L 3 SB 715/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 2 SB 6970/04
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 715/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Feststellung der Eigenschaft als Schwerbehinderte.

Auf den Erstantrag der 1958 geborenen Klägerin stellte der Beklagte nach Auswertung der eingeholten Befundunterlagen der behandelnden Ärzte mit Bescheid vom 19.02.2004 einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 seit 15.10.2003 fest. Die Prüfung der ärztlichen Unterlagen habe das Vorliegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen ergeben:

- Psychovegetatives Erschöpfungssyndrom - Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule Nervenwurzelreizerscheinungen.

Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein mit der Begründung, eine mittelgradige depressive Störung sowie ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom seien nicht ausreichend berücksichtigt. Nachdem in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme die dem Ausgangsbescheid zugrundeliegende Beurteilung bestätigt worden war, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01.10.2004 den Widerspruch zurück. Zwar seien an Stelle eines psychovegetativen Erschöpfungssyndroms die Funktionsbeeinträchtigungen als Depression und funktionelle Organbeschwerden neu zu formulieren, hieraus ergebe sich jedoch kein höherer Gesamt-GdB.

Hiergegen hat die Klägerin am 19.10.2004 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen gehört. Der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. H. hat mitgeteilt, bei der Klägerin bestünden rezidivierende Beschwerden der Hals- und Lendenwirbelsäule, eine morgendliche Antriebsstörung, eine allgemeine Unsicherheit sowie eine Ängstlichkeit. Eine Beurteilung des GdB könne er nicht treffen. Der behandelnde Orthopäde Dr. J. hat mitgeteilt, bei der Klägerin bestehe ein vertebragenes Syndrom der Wirbelsäule auf degenerativer Basis, eine zervikale Osteochondrose, eine Blockierung C5/6/7 beidseits mit Wurzelreizsymptomatik, eine Handgelenksarthrose beidseits, eine beidseitige Kapselreizung des Handgelenks sowie ein Zustand nach ambulanter Hallux valgus-OP nach New links. Hinsichtlich der Beurteilung des GdB schließe er sich der Auffassung des versorgungsärztlichen Dienstes an. Die behandelnde Neurologin und Psychiaterin Dr. L. hat ausgeführt, bei der Klägerin, die sich alle vier bis sechs Wochen in ihrer nervenärztlichen Behandlung befinde, bestünden eine Neurasthenie, eine Minderbegabung sowie eine mittelgradige depressive Störung. Der GdB betrage 60.

Das SG hat weiter das im Rentenverfahren S 13 RJ 1242/05 am 29.11.2004 von Dr. F. erstattete nervenärztliche Gutachten beigezogen und von diesem eine gutachtliche Äußerung einbeholt. Dr. F. hat in der gutachtlichen Äußerung vom 05.08.2005 ausgeführt, bei der Klägerin bestehe eine Neurasthenie mittleren Schweregrades. Unter Einbeziehung funktioneller Organbeschwerden könne ein Teil-GdB von 30 gerechtfertigt sein.

Das SG hat sodann bei Dr. D. ein orthopädisches Gutachten eingeholt. Im Gutachten vom 05.09.2005 hat Dr. D. auf orthopädischem Fachgebiet leicht bis mittelgradig vermehrte Verschleißerscheinungen im Bewegungssegment C5/C6 bei freier Halswirbelsäulenbeweglichkeit sowie eine endgradig eingeschränkte Entfaltbarkeit der Lendenwirbelsäule festgestellt. Funktionsbehinderungen, insbesondere Bewegungseinschränkungen an den Handgelenken bestünden nicht. Die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingten einen GdB von 10. Sie könnten insbesondere nicht mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt gleichgesetzt werden. Unter Berücksichtigung des psychovegetativen Erschöpfungssyndroms sei ein Gesamt-GdB von 30 gerechtfertigt.

Nachdem die Klägerin mitgeteilt hatte, bei ihr sei nunmehr noch eine Nahrungsmittelallergie diagnostiziert worden, hat die behandelnde Hautärztin Dr. G. unter dem 28.11.2005 mitgeteilt, eine bei der Klägerin auftretende Akne und ein seborrhoisches Ekzem seien einer Antimykotikabehandlung zugänglich. Es bestehe eine Nahrungsmittelallergie, insbesondere gegenüber Milchprodukten. Der GdB liege unter 10.

Mit Gerichtsbescheid vom 18.01.2006 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, bei der Klägerin bestehe eine endgradig eingeschränkte Entfaltbarkeit im Bereich der Lendenwirbelsäule. Die Brustwirbelsäule sei trotz festgestellter leicht- bis mittelgradig vermehrter Verschleißerscheinungen im Bewegungssegment C5/C6 frei beweglich in alle Bewegungsrichtungen. Auch die Beweglichkeit des Kopfes sei nicht eingeschränkt. Dies rechtfertige einen Teil-GdB von allenfalls 10. Die psychische Störung sei mit einem Einzel-GdB von 30 gleichfalls zutreffend beurteilt. Eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten könne den von Dr. L. genannten Befunden nicht entnommen werden. Dies gelte umso mehr, als der Sachverständige Dr. F. lediglich eine Neurasthenie und damit eine Gesundheitsstörung mittleren Schweregrades festgestellt habe.

Gegen den am 30.01.2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14.02.2006 Berufung eingelegt mit der Begründung, eine Minderbegabung und eine mittelgradige depressive Störung seien nicht berücksichtigt worden.

Der Senat hat erneut die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen gehört. Dr. H. (Auskunft vom 10.10.2006) und Dr. L. (Auskunft vom 23.10.2006) haben mitgeteilt, gegenüber der letzten Auskunft sei keine wesentliche Befundänderung eingetreten. Dr. J. hat in der sachverständigen Zeugenauskunft vom 09.10.2006 angegeben, bei der Klägerin bestehe als nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörung eine zervikale Osteochondrose sowie eine Fingergelenksarthrose V rechts. Er schätze den Teil-GdB auf seinem Fachgebiet mit 20.

Der Senat hat weiter Prof. Dr. T., Direktor des Zentrums für Seelische Gesundheit am Bürgerhospital der Landeshauptstadt Stuttgart, mit der Erstellung eines nervenärztlichen Gutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 29.06.2007 hat Prof. Dr. T. unter Mitarbeit von Dr. Winter die Diagnosen einer Neurasthenie (psychovegetatives Erschöpfungssyndrom), einer somatoformen Schmerzstörung sowie einer leichten depressiven Episode, bei denen eine gewisse Überschneidung vorliege, genannt. Auf Grund einer leichten Ausprägung aller Störungen könne eine besonders nachteilige Auswirkung einer dieser Störungen auf eine andere nicht festgestellt werden. Die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen seien nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Behindertenrecht (AHP) unter "Neurosen, Persönlichkeitsstörung, Folgen psychischer Traumen" zu klassifizieren. Der Schweregrad der leichten depressiven Episode und der Neurasthenie entspreche leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen und sei mit einem Einzel-GdB von 10 für jede Störung zu bewerten. Der Schweregrad der somatoformen Schmerzstörung entspreche einer stärker behindernden Störung und sei mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Insgesamt bestehe ein Gesamt-GdB von 30. Eine früher festgestellte mittelgradige depressive Episode habe zum Untersuchungszeitpunkt nicht mehr vorgelegen.

Nachdem die Klägerin dem Gutachten entgegengetreten ist mit dem Vortrag, insbesondere die Suizidalität sei nicht ausreichend berücksichtigt worden, hat Prof. Dr. T. in einer gutachtlichen Stellungnahme ausgeführt, zum Zeitpunkt der Begutachtung habe bei der Klägerin keine Eigen- oder Fremdgefährdung vorgelegen. Die Klägerin sei zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht suizidal gewesen, ansonsten wäre unverzüglich eine stationäre Einweisung in eine geschützte psychiatrische Station erfolgt. Eine solche Einweisung sei im Übrigen auch nicht durch die im Rentenverfahren begutachtende Ärztin Dr. Obermayer und auch nicht durch die behandelnde Ärztin Dr. L. erfolgt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Januar 2006 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 19. Februar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Oktober 2004 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, einen Grad der Behinderung von 50 ab dem 15. Oktober 2003 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat die bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Baden-Württemberg geführten Rentenakten der Klägerin beigezogen. Diese enthalten u.a. ein am 19.10.2006 von der Nervenärztin Dr. Obermayer erstattetes freies Gutachten auf dem Gebiet der Neurologie und Psychiatrie. Darin werden die Diagnosen einer Neurasthenie, einer mittelgradigen depressiven Episode sowie einer undifferenzierten Somatisierungsstörung genannt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Beklagtenakten, der Rentenakten der DRV Baden-Württemberg sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge ergänzend Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid sowie die Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, da die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 30 hat.

Wegen der rechtlichen Voraussetzungen der zu treffenden Entscheidung, der bei der Feststellung des GdB anzuwendenden Maßstäbe sowie der danach für die von den Erkrankungen der Klägerin ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen anzusetzenden Einzel-GdB sowie der Bildung des Gesamt-GdB verweist der Senat auf die ausführlichen und zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts im angegriffenen Gerichtsbescheid (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend ist lediglich festzustellen, dass mittlerweile die im Wesentlichen mit den AHP 2004 gleichlautenden AHP 2008 maßgebend sind.

Die bei der Klägerin vorliegenden Erkrankungen auf nervenärztlichem Gebiet, nämlich das psychovegetative Erschöpfungssyndrom, die somatoforme Schmerzstörung sowie die depressive Episode sind nach den AHP 2008 unter "Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen" (Nr. 26.3, Seite 48) zu klassifizieren. Danach sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem GdB von 0 bis 20 und stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten bedingen einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen Teil-GdB von 80 bis 100.

Bei der Klägerin liegt nur eine leichtere depressive Episode vor, die lediglich einen Teil-GdB von 10 rechtfertigt. Der Senat folgt insoweit der Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. T. im Gutachten vom 29.06.2007 und der ergänzenden Stellungnahme vom 07.08.2007. Insbesondere liegt bei der Klägerin keine akute Suizidalität vor. Weder der Sachverständige Dr. F. noch die die Klägerin im Rentenverfahren begutachtende Ärztin Dr. Obermayer haben entsprechende Anhaltspunkte festgestellt. Während die Klägerin bei der Untersuchung durch Dr. F. im November 2004 wie auch gegenüber der Sachverständigen Dr. Obermayer im November 2006 noch angegeben hatte, alleine mit ihrer Mutter das elterliche Haus zu bewohnen, wohnt sie zwischenzeitlich mit einem guten Freund zusammen, der von der behandelnden Ärztin Dr. L. als deren Ehemann bezeichnet worden ist. Eine von Dr. L. angenommene hohe familiäre Belastung durch u.a. eine Mehlallergie beim Ehemann, der als Bäcker unter schlechten Arbeitsbedingungen arbeite, ist deshalb zu relativieren. Auch eine Suizidalität haben weder die behandelnde Ärztin noch die begutachtenden Fachärzte festgestellt. So hat Dr. L. in der sachverständigen Zeugenaussage vom 23.10.2006 mitgeteilt, gegenüber der Auskunft an das SG sei keine wesentliche Befundänderung eingetreten.

Die Neurasthenie ist zutreffend mit einem Teil-GdB von 10 und die somatoforme Schmerzstörung als stärker behindernde Störung nach den vorgenannten Maßstäben mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten, so dass die durch die Erkrankungen auf nervenärztlichem Gebiet bedingten Funktionseinschränkungen zutreffend mit einem Teil-GdB von 30 berücksichtigt sind.

Auch die Funktionsbeeinträchtigungen auf orthopädischem Fachgebiet bedingen keinen Teil-GdB von mehr als 10. Die von Dr. J. in der sachverständigen Zeugenaussage vom 09.10.2006 genannte Fingergelenksarthrose V rechts bestand schon bei der gutachterlichen Untersuchung durch Dr. D ... Eine hieraus resultierende Funktionsbeeinträchtigung hat Dr. D. nicht festgestellt. Der sachverständigen Zeugenauskunft von Dr. J. kann überdies entnommen werden, dass er von der Klägerin seit November 2004 zweimal konsultiert worden war, hierbei jedoch keine diesbezüglichen Befunde festgehalten hat. Auch bei der Untersuchung durch Dr. Obermayer fand sich lediglich eine Kraftminderung, allerdings in der linken Hand und ohne Muskelatrophien. Eine Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand lag nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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