L 2 U 36/98

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 8 U 415/97
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 36/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. März 1998 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat.

Mit Bescheid vom 16. Dezember 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 1997 lehnte die Beklagte es ab, der am 3. Juli 1941 geborenen Klägerin aus Anlass eines Ereignisses vom 21. August 1993 Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Ein Arbeitsunfall liege nicht vor, weil die dafür erforderliche Hilfeleistung gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchstabe a Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht erfolgt sei.

Zwischen der Klägerin und dem Land Berlin war wegen des behaupteten Ereignisses vom 21. August 1993 ein Verfahren auf Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) anhängig. Wegen dessen Einzelheiten, insbesondere des dortigen Vorbringens der Klägerin, wird auf den Tatbestand des Urteils des Landessozialgerichtes Berlin vom 28. September 1999 (L 13 VG 46/98; Seite 2 3. Absatz bis S. 6 2. Absatz) verwiesen, mit dem die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. Mai 1998 (S 44 Vg 186/96) zurückgewiesen wurde und welches den Beteiligten des hiesigen Verfahrens bekannt ist.

Das Sozialgericht Berlin hat, nachdem es zuvor das im Auftrag des Sozialgerichts Berlin im Rechtsstreit S 44 Vg 186/96 erstattete Gutachten von Prof. Dr. Sch. vom 12. Januar 1998 beigezogen hatte, mit Urteil vom 2. März 1998 der Klage gegen die vorliegend angefochtenen Bescheide stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung dieser Bescheide verurteilt, der Klägerin unter Anerkennung des Ereignisses vom 21. August 1993 als Arbeitsunfall Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Die Klägerin habe zur Überzeugung der Kammer am 21. August 1993 einen versicherten Arbeitsunfall im Sinne der §§ 548 Abs. 1 Satz 1, 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchstabe a RVO erlitten. Zur Überzeugung der Kammer habe die Klägerin uneingeschränkt glaubhaft dargetan, dass sie seinerzeit gegen die beiden männlichen Jugendlichen mit der ernsthaften Absicht vorgegangen sei, den bedrängten Kindern unter den gegebenen Umständen Hilfe zu leisten. Die Kammer habe keine begründeten Zweifel, dass sich der Vorfall nicht in der von der Klägerin geschilderten Weise zugetragen habe. Die Klägerin habe schon wegen eines möglichen seelischen Schocks oder psychischer Schäden von einer erheblichen Gefahr für die beiden Kinder in sehr jungem Lebensalter, die sich ohne Begleitung in dem fahrenden S-Bahn-Waggon einer ausweglosen Zwangslage gegenüber gesehen hätten, ausgehen müssen. Die Klägerin habe es überdies auch „unternommen“, die beiden Kinder zu „retten“. Dies setze ein aktives Tun des Hilfeleistenden zugunsten eines Dritten voraus. Es stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin die Ab-sicht hatte, ernstlich und zweckbestimmt den beiden bedrängten koreanischen Kindern Hilfe zu leisten und dies schließlich auch getan habe. Ausschlaggebend sei dabei allein, welches Vorgehen der Hilfeleistende nach den konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls für erforderlich halten durfte. Die Klägerin sei nach fruchtlosen verbalen Bemühungen handgreiflich geworden, um die Kinder endgültig aus ihrer Zwangslage zu befreien. Die Beklagte weise zwar zu Recht darauf hin, dass Beweismittel für das Vorbringen der Klägerin nicht greifbar seien. Dem Gericht sei auch eine Parteivernehmung der Klägerin gemäß den §§ 445 bis 455 Zivilprozessordnung (ZPO) verwehrt. Es könne jedoch den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anhören und seine Überzeugung vom Vorliegen der rechtserheblichen Tatsachen allein auf dessen Aussage stützen, wenn diese schlüssig und glaubhaft sowie mit dem Akteninhalt im Übrigen nicht im Widerspruch stünde. Das sei hier der Fall.

Gegen das ihr am 29. Mai 1998 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. Juni 1998 Berufung eingelegt.

Sie ist auch weiterhin der Auffassung, dass die Voraussetzungen des § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchstabe a RVO nicht vorliegen und damit ein Arbeitsunfall nicht bejaht werden könne. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sei es von erheblicher Bedeutung, in welcher Form die Gewalteinwirkung stattgefunden habe, gegen die die Klägerin eingeschritten sei. Sollte die von der Klägerin zunächst im OEG-Verfahren abgegebene Ereignisschilderung zutreffend sein, wäre die vom Gesetzgeber geforderte erhebliche Gefahr für Körper oder Gesundheit nicht gegeben gewesen, ginge man von der späteren Ereignisschilderung, wonach die Kinder, wenn sie nicht schnell genug liefen, mit den Köpfen zusammengestoßen worden seien, aus, dann wäre dies sehr wohl der Fall gewesen. Bei Würdigung des gesamten Sachverhaltes bliebe sie - die Beklagte - bei ihrer Einschätzung, dass die Angaben der Klägerin allein nicht als Beweis ausreichend seien, so dass nicht mit der notwendigen Gewissheit bewiesen werden könne, dass die Klägerin am 21. August 1993 bei der Abwehr einer erheblichen Gefahr für Körper oder Gesundheit die jetzt festgestellten Schäden am linken Kniegelenk erlitten habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. März 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Hinsichtlich der vom Landessozialgericht im Verfahren L 13 VG 46/98 angestellten Ermittlungen, insbesondere die von der Klägerin eingereichten Kopie einer Judourkunde betreffend und der entsprechenden Rückäußerung der Klägerin, wird auf den Tatbestand des in jener Sache ergangenen Urteils verwiesen (Seite 9, 2. Absatz nach den Anträgen bis Seite 10, 2. Absatz).

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Die Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens und des Verfahrens L 13 VG 46/98 sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten lagen dem Senat vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist auch begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung unter Anerkennung des (behaupteten) Ereignisses vom 21. August 1993 als Arbeitsunfall, da schon das Vorliegen eines Arbeitsunfalles nicht festgestellt werden kann. Das Urteil des Sozialgerichts war daher aufzuheben.

Der streitige Anspruch beurteilt sich noch nach den bis zum 31. Dezember 1996 gültig gewesenen Bestimmungen der RVO, weil die Klägerin den Eintritt eines Versicherungsfalles schon vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) am 1.Januar 1997 geltend macht und nach § 212 SGB VII das neue Recht grundsätzlich nur für Versicherungsfälle gilt, die nach dem 31. Dezember 1996 eingetreten sind. Einer der Ausnahmetatbestände nach §§ 213 ff SGB VII ist nicht gegeben.

Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung werden nach § 547 RVO nach Eintritt eines Arbeitsunfalls gewährt. Gemäß § 548 Abs. 1 RVO ist ein Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet.

Im vorliegenden Fall kann sich im Hinblick auf den von der Klägerin behaupteten Sachverhalt der Versicherungsschutz nur nach dem Fall 2 des Buchstaben a bzw. des Buchstaben c des § 539 Abs. 1 Nr. 9 RVO beurteilen. Danach genießen Personen den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, die einen anderen aus gegenwärtiger Lebensgefahr oder erheblicher gegenwärtiger Gefahr für Körper oder Gesundheit zu retten unternehmen (§ 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchstabe a Fall 2 RVO) bzw. sich zum Schutz eines widerrechtlich Angegriffenen persönlich einsetzen (§ 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchstabe c Fall 2 RVO).

Zwischen der versicherten Tätigkeit, dem Unfallereignis und der geltend gemachten Gesundheitsstörung muss ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Während die anspruchsbegründenden Tatsachen im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sein müssen, braucht der ursächliche Zusammenhang zwischen diesen nur wahrscheinlich im Sinne der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung zu sein.

Der Beweis (Vollbeweis) fordert eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, also einen so hohen Grad an Wahrscheinlichkeit, dass kein vernünftiger Zweifel möglich ist (BSGE 6, 142, 144). Beim Fehlen von Beweismitteln (Zeugen, Urkunden u.ä.) kann das Gericht seine Überzeugung auch nur auf den Beteiligtenvortrag stützten, so lange er nicht mit der allgemeinen Lebenserfahrung im Widerspruch steht oder sonst Zweifel des Gerichts bestehen (siehe Meyer-Ladewig, SGG, 6. Auflage, § 103 Rdnr. 7 a mit weiteren Nachweisen).

Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Gegebenheiten und unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens steht der Klägerin der geltend gemachte Anspruch nicht zu.

Der klägerische Vortrag, der angesichts des Fehlens jeglicher Beweismittel allein zum Nachweis geeignet sein könnte, kann als Entscheidungsgrundlage dem Senat nicht dienen, weil die Schilderung der gesamten Umstände durch die Klägerin erhebliche Zweifel an deren Glaubwürdigkeit begründen.

Der Glaubwürdigkeit steht zwar grundsätzlich nicht entgegen, wenn ein Anspruchsteller in den im Verlauf eines Jahre dauernden Verfahrens gegenüber den verschiedenen Stellen abgegebenen Sachverhaltsdarstellungen in Bezug auf bestimmte Details abweichende Angaben gemacht hat. Vorliegend leidet der gesamte Vortrag der Klägerin jedoch an unauflösbaren Widersprüchen.

Vor allem der Versuch der Klägerin, im Nachhinein Zeugen einerseits namhaft zu machen und andererseits Gründe dafür zu finden, warum diese nicht persönlich gehört werden können, führen zu Zweifeln an ihrer Glaubwürdigkeit.

Machte sie noch in dem von ihr im OEG-Verfahren eingereichten Antragsformular vom 27. Oktober 1993 keinerlei Angaben zu Personen, die im unmittelbaren zeitlichem Zusammenhang des behaupteten Vorfalls von diesem Kenntnis erlangt hätten, so tauchte erstmals in dem auf Überprüfung des ablehnenden Bescheides des Landes Berlin vom 6. Januar 1994 gerichteten Antrag vom 22. Mai 1995 die Behauptung auf, sie habe mit den Eltern der Kinder noch am Abend des 21. August 1993 telefoniert. Der Inhalt des von der Klägerin geschilderten Gesprächs ist dabei aber in wesentlichen Teilen unplausibel. Insoweit und hinsichtlich der übrigen Bedenken an der Glaubwürdigkeit der Klägerin wird auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 28. September 1999 im Verfahren L 13 VG 46/98 (Seite 13, 5. Absatz bis Seite 14) verwiesen, denen sich der Senat nach eigener Prüfung anschließt.

Dass der erforderliche Vollbeweis auch nicht durch die Einschätzung von Prof. Dr. Sch. in dessen Gutachten vom 12. Januar 1998, die von ihm festgestellten Leiden seien mit Wahrscheinlichkeit durch den Vorfall vom 21. August 1993 verursacht, zu erbringen ist, ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass der Gutachter nach der gerichtlichen Beweisanordnung des Sozialgerichts vom 16. Juli 1997 einen entsprechenden Vorfall am 21. August 1993 zu unterstellen hatte und die Klägerin sich die von Prof. Dr. Sch. festgestellte Prellverletzung auch anderweitig zugezogen haben kann.

Da die Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen - hier die geltend gemachte Rettungshandlung - nach Ausschöpfung aller in Frage kommenden Ermittlungsmöglichkeiten zu Lasten desjenigen geht, der daraus ein Recht herleiten will, musste die Berufung der Beklagten Erfolg haben. Denn der Anspruch der Klägerin auf Entschädigungsleistungen hängt davon ab, ob sie einen anderen aus gegenwärtiger Lebensgefahr oder erheblicher gegenwärtiger Gefahr für Körper oder Gesundheit zu retten unternommen hatte oder sich zum Schutz eines widerrechtlich Angegriffenen persönlich eingesetzt hatte. Dies kann aber nicht festgestellt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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