L 13 VG 42/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 41 VG 56/05
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VG 42/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. August 2006 aufgehoben. Die Klagen werden abgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin zu 1) und der 1993 geborene Kläger zu 2), ihr Sohn, begehren von dem Beklagten Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), insbesondere Hinterbliebenenrenten, wegen des Todes ihres Ehemanns bzw. Vaters M K, der an den Folgen der ihm am 19. Juli 2001 zugefügten Schussverletzungen starb.

Am Vorabend der Gewalttat kam es zwischen dem Bruder der Klägerin zu 1), D C, und S Ö im Restaurant "F-Paradies" aus Anlass eines Streits über einen mehr als zwei Jahre zurückliegenden Verkehrsunfall zu einer körperlichen Auseinandersetzung, in die M K eingriff und den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zufolge auf S Ö solange einschlug, bis dieser zu Boden ging, und anschließend auf ihn eintrat. Mit der Drohung, sie zu erschießen, flüchtete S Ö.

Am 19. Juli 2001 hielten sich M K und D C im Vereinslokal "H" auf. Dieser hatte dort in Absprache mit seinem Schwager auf einem Hängeschrank in der Küche zwei Schusswaffen deponiert. Gegen 21.30 Uhr betrat ein unbekannt gebliebener Mann das Lokal, fragte auf Türkisch: "Na, hast Du mich wiedererkannt?" und feuerte mehrere Schüsse auf die beiden ab. D C starb unmittelbar nach der Tat, M K, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, am 25. August 2001. S Ö wurde von der Staatsanwaltschaft des Mordes angeklagt, aber vom Landgericht Berlin aus tatsächlichen Gründen freigesprochen: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe ihm die Begehung dieser Tat nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden können.

Die Anträge der Kläger auf Leistungen nach dem OEG lehnte der Beklagte mit Bescheiden vom 25. November 2001 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18. Mai 2005 ab: Zwar sei M K das Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs im Sinne des § 1 OEG geworden, jedoch seien nach § 2 Abs. 1 OEG Leistungen zu versagen. Die von ihm an S Ö begangene gefährliche Körperverletzung sei von maßgeblicher Bedeutung für das schädigende Ereignis. Als wesentliche Bedingung für den Schadenseintritt sei sie im Sinne einer wesentlichen Bedingung für den Schadenseintritt zu werten.

Auf die Klagen der Kläger hat das Sozialgericht Berlin mit Urteil vom 29. August 2006 den Beklagten unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide verurteilt, den Klägern aus Anlass des Todes des M K Leistungen nach dem OEG zu gewähren. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt:

Die Kläger hätten als Hinterbliebene des M K im Sinne der § 1 Abs. 8 OEG, §§ 38 Abs. 1 40, 40a BVG Versorgungsansprüche nach § 1 Abs. 8 OEG in Verbindung mit §§ 38ff. BVG, da der Getötete Opfer einer Gewalttat gemäß § 1 OEG sei. § 2 OEG stehe dem Leistungsanspruch der Kläger nicht entgegen. Danach seien Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht habe oder es aus sonstigen, insbesondere in dem Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen, unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Da Hinterbliebene ihre Ansprüche vom Geschädigten ableiteten, erhielten sie, wenn in der Person des Verletzten ein Versagungsgrund vorliege, ebenfalls keine Versorgung. Die Mitverursachung (erste Alternative) bilde einen Sonderfall der Unbilligkeit (zweite Alternative). Sei nur die unmittelbare Förderung der Tat durch den Geschädigten als Leistungsausschließungsgrund in Betracht zu ziehen, so sei die erste Alternative eine abschließende Regelung.

Vorliegend sei es in hohem Maße wahrscheinlich, aber nicht bewiesen, dass die Ereignisse vom 18. und 19. Juli 2001 in Zusammenhang ständen. Doch könne dahin stehen, ob M K am 18. Juli 2001 wesentliche Tatbeiträge zu der Körperverletzung an S Ö geleistet habe und ob er von diesem oder einer anderen Person am nächsten Tag erschossen worden sei. Hierauf komme es nicht an, denn M K habe seinen Tod in keinem der genannten Fälle mitverursacht. Selbst wenn er S Ö verletzt und beleidigt hätte, stellte dies keine wesentliche Ursache im Sinne des § 2 OEG dafür dar, dass er später erschossen worden sei. Denn sein Verhalten sei gegenüber den übrigen Umständen nach Bedeutung und Tragweite für den Eintritt seines Todes nicht annähernd gleichwertig. Zwischen der "Provokation" und der Tat hätten immerhin 24 Stunden gelegen, innerhalb derer der Täter die Ausführung geplant und die notwendigen Vorkehrungen getroffen habe. Im übrigen sei es der deutschen Rechtsordnung, die unabhängig davon, dass die Beteiligten türkischer Herkunft seien und fremde Wertvorstellungen als maßgeblich erachteten, zugrunde zu legen sei, fremd, den Täter einer Körperverletzung im Wege der Selbstjustiz durch Erschießen zu richten. Er habe deshalb nach Abschluss der Auseinandersetzung nicht damit rechnen müssen, getötet zu werden. Vielmehr sei er Opfer einer überraschenden Gewalttat geworden, die nach dem OEG zu entschädigen sei. Da hier allein die unmittelbare Förderung der Tat durch den Geschädigten als Leistungsausschließungsgrund in Frage stehe, komme eine gesonderte Prüfung der zweiten Alternative des § 2 OEG, der Unbilligkeit, nicht in Betracht.

Gegen das Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. Eine Entschädigung sei unbillig, weil M K sich durch die von ihm begangene schwere Körperverletzung außerhalb der Rechtsordnung gestellt habe.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. August 2006 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie halten die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, des Verwaltungsvorgangs des Beklagten sowie der staatsanwaltlichen Ermittlungsakte (in Kopie) verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.

Das Sozialgericht hat zu Unrecht Ansprüche der Kläger auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) auf Anlass des Todes ihres Ehemanns bzw. Vaters bejaht.

Zutreffend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass M K Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG wurde. Jedoch liegen in der Person des Geschädigten Versagungsgründe nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG vor, die sich die Kläger entgegenhalten müssen. Leistungen sind danach zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, ihm eine Entschädigung zu gewähren.

Die Leistungsansprüche sind – worauf das Sozialgericht zu Recht hingewiesen hat – nicht wegen Mitverursachung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 erste Alternative OEG ausgeschlossen. Die Versagung aus diesem Grund kommt in Betracht, wenn sich der Geschädigte etwa durch Provokation entweder grob fahrlässig oder vorsätzlich der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 21. Oktober 1989, B 9 VG 6/97 R, BSGE 83, 62 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 9). Vorliegend ist es auch nach Auffassung des Senats zwar durchaus möglich, aber nicht bewiesen, dass M K durch die Beteiligung an der körperlichen Auseinandersetzung zwischen seinem Schwager und S Ö eine Ursache dafür gesetzt hatte, dass er am folgenden Tag erschossen wurde: Der von der Staatsanwaltschaft angeklagte S Ö wurde im strafgerichtlichen Verfahren von dem Vorwurf des gemeinschaftlichen Mordes freigesprochen; ein anderer Täter wurde nicht ermittelt.

Vielmehr steht § 2 Abs. 1 Satz 1 zweite Alternative OEG einer Leistung entgegen. Dieser Versagungsgrund ist hier nicht ausgeschlossen, da die erste Alternative nur insoweit abschließend ist, als die unmittelbare Förderung der Tat durch den Geschädigten als Leistungsausschlussgrund in Betracht kommt (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urteil vom 6. Dezember 1989, 9 RVg 2/89, BSGE 66, 115 = SozR 3800 § 2 Nr. 7). Vorliegend geht es nicht um tatbezogene, sondern tatunabhängige Umstände.

Die im eigenen Verhalten des Geschädigten liegenden Gründe, aus denen sich die Unbilligkeit ergeben soll, müssen von einem solchen Gewicht sein, dass sie dem in der ersten Alternative genannten Fall der Mitverursachung an Bedeutung gleich kommen (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juni 1985, 9a RVg 6/84, BSGE 58, 214 = SozR 3800 § 2 Nr. 6). Die Leistungsgewährung ist dann unbillig, wenn sie mit der grundlegenden Wertung des Gesetzes im Widerspruch steht (vgl. BSG, Urteil vom 6. Juli 2006, B 9a VG 1/05 R, SozR 4-3800 § 2 Nr. 1). Die Opferentschädigung steht im Zusammenhang mit der Aufgabe des Staates, den Bürger vor Gewalttaten zu schützen. Kommt er dieser Schutzpflicht nicht nach, besteht ein Bedürfnis für eine allgemeine Entschädigung (siehe BT-Drucks, 7/2506, S. 7). Hieraus ergeben sich gleichzeitig die Grenzen der Entschädigungspflicht: Stellt sich jemand bewusst außerhalb der staatlichen Gemeinschaft, so kann er – wenn die damit verbundene Gefahr sich verwirklicht – keine staatlichen Entschädigungsleistungen verlangen (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urteil vom 6. Juli 2006 a.a.O.). Eine derartige missbilligenswerte Selbstgefährdung kann bereits aus der Zugehörigkeit zu einem sozialwidrigen, besondere Gefahren bergenden Milieu bestehen (vgl. BSG, Urteile vom 7. November 1979, 9 RVg 2/78, BSGE 49, 104 = SozR 3800 § 2 Nr. 1).

Das Verhalten des M K und die Umstände am 18. und 19. Juli 2001 lassen nur den Schluss zu, dass der Geschädigte einem durch besondere Gewaltbereitschaft geprägten Kreis von in Berlin-Wedding und Umgebung beheimateten Personen angehörte, der sich außerhalb des Schutzes der Rechtsordnung stellte, indem er die Interessen seiner Mitglieder nicht durch Inanspruchnahme staatlicher Institutionen, sondern in missbilligenswerter Weise auf eigene Faust durchsetzte und hierbei auch nicht vor dem illegalen Gebrauch von Waffen zurückschreckte. Ein Jahre zurückliegender Streit um einen Verkehrsunfall nahm D C, der Schwager des M K, zum Anlass, S Ö, dem damaligen Unfallgegner, einen heftigen Stoß mit dem Kopf zu versetzen. Die in der Gruppe bestehende latente Aggressivität und – fehlgeleitete – Solidarität wird besonders dadurch deutlich, dass M K zu der Schlägerei eilte und, ohne nur den Versuch zu machen, die Kontrahenten zu trennen, auf S Ö solange einschlug, bis dieser zu Boden ging. Selbst da ließ er nicht von ihm ab, sondern trat auf ihn ein. Ein weiterer Anwesender nahm sogar ein Messer und ging damit drohend auf S Ö zu. Als dieser, sich zur Flucht wendend, rief, er werde sie erschießen, erwiderten D C und M K sinngemäß, er solle, wenn er ein Mann sei, kämpfen. Dass beide sich bewusst außerhalb des Schutzes der Rechtsordnung stellten, zeigt der Umstand, dass sie sich trotz dieser massiven Bedrohung nicht an die Polizei wandten, obwohl sie die Drohung durchaus ernst nahmen. Dies wird dadurch dokumentiert, dass D C am folgenden Tag zwei Schusswaffen mit in das Vereinslokal nahm, wo er und sein Schwager sich aufhielten, und dort in der Küche deponierte. Eine Auseinandersetzung mit Waffengewalt wurde demnach von ihnen von vornherein für möglich gehalten. Das Bereitlegen von Schusswaffen zeigt, dass es am Abend des 19. Juli 2001 in dem Lokal "H" nur deshalb nicht zu einer Schießerei gekommen ist, weil D C und M K von dem Täter, der zielgerichtet auf sie zulief und schoss, überrascht wurden. Bezeichnend für die in den Kreisen vorherrschende rechtsfeindliche Gesinnung ist ferner, dass unmittelbar nach der Tat eine im Lokal anwesende Person – ohne Rücksicht auf Dritte – hinter dem flüchtenden Täter her schoss. Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich mit dieser Eskalation der Gewalt eine dem von M K gewählten Milieu immanente Gefahr realisierte, so dass die Gewährung von Entschädigungsleistungen unbillig wäre.

Allein dieses Ergebnis entspricht dem Zweck des Gesetzes, wonach – wie bereits ausgeführt – eine Entschädigung gewährt wird, wenn der Staat seiner Pflicht, den Bürger vor Gewalttaten zu schützen, nicht nachgekommen ist. Sofern jedoch die im konkreten Fall gegebene Möglichkeit, den Schutz des Staates einzufordern, wie dies vorliegend aufgrund der Morddrohung der Fall war, nicht wahrgenommen, sondern stattdessen durch das Bereitlegen von Schusswaffen zu gesetzeswidrigen Maßnahmen gegriffen wird, besteht keine Rechtfertigung für eine Entschädigung. Dabei kann dahingestellt bleiben, von wem und aus welchem Anlass M K getötet wurde, da sich der staatliche Schutz seiner Person gegen jeden Angreifer gerichtet hätte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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