klägern beantragten Leistungsbesonderheiten - ungeachtet der Anerkennung als fachgruppenuntypisch - im I. Quartal 1994 48,65 %, im II. Quartal 1994 50,20 %, im III. Quartal 1994 48,95 %, im IV. Quartal 1994 49,86 % und im I. Quartal 1995 48,62 %. Unter Außerachtlassung der darin enthaltenen fachgruppentypischen Leistungen (wie z.B. Nr. 250, 271, 305 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM)) sowie der fachfremden Leistungen (wie z.B. Nr. 600 EBM) verringere sich der prozentuale Anteil weiter. Im Übrigen basiere die Überschreitung der Punktzahlengrenze im Wesentlichen auf der Ausweitung von fachgruppentypischen Leistungen (wie z.B. Nr. 802, 804, 820 und 847 EBM), die im Rahmen des § 7 Abs. 7 HVM keine Berücksichtigung finden könne.

Mit dagegen erhobener Klage hat die Klägerin u.a. vorgetragen, die Beklagte habe die Regelungen des § 7 Abs. 7 HVM fehlerhaft interpretiert; es werde nicht auf § 7 Abs. 6 HVM verwiesen, so dass für ein wesentlich abweichendes Leistungsspektrum kein Anteil von 50 % gefordert werden könne. Im Übrigen ergebe sich bei Berücksichtigung der Laborleistungen eine Überschreitung der 50 %-Grenze. Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die Beklagte zur Neubescheidung verurteilt (Urteil vom 26.06.1996 - S 2 Ka 67/96 -): Die Entscheidung der Beklagten sei insoweit rechtmäßig, als sie die Voraussetzungen des § 7 Abs. 7 HVM dann als erfüllt ansehe, wenn die 50%-Quote in mindestens vier aufeinanderfolgenden Quartalen überschritten werde. Rechtsfehler lägen jedoch vor, weil die Beklagte die Nichtberücksichtigung der als Besonderheit reklamierten Laborleistungen nicht begründet habe und auch ansonsten nicht ersichtlich sei, unter welchen Voraussetzungen sie Leistungsbesonderheiten annehme.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 03.02.2000 und Widerspruchsbescheid vom 06.09.200 erneut ab: Ein von der Fachgruppentypik wesentlich abweichendes Leistungsspektrum werde angenommen, wenn die beantragten und vom Vorstand anerkannten Leistungsbesonderheiten gemessen an der Gesamtleistung in mindestens 4 aufeinander folgenden Quartalen mehr als 50 % betrüge. Zur Ermittlung dieses Anteils werde auf die Untergruppe 1 der Fachgruppe 38 abgestellt. Davon ausgehend würden die EBM-Nrn. 271,305, 405, 600, 603, 604, 681, 682, 686, 803, 804, 810, 813, 840, 845, 846, 847, 855, 856, 857, 860, 865, 870, 890, 891, 892, 896, 897, 1228, 1585, 1586, 4855, 5010, 5011, 5012, 5015, 5020, 5023, 5030, 5032 sowie die Laborleistungen anerkannt; nicht anerkannt würden die EBM-Nrn. 272, 680, 802, 805, 809, 811, 812 und 841, weil sie jeweils über 4 aufeinanderfolgende Quartale von mindestens 50 % bis zu 94 % der Leistungserbringer in der Vergleichsgruppe erbracht worden seien. Zu Gunsten der Klägerin seien die Leistungen aus dem Kapitel G EBM eingeflossen, obwohl diese fachzugehörig seien. Nach alledem hätten die anerkannten Leistungen einen Anteil am Leistungsspektrum der Praxis von unter 25 %.

Mit ihrer Klage vom 11.10.2000 hat die Klägerin hat im Wesentlichen vorgetragen, bei der Ermittlung der fachgruppenuntypischen Leistungen sei die gesamte Fachgruppe 38 und nicht deren Untergruppe 1 zugrunde zu legen. Rechtswidrig sei auch die für Praxisbesonderheiten aufgestellte Forderung, das weniger als 50% der Ärzte der Fachgruppe diese Leistungen erbringen; dies führe dazu, dass bei einzelnen Untergruppen nie eine Erhöhung des individuellen Punktzahlengrenzwerts erfolgen könne. Im Übrigen sei auch der HVM-Ausschuss vor der Entscheidung der Beklagten nicht gehört worden.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 03.02.2000 und den Widerspruchsbescheid vom 06.09.2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, über ihren Antrag vom 30.01.1995 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat vorgetragen, dass sämtliche beantragten Leistungsbesonderheiten der Praxis nicht die geforderte 50 %-Grenze erreichten. Die EBM-Nr. 250 und 802 stellten keine Leistungsbesonderheit dar, da diese Leistungen durch 236 von 299 bzw. durch 281 von 299 Leistungserbringern erbracht würden. Die fachgruppenuntypischen Leistungen seien anhand der Frequenztabellen der Untergruppe 1 der Fachgruppe 38 geprüft worden. Nicht mehr geklärt werden könne, ob der HVM-Ausschuss vor der erneuten Entscheidung angehört worden sei.

Das SG Düsseldorf hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.02.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.06.2000 verurteilt, über den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung eines individuellen Punktzahlengrenzwerts unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden (Urteil vom 09.03.2005): Nicht zu beanstanden sei, dass die Beklagte darauf abstelle, dass die fachgruppenuntypischen Leistungen mehr als 50 % des Gesamtleistungsbedarfs ausmachten. Bei Bestimmung des von der Fachgruppentypik wesentlich abweichenden Leistungsspektrums sei allerdings nicht auf die Untergruppe 1 der Fachgruppe 38, sondern auf alle Nervenärzte nordrheinweit ohne CT abzustellen. Vor erneuter Entscheidung habe die Beklagte den HVM-Ausschuss anzuhören, da es sich nicht um die Wiederholung einer früheren Entscheidung, sondern um eine neue Entscheidung handele, die eine erneute Anhörung erfordere.

Die Beklagte hat gegen das am 07.04.2005 zugestellte Urteil am 04.05.2005 Berufung eingelegt und zu deren Begründung vorgetragen, der gerichtlichen Überprüfung unterliege lediglich die Umsetzung der bei der Neubescheidung zu beachtenden Auffassung des SG im Urteil vom 26.06.1996. Dieser Rechtsauffassung sei bei der Neubescheidung gefolgt worden. Rechtsfehler hätten nach Auffassung des SG im Urteil vom 26.06.1996 lediglich insoweit vorgelegen, als die Laborleistungen und die Leistungen nach den Nrn. 809, 813, 865, 870, 890 und 891 EBM unberücksichtigt geblieben seien. Anhand der vom SG exemplarisch aufgezeigten Beispiele sei eine Neuberechnung vorgenommen und seien die beantragten Leistungen dann in die Berechnung mit einbezogen worden, wenn weniger als 50% der Leistungserbringer der Fachgruppe der Klägerin die einzelne Leistung abgerechnet hätten. Die Gesamtbetrachtung habe ergeben, dass die Praxisbesonderheiten dann jeweils unter 25 % lägen. Im Übrigen hätten z.B. 65 % der Nervenärzte ohne CT der Untergruppen 1- 9 die Leistung der Nr. 802 EBM erbracht, so dass diese Leistung nicht als Besonderheit berücksichtigt werden könne.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.03.2005 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der Akten S 2 Ka 67/96 SG Düsseldorf sowie der Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Das SG hat die Beklagte zu Recht zur Neubescheidung verurteilt, denn der Bescheid vom 03.02.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.01.2000 verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Beklagte beruft sich zu Unrecht auf eine Beschränkung der gerichtlichen Prüfungskompetenz aufgrund des diesem Rechtsstreit vorgehenden Urteils des SG Düsseldorf vom 26.06.1996. Rechtskräftige Urteile binden die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entscheiden worden ist (§ 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Die Rechtskraft erfasst auch die Gerichte in einem späteren Rechtsstreit der Beteiligten über denselben Streitgegenstand. Bei Bescheidungsurteilen bestimmt die in den Entscheidungsgründen des Urteils als maßgeblich zum Ausdruck gebrachte Rechtsauffassung des Gerichts die Reichweite der Rechtskraft. Die Bindungswirkung erfasst dabei nicht allein die Gründe, wegen derer das Gericht den angefochtenen Verwaltungsakt aufhebt, sondern alle Rechtsauffassungen, die das Gericht der Behörde bei Erlass des neuen Verwaltungsakts zur Beachtung vorschreibt. In einem neuen Klageverfahren ist allerdings die Rechtmäßigkeit des in Ausführung des Bescheidungsurteils ergangenen Bescheides hinsichtlich aller noch nicht bestandskräftigen Fragen zu überprüfen (vgl. im Einzelnen Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27.06.2007 - B 6 KA 27/06 R -).

Daraus folgt, dass dem Senat die Prüfung versagt ist, ob die Tatbestandsvoraussetzung des § 7 Abs. 7 HVM, nämlich ein von der Fachgruppentypik wesentlich abweichendes Leistungsspektrum, dann erfüllt ist, wenn die Gegenüberstellung des Anteils der beantragten und vom Vorstand anerkannten Leistungsbesonderheiten gemessen an der Gesamtleistung in mindestens vier aufeinanderfolgenden Quartalen mehr als 50 % beträgt. Dies hat das SG in seinem Urteil vom 26.06.1996 bindend festgestellt. Ebenso ist zugrunde zulegen, dass die Beklagte seinerzeit die Nichtberücksichtigung der als Besonderheit reklamierten Laborleistungen nicht begründet und auch ansonsten nicht dargelegt hat, unter welchen Voraussetzungen sie Leistungsbesonderheiten annimmt.

Nicht in Bestandskraft erwachsen sind indes die Ausführungen des SG, in welcher Form ggf. Leistungsbesonderheiten zu bestimmen sind bzw. wie das von der Fachgruppentypik wesentlich abweichende Leistungsspektrum zu ermitteln ist. Das SG hat dazu lediglich an Hand von exemplarischen - "willkürlich herausgegriffenen" - Beispielen aufgezeigt, aus welchen Gründen, es die angegriffene Entscheidung der Beklagten nicht nachzuvollziehen vermocht hat. Eine Vorgabe für das weitere Verwaltungsvorgehen enthält das Urteil ebenso wenig wie eine Festlegung auf eine bestimmte Fachgruppe; es stellt vielmehr weitere Überlegungen zur Frage der Anerkennung von Leistungen als Besonderheit frei und fordert, die tragenden Gesichtspunkte nachvollziehbar herauszustellen.

Dementsprechend besteht insoweit gerichtliche Prüfungskompetenz.

Davon ausgehend hat das SG in seinem Urteil vom 09.03.2005 zu Recht entschieden, dass bei der Prüfung des abweichenden Leistungsspektrum nicht auf die Untergruppe 1 der Fachgruppe 38, sondern auf alle Nervenärzte nordrheinweit ohne CT abzustellen ist. Der Senat nimmt auf die für die Klägerin bindenden und auch von der Beklagten insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des SG in den Gründen seines Urteils vom 09.03.2005 Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Dem Senat erschließen sich Rechtsanwendungsfehler ebenfalls nicht. Anzumerken ist, dass auch der Hinweis der Beklagten, z.B. 65 % der Nervenärzte ohne CT der Untergruppen 1- 9 hätten die Leistung der Nr. 802 EBM erbracht, nicht weiterführt.

Ebenfalls zu Recht hat das SG ausgeführt, dass die Beklagte vor Neubescheidung den HVM-Ausschuss zu hören hat bzw. vor ihrer vorliegend angefochtenen Entscheidung hätte hören müssen; dies ergibt sich zwingend aus § 7 Abs. 7 HVM. Demgegenüber kann sich die Beklagten nicht auf § 42 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) berufen, nach dem die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 40 SGB X nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden kann, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist. Dies gilt nämlich nur dann, wenn in der Sache keine andere Entscheidung hätte getroffen werden können (§ 42 Satz 1 Halbsatz 2 SGB X in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung) oder wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (§ 42 Satz 1 Halbsatz 2 SGB X in der ab 01.01.2001 geltenden Fassung). Beides ist nicht der Fall. Die Beklagte hat in ihrem HVM ausdrücklich eine ihrer Entscheidung vorgehende Anhörung eines Kompetenzgremiums vorgesehen. Dem würde ein nachträglicher Verzicht auf die Anhörung eklatant entgegenstehen.

Im Übrigen besteht der schon vom SG in seinem Urteil vom 26.06.1996 gerügte Begründungsmangel weiter fort. So erschließt sich nicht, auf welcher Grundlage "die Gesamtbetrachtung" ergibt, "dass die Praxisbesonderheiten dann jeweils unter 25 % liegen".

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 und 193 SGG in der bis zum 01.01.2002 geltenden Fassung.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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