L 2 U 95/98

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 68 U 707/97
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 95/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
wirbelsäulebelastende Tätigkeit im Durchschnitt von wenigstens ein Drittel der täglichen Arbeitszeit
kein Ausgleich einer geringeren täglichen Belastung durch eine Gesamtbelastungszeit von mehr als 10 Jahren
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 1998 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Im Berufungsverfahren ist noch streitig, ob dem Kläger wegen einer Berufskrankheit Nr. 2108 (bandscheibenbedingte Veränderungen der Lendenwirbelsäule) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) Entschädigungsansprüche gegen die Beklagte zustehen.

Der 1943 geborene Kläger ist seit April 1959 bei der Tischlerei Th. beschäftigt. Bis September 1993 übte er eine Tätigkeit als Montagetischler aus. Am 13. September 1993 hatte der Kläger beim Besteigen der Ladefläche eines Kleintransporters einen Kreuzbandriss des rechten Knies erlitten. Er war anschließend bis 12. März 1995 arbeitsunfähig.

Im Januar 1995 leitete die Beklagte Ermittlungen über das Vorliegen der Berufskrankheiten Nr. 2102 und Nr. 2108 ein. Der Kläger gab auf einem Fragebogen der Beklagten am 12. Februar 1995 an, bei ihm seien erstmals 1982 bei Belastungen Wirbelsäulenbeschwerden im Lendenwirbel- und Schulterbereich aufgetreten. Von Januar bis März 1982 sei er wegen einer Bandscheibenerkrankung arbeitsunfähig gewesen. Ab 1983 habe ein Tätigkeitswechsel insoweit stattgefunden, als er „nach Möglichkeit keine schweren Hebetätigkeiten“ verrichtet und er eine „leichtere Werk-zeugtasche“ benutzt habe. Diese Angaben sind auch von der Tischlerei Th. auf dem am 6. Februar 1995 von B. Th. unterschriebenen Vordruck gemacht worden. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten hat in einer aufgrund einer „eingehenden persönlichen Befragung des Versicherten und der Besichtigung des Arbeitsplatzes sowie einem Gespräch mit dem Unternehmer, Herrn Th. ,“ abgegebenen Stellungnahme vom 20. Februar 1995 ausgeführt, die Tätigkeit des Klägers habe sich in ca. 80 % Montagearbeiten und etwa 20 % Werkstattarbeiten aufgeteilt. Im Werkstattbereich seien die üblichen Tischlerarbeiten an Maschinen und Hobelbank ausgeführt worden. Die Art der Arbeiten habe dabei ständig gewechselt. Die Aufträge seien von den Mitarbeitern von Anfang bis zur Fertigstellung ausgeführt worden. Bei der Montagetätigkeit bis etwa 1983 habe es sich um den Einbau von Fenstern und Türen und die Erneuerung von Dichtungen in Altbauten mit allen anfallenden Arbeiten, wie Ein- und Ausbau sowie Transportarbeiten, gehandelt. Ab 1983 seien von dem Kläger Fenster und Türen beim Kunden repariert worden. Zum Teil seien Dichtungen erneuert, Parkett verlegt sowie Wand- und Deckenverkleidungen montiert worden. Der TAD vertrat die Auffassung, dass eine mehrjährige andauernde oder häufig wiederkehrende, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastende Tätigkeit nicht vorliege. Das Heben und Tragen von Lasten sei bei der Tätigkeit als Bau- bzw. Montagetischler in normalem Umfang erfolgt. Eine langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung habe nicht ermittelt werden können.

Auf Veranlassung der Beklagten erstattete der Arzt für Orthopädie Dr. de N. am 4. April 1995 ein orthopädisches Gutachten über den Kläger. Dieser gab an, dass er nach Beendigung seiner Arbeitsunfähigkeit am 12. März 1995 mit Bürohilfstätigkeiten bei der Firma Th. beschäftigt werde. Er habe bis 1963 Handball gespielt. Der Gutachter führte aus, bei dem Kläger seien seit 1980 Rückenbeschwerden aufgetreten und es sei ein Bandscheibenprolaps diagnostiziert worden. Die Beschwerdesymptomatik habe sich unter konservativer Behandlung ausreichend zurückgebildet. In der Folgezeit sei es immer wieder zu Rezidiven mit einer lumboischialgieartigen Schmerzsymptomatik gekommen. Im Sommer 1994 sei ein Schmerzrezidiv lumbal aufgetreten, dabei seien in den Etagen L4/5 und L5/S1 Bandscheibenprolapse nachgewiesen worden. Diese Schädigung an der unteren Lendenwirbelsäule sei typisch für eine berufsbedingte Schädigung. Er schlug die Anerkennung der Bandscheibenerkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 2108 mit einer MdE von 30 vH ab 1. Juni 1994 vor. Zur Berufskrankheit Nr. 2102 führte Dr. de N. aus, obgleich ein Meniskusschaden, wie er für diese Berufskrankheit gefordert werde, nicht vorliege, empfehle er, die nachgewiesenen degenerativen Veränderungen am rechten Knie mit einer MdE von 20 vH als Berufskrankheit nach der Nr. 2102 anzuerkennen.

In ihrer Stellungnahme vom 4. September 1995 vertrat die Gewerbeärztin Dr. H. die Auffassung, dass die Annahme einer Berufskrankheit nach Nr. 2102 nicht gerechtfertigt sei, weil die haftungsbegründenden Voraussetzungen nicht gesichert seien und das geforderte Krankheitsbild eines Meniskusschadens nicht vorliege. Hingegen sei die Anerkennung der Bandscheibenerkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 2108 mit einer MdE von 20 vH ab 13. März 1995 zu empfehlen. Entgegen der Stellungnahme des TAD sei davon auszugehen, dass der Kläger als Montagetischler regelmäßig Lastgewichte über 20 kg zu bewegen gehabt habe und dass kontinuierlich Arbeiten auch in Rumpfbeugehaltung angefallen seien.

Durch Bescheid vom 27. August 1996 lehnte die Beklagte sowohl die Anerkennung der Berufskrankheit Nr. 2102 als auch der Nr. 2108 mit der Begründung ab, die haftungsbegründenden Voraussetzungen seien nicht gegeben. Außerdem sei festgestellt worden, dass kein Meniskusschaden vorliege.

Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte eine gutachterliche Rückäußerung von Dr. de N. ein. Der Gutachter hielt an seiner Auffassung fest, dass ein berufsbedingter Schaden im Sinne der Nr. 2108 vorliege und dass die MdE wegen der von ihm festgestellten neurologischen Ausfälle 30 vH betrage. Dagegen räumte er ein, dass bei dem Kläger kein Meniskusschaden bestehe, sondern ein degenerativ bedingter Kreuzbandriss, so dass die Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2102 nicht erfüllt seien. Nach Einholung einer Stellungnahme des Diplom-Chemikers M. vom TAD vom 1. September 1997 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 17. September 1997 zurück.

Mit der gegen diese Entscheidung erhobenen Klage machte der Kläger geltend, dass in dem Gutachten des Dr. de N. vom 4. April 1995 die Bandscheibenerkrankung mit einer MdE von 30 vH und die Kniegelenksschädigung mit einer MdE von 20 vH zur Anerkennung als Berufskrankheiten empfohlen worden seien. Als Montagetischler habe er vorwiegend auf Baustellen gearbeitet. Dort seien nicht nur Fenster und Türen repariert, sondern auch alte durch neue ersetzt worden. Dabei habe er Fenster und Türen transportieren sowie auch Balken heben und tragen sowie Wand- und Deckenpaneele bewegen und montieren müssen. Später habe er überwiegend Parkettfußboden verlegt, den er zum Montageort habe verbringen müssen. Bei der Montage des Parkettfußbodens oder anderen Fußbodenarbeiten habe er überwiegend kniend gearbeitet, was mit extremer Rumpfbeugung verbunden gewesen sei.

Durch - ohne vorherige Anhörung der Beteiligten ergangenen - Gerichtsbescheid vom 23. Oktober 1998 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Anerkennung seines Kniegelenkschadens als Berufskrankheit nach Nr. 2102, weil bei ihm ein Knorpelschaden, nicht jedoch ein Meniskusschaden am Kniegelenk vorliege. Ein Anspruch auf Anerkennung seines Wirbelsäulenschadens als Berufskrankheit nach Nr. 2108 bestehe nicht, weil die aufgrund seiner eigenen Angaben errechnete Gesamtbelastungsdosis, wie der TAD in seiner Stellungnahme vom 1. September 1997 dargelegt habe, nur 1,65 x 1010 Ns erreiche und somit die Gesamtbelastungsdosis von 6 x 1010 Ns, bei der verstärkt auftretende beruflich bedingte Lendenwirbelsäulenschäden zu erwarten seien, deutlich unterschritten werde.

Gegen den am 10. November 1998 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 9. Dezember 1998 Berufung eingelegt. Er macht geltend, dass die von Herrn M. im Auftrag der Beklagten getroffenen Feststellungen seine Tätigkeit bei der Tischlerei Th. in den Jahren 1959 bis 1993 nur grob wiedergäben. Das Ausmaß der Körperbelastungen sei unterschätzt und es seien teilweise zu niedrige Beanspruchungen als Basis für die Berechnung der Gesamtbelastungsdosis zugrunde gelegt worden. Zu dem Ausmaß seiner Belastungen trägt der Kläger wie folgt vor: Er sei, insbesondere bis 1983, schweren körperlichen Belastungen ausgesetzt gewesen und habe schwere Lasten heben und tragen müssen sowie häufig in Rumpfbeugehaltung gearbeitet. In den Jahren 1959 bis 1983 sei er insbesondere mit dem Einbau von Fenstern beschäftigt gewesen und habe Fensterflügel, die pro Stück 24 kg gewogen hätten, tragen und anpassen müssen, wobei häufig auch mehrere Fensterflügel auf einmal getragen worden seien. Weiterhin habe er Altbautüren ausgebessert, die zu diesem Zweck aus den Angeln gehoben werden mussten. Sie seien dann entweder wie die Fenster vor Ort repariert oder in die Firma zur Reparatur gebracht worden. Diese Altbautüren hätten ein durchschnittliches Gewicht von 40 bis 50 kg aufgewiesen. Auch sie hätten, wie die Fenster, mehrfach eingesetzt und wieder ausgehoben werden müssen, um sie genau anzupassen. Schließlich habe er, insbesondere im Jahr 1978/79, für ca. ein Jahr Verbundfenster im Akkord eingebaut, die ein Gewicht von ca. 44 kg gehabt hätten. Hiervon habe er im Schnitt zehn neue Fenster pro Tag eingesetzt. In den Jahren 1980 bis 1993 habe er vorwiegend Isolierglas- und Verbundfenster eingesetzt, die deutlich schwerer als die einfachen Berliner Altbaufenster seien. Darüber hinaus habe er, insbesondere von 1959 bis 1980, Fußbodenverlegearbeiten verrichtet. Bis 1980 hätten ihm keine Hilfsmittel zur Verfügung gestanden.

Der Senat hat zunächst mit Schreiben vom 28. Juni 1999 eine schriftliche Auskunft über das Arbeitsverhältnis des Klägers von dem Inhaber der Tischlerei Th. GmbH B. Th. eingeholt, auf dessen Schreiben vom 7. September 1999 verwiesen wird. Nachdem der Kläger geltend gemacht hat, entgegen der Angabe seines Arbeitgebers habe die Belastung mit Gewichten über 25 kg nicht nur eine Stunde pro Arbeitsschicht in Anspruch genommen, sowie entgegen der Angabe des Arbeitgebers habe ihm erst ab 1989 ein Transportmittel zur Verfügung gestanden, hat der Senat Herrn B. Th. in der mündlichen Verhandlung am 8. Februar 2000 über die beruflichen Belastungen des Klägers in der Zeit von 1959 bis 1995 bei der Tischlerei Th. GmbH uneidlich als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Anlage zur Sitzungsniederschrift vom 8. Februar 2000 Bezug genommen.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung am 8. Februar 2000 erklärt, dass er Ansprüche auf Entschädigung wegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2102 der Anlage 1 zur BKVO nicht mehr geltend mache.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 1998 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. August 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. September 1997 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen einer Berufs krankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO ab 1. Juni 1994 Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Akteninhalt verwiesen. Der den Kläger betreffende Verwaltungsvorgang der Beklagten lag dem Senat vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die frist- und formgemäß eingelegte Berufung, mit der der Kläger nur noch Entschädigungsleistungen wegen eines Bandscheibenleidens beansprucht, ist zulässig, jedoch nicht begründet. Der Senat ist ebenso wie das Sozialgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die für die Anerkennung dieser Gesundheitsschädigung als Berufskrankheit zu fordernden arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung werden nach § 547 Reichsversicherungsordnung (RVO), der hier gemäß § 212 Sozialgesetzbuch Siebentes Buch - SGB VII - zur Anwendung kommt, weil ein Versicherungsfall vor dem Außerkrafttreten des Dritten Buches der RVO am 31. Dezember 1996 (Art. 35 Nr. 1, 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes - UVEG - vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254, 1317) geltend gemacht wird, nach Eintritt eines Arbeitsunfalls gewährt, soweit die jeweiligen Voraussetzungen der begehrten Leistung erfüllt sind. Als Arbeitsunfall gilt nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO auch eine Berufskrankheit. Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, als Verletztenrente der Teil der Vollrente gewährt, der dem Grade der Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht.

Als Anspruchsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente kommt nur § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. NR. 2108 der Anlage 1 zur BKVO i.d.F. der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992 (2. ÄndVO - BGBl. I S. 2343 -) in Betracht. Hiernach sind bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, als Berufskrankheit anzusehen. Die Feststellung dieser Berufskrankheit setzt voraus, dass zum einen die arbeitstechnischen (haftungsbegründenden) Voraussetzungen in der Person des Klägers gegeben sind und dass zum anderen das typische Krankheitsbild dieser Berufskrankheit vorliegt und dieses im Sinne der unfallrechtlichen Kausalitätslehre wesentlich ursächlich auf die berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist (haftungsausfüllende Kausalität).

Die letztgenannte Voraussetzung ist, wie auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen wurde, erfüllt. Das ergibt sich aus dem im Verwaltungsverfahren auf Veranlassung der Beklagten erstatteten Gutachten des Dr. de N. vom 4. April 1995, der bei dem Kläger nach Auswertung der Röntgenaufnahmen vom 29. Juli 1994 und der Computertomographie vom 29. August 1994 in der Etage L 4 / 5 einen großen mediolateralen Prolaps und in der Etage L 5 / S 1 einen kleinen medialen Prolaps festgestellt hat, während sich in der Etage L 3 / 4 kein Hinweis auf ein Prolapsgeschehen fand. Da eine Bandscheibenschädigung in zwei Etagen des unteren Lendenwirbelsäulenbereichs gesichert ist und die höheren Segmente keinen vergleichbaren Schaden aufweisen, bestehen keine Bedenken, der auch von der Gewerbeärztin Dr. H. geteilten Auffassung des Gutachters Dr. de N. zu folgen, dass die haftungsausfüllende Kausalität nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO gegeben ist, und zwar ab Juni 1994, dem erneuten Auftreten eines lumbalen Schmerzrezidivs. Von diesem Zeitpunkt an war der Kläger - unabhängig von der durch den Kreuzbandriss am 13. September 1993 eingetretenen Arbeitsunfähigkeit - wegen der bei ihm vorliegenden bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule an der Ausübung der von ihm bis zum Beginn der Arbeitsunfähigkeit verrichteten Tätigkeit als Montagetischler gehindert. Er hat diese Tätigkeit auch aufgegeben, denn nach Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit am 13. März 1995 war er, wie von dem Zeugen Th. bestätigt wurde, weitaus überwiegend als Arbeitsvorbereiter beschäftigt und hat kaum noch körperlich belastende Tätigkeiten verrichtet. Da der Grad der MdE nach dem Ausmaß der funktionellen Einschränkungen mindestens 20 vH beträgt, wären auch die Voraussetzungen für einen Rentenanspruch gemäß § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO erfüllt. Ob, wie Dr. de N. in seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 27. März 1997 ausgeführt hat, sogar eine MdE von 30 vH angemessen ist, könnte dahinstehen, weil der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 8. Februar 2000 nur noch die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer Verletztenrente dem Grunde nach beantragt hat, wofür ein - bei dem Kläger in jedem Fall vorliegender - Grad der MdE von 20 vH ausreicht.

Der Anspruch des Klägers scheitert jedoch daran, dass unter Berücksichtigung seiner eigenen Angaben und dem Ergebnis der Beweisaufnahme die arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 nicht als erfüllt angesehen werden können. Gefordert wird hiernach „langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten“ oder „langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung“.

Nach dem „Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zu Nr. 2108“ (Bundesarbeitsblatt 3/1993 S. 50 ff., 52 - im Folgenden: Merkblatt -) sind unter Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung Arbeiten in Arbeitsräumen zu verstehen, die niedriger als 100 cm sind und damit eine ständig gebeugte Körperhaltung erzwingen. Weiterhin sind solche Arbeiten gemeint, bei denen der Oberkörper aus der aufrechten Haltung um mehr als 90 o gebeugt wird.

Soweit der Kläger geltend gemacht hat, er habe Parkettverlege- bzw. Fußbodenarbeiten in Rumpfbeugehaltung ausgeführt, konnte in der mündlichen Verhandlung am 8. Februar 2000 geklärt werden, dass, was von ihm schon im Schriftsatz vom 9. Dezember 1997 vorgetragen wurde, diese Arbeiten weit überwiegend im Knien verrichtet wurden. Diese Körperhaltung kann jedoch nicht als eine die Lendenwirbelsäule belastende Tätigkeit in extremer Rumpfbeuge angesehen werden (vgl. auch Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17. Dezember 1998 - L 2 KN 114/97 U, in HVBG-Info 1999, 2739 ff.). Eine kniende Körperhaltung hat zwar für die Berufskrankheit Nr. 2102 (Meniskusschaden), nicht jedoch für die hier noch streitige Berufskrankheit Nr. 2108 Expositionsbedeutung. Die von dem Zeugen Th. angegebenen Arbeiten beim Fußbodenverlegen, Türenreparieren und beim Scheuerleistenverlegen bedingen nicht ständig, sondern nur gelegentlich und dann auch nur kurzzeitig eine extreme Rumpfbeugehaltung, so dass sie bei der Beurteilung des Expositionsumfangs nicht berücksichtigt werden können.

Wirbelsäulenbelastend sind jedoch die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung am 8. Februar 2000 erstmals geschilderten Fensterreparaturarbeiten, die nach seiner Demonstration und der des Zeugen Th. teilweise in der Weise verrichtet wurden, dass an dem auf den Boden aufgesetzten, zwischen den Knien klemmenden Fenster Hobelarbeiten ausgeführt wurden. Hierfür war eine Beugung des Oberkörpers von mindestens 90 o erforderlich. Der Senat konnte nach mehrmaligem Befragen des Zeugen Th. unter Vorhalt früherer abweichender Angaben des Klägers ermitteln, dass dieser zu ca. 50 Prozent der Gesamtarbeitszeit Fensterarbeiten verrichtet hatte und dass dabei zu ungefähr einem Viertel (bei einem 8-Stunden-Tag also ca. eine Stunde) Hobelarbeiten in gebeugter Körperhaltung an zwischen den Knien eingeklemmten Fenstern erfolgten. Da diese Werte auf einer eingehenden Befragung des Zeugen beruhen und vom Kläger bestätigt wurden, hat der Senat keine Bedenken, sie seiner Würdigung zugrunde zu legen. Hiernach ist von einer Stunde täglich Arbeit in Rumpfbeugehaltung beim Kläger auszugehen.

Auch bezüglich des Hebens und Tragens schwerer Lasten betrug die durchschnittliche Belastung eine Stunde pro Arbeitsschicht. Nach dem Merkblatt betragen Lastgewichte, deren regelmäßiges Heben und Tragen mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule verbunden sind, bei Männern im Alter von 18 bis 39 Jahren 25 kg und ab 40 Jahren 20 kg.

Der Kläger hat nach eigenen, von der Firma Th. im Verwaltungsverfahren und von dem Zeugen B. Th. bei seiner Vernehmung bestätigten Angaben bis 1982, als er das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, schwer heben und tragen müssen. Danach habe, so hatte er angegeben, ein Tätigkeitswechsel insoweit stattgefunden, als er „nach Möglichkeit keine schweren Hebetätigkeiten“ verrichtet und er eine „leichtere Werkzeugtasche“ benutzt habe. Der Senat geht aufgrund der Angaben des Klägers und der Bekundungen des Zeugen Th. davon aus, dass der Kläger bis 1982 schwere Gegenstände mit einem Gewicht von 25 kg oder mehr in einem zeitlichen Umfang von bis zu einer Stunde pro Arbeitstag gehoben und/oder getragen hatte. Von 1982 bis 1993 sind geringere Gewichte gehoben bzw. getragen worden, da auf seine in diesem Zeitraum bereits bestehenden Beschwerden Rücksicht genommen wurde.

Zusammmenfassend steht somit zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger „langjährig“, nämlich mehr als die nach dem Merkblatt zu fordernde zeitliche Mindestgrenze von 10 Jahren, „schwere Lasten gehoben und getragen“ bzw. „in extremer Rumpfbeuge gearbeitet“ hat, und zwar in einem zeitlichen Umfang von arbeitstäglich zwei Stunden. Bei einem damals üblichen bzw. tariflich festgelegten Arbeitstag von acht Stunden beträgt somit der Zeitanteil wirbelsäulenbelastender Tätigkeit 25 Prozent.

Diese Exposition reicht jedoch nach der Auffassung des Senats zur Erfüllung der Anforderungen der Berufskrankheit Nr. 2108 nicht aus. Das Merkblatt enthält zwar keine konkrete Bestimmung über die arbeitstäglich bzw. pro Arbeitsschicht zu fordernde Zeitdauer bzw. den Zeitanteil der Hebe- und Tragevorgänge. Der Wortlaut der Nr. 2108 sowie die in dem Merkblatt hierzu enthaltene Formulierung, dass Lastgewichte „mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten gehoben oder getragen worden sein“ müssen, schließt, wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat (Urteile vom 28. Oktober 1997 - L 2 U 9/97 - und vom 24. März 1998 - L 2 U 61/97 -), die Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten aus, in denen solche Hebe- und Tragevorgänge in deutlich weniger als einem Drittel der täglichen Arbeitszeit angefallen sind (so auch Urteil des LSG Niedersachsen vom 15. September 1998 - L 3 U 333/97 - in HVBG-Info 1998, 2739, das Gegenstand einer ausführlichen Erörterung in der mündlichen Verhandlung am 8. Februar 2000 war). Der Senat hält an seiner Auffassung, dass wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten im Durchschnitt wenigstens während eines Drittels der täglichen Arbeitszeit verrichtet worden sein müssen, aus folgenden Gründen fest: Bei der Anfügung u.a. der Nr. 2108 in die Anlage 1 der BKVO ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass die Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen schädigender Einwirkung und bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lenden- und Halswirbelsäule für Berufsgruppen, bei denen außergewöhnlich hohe Belastungen der Wirbelsäule durch Heben und Tragen von Lasten oder durch Arbeit in extremer Rumpfbeugehaltung regelmäßig wiederkehrende Tätigkeitsmerkmale sind, in epidemiologischen Studien wiederholt statistisch gesichert worden ist (vgl. BR-Drucks. 773/92, zu Art. 1 Nr. 4 S. 8). Typische Berufsgruppen, für die epidemiologische Studien einen Zusammenhang zwischen Heben und Tragen von Lasten sowie zwischen extremer Rumpfbeugehaltung und Erkrankungen der Lendenwirbelsäule ergeben haben, sind Lastenträger im Transportgewerbe, Bauberufe wie Maurer, Steinsetzer oder Stahlbetonschlosser, Krankenpflegepersonal sowie Untertagearbeiter in obligaten Zwangshaltungen bei einer die Körpergröße unterschreitenden Arbeitshöhe mit statischen Elementen beim Tragen und Halten von Lasten (BR-Drucks. a.a.O., S. 9). Im Merkblatt sind als typische Berufe, bei denen Bandscheibenschäden verursachende berufliche Belastungen auftreten, genannt: Arbeiter im untertägigen Bergbau, Maurer, Steinsetzer, Stahlbetonbauer, Schauerleute, Möbel-, Kohlen-, Fleisch- und andere Lastenträger, Landwirte, Fischer, Waldarbeiter sowie Beschäftigte in der Kranken-, Alten- und Behindertenpflege. Diese Berufe sind dadurch gekennzeichnet, dass ihnen die Hebe- und Tragetätigkeit bzw. das Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung das Gepräge geben. Durch von erfahrenen Technischen Aufsichtsbeamten erarbeiteten Dokumentationen des Belastungsumfangs ist gesichert, dass für die in der oben genannten Bundesrats-Drucksache und im Merkblatt aufgeführten Berufe des Baugewerbes (Maurer, Steinsetzer, Stahlbetonbauer) ein Mindestanteil von einem Drittel wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten während der täglichen Arbeitsschicht erreicht oder überschritten wird. Nach der Dokumentation des Belastungsumfangs für Maurer im Hochbau, Stand Januar 1996, beträgt der Anteil der mit dem Heben und Tragen schwerer Lasten und extremer Rumpfbeugehaltung verbundenen Tätigkeiten sogar 50 Prozent. Die in der BR-Drucks. 773/92 und im Merkblatt genannten Berufe stellen die maßgebliche Beurteilungsgrundlage für den zu fordernden Expositionsumfang dar. Die für diese typischen Berufe aufgrund epidemiologischer Studien ermittelten Expositionsdaten bilden den Maßstab für die Expositionsbewertung bei anderen Berufen. Angehörige eines anderen (nichttypischen) Berufes im Sinne der Berufskrankheit Nr. 2108 können eine Gleichstellung mit den typischen Berufsgruppen nur dann beanspruchen, wenn im Einzelfall eine vergleichbare Exposition festgestellt werden kann.

Das ist im Fall des Klägers nicht gelungen. Bei ihm ist von einer Exposition von 25 Prozent der täglichen Arbeitszeit auszugehen, die zwar nicht erheblich, jedoch deutlich unter der Drittelgrenze liegt.

Die fehlende tägliche Exposition kann entgegen der von der Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung geäußerten Rechtsauffassung nicht dadurch kompensiert werden, dass der Versicherte deutlich länger als die geforderte Mindestgesamtbelastungszeit von zehn Jahren wirbelsäulenschädigend gearbeitet hat, hier sogar ca. 30 Jahre. Zu fordern ist das Heben und Tragen von Lasten bzw. das Arbeiten in Rumpfbeugehaltung „mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häu-figkeit“. Dadurch ist zum Ausdruck gebracht, dass auch in kurzen Zeitabschnitten jeweils eine bestimmte Belastungsdosis erreicht worden sein muss. Durch die Forderung nach „langjähriger“ belastender Tätigkeit wird zusätzlich eine bestimmte Gesamtbelastungsdosis verlangt. Beide Voraussetzungen, Regelmäßigkeit und Häufigkeit sowie Langjährigkeit, müssen erfüllt sein. Es kann nicht ein Minus an Regelmäßigkeit und Häufigkeit durch ein Mehr an Langjährigkeit ausgeglichen werden. Das würde sich auch nicht mit den im Merkblatt genannten „typischen Berufsbildern“ in Einklang bringen lassen, die gerade dadurch gekennzeichnet sind, dass Hebe- und Tragetätigkeiten bzw. Rumpfbeugearbeiten tagtäglich in erheblichem Umfang anfallen.

Soweit in der Fachdiskussion bestimmte Modelle zur Ermittlung der beruflichen Exposition entwickelt worden sind (Pangert/Hartmann, 1991, auf deren Konzept die Stellungnahme des TAD der Beklagten vom 1. September 1997 beruht; Hartung/Dupuis, BG 1994, S. 452 ff. oder das Mainz-Dortmunder-Dosismodell - MDD -), hält der Senat diese Berechnungsmethoden - jedenfalls in dem vorliegenden Fall - nicht für praktikabel. Gerade dieser Fall zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten bei der Anwendung der o.g. Berechnungsmodelle. Obwohl der Kläger nur bei einem einzigen Arbeitgeber beschäftigt war und obwohl er und der Arbeitgeber schriftlich und persönlich im Verwaltungsverfahren und erneut im gerichtlichen Verfahren befragt wurden, war es nicht möglich, Art und Ausmaß seiner wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit in einer Weise zu klären, dass sich eine verwertbare Berechnung nach dem Verfahren Hartung/Dupuis oder dem MDD hätte durchführen lassen. Die vom Kläger im Laufe des Verfahrens gemachten Angaben waren ungenau, unklar, missverständlich und teilweise widersprüchlich. Das gilt auch für die Bekundungen des Zeugen Th. , der erst nach mehrfacher eingehender Befragung des Gerichts Angaben gemacht hat, die zwar eine Beurteilung darüber zulassen, ob die Drittelgrenze der täglichen Belastung erreicht worden ist, für eine Berechnung nach einem der vorgenannten Modelle aber keine verwertbare Grundlage darstellen können. Ähnliche Erkenntnisse hat der Senat aus vergleichbaren Verfahren gewonnen, bei denen die Schwierigkeiten deshalb noch größer waren, weil sich die Versicherten häufig in einer Vielzahl von Arbeitsverhältnissen befanden und weder von ihnen noch von den Arbeitgebern detaillierte Auskünfte zu erhalten waren, wie sie zur Berechnung nach dem MDD erforderlich wären.

Soweit sich in dem vorliegenden Fall die Beklagte auf die Berechnung des Dipl.-Chemikers M. vom 1. September 1997, der die Angaben des Klägers zugrunde liegen sollen, gestützt hat, hält der Senat diese Berechnung nicht für verwertbar, weil der Kläger bestritten hat, die vom Technischen Aufsichtsbeamten zugrunde gelegten Angaben in dieser Form gemacht zu haben. Außerdem ist es äußerst zweifelhaft, ob der Kläger beispielsweise die von Herrn M. zugrunde gelegten Gewichte auch nur annähernd abschätzen konnte, so dass schon aus diesem Grunde erhebliche Zweifel an der Genauigkeit der Berechnungen des Technischen Aufsichtsbeamten bestehen.

Der Senat hält es für ausgeschlossen, dass im vorliegenden Fall aufgrund der jetzt von ihm ermittelten Fakten eine Berechnung der Gesamtbelastungsdosis nach dem von den Berufsgenossenschaften zur Zeit favorisierten MDD erfolgen könnte. Weitere Ermittlungsmöglichkeiten als die persönliche Anhörung des Klägers und die schriftliche Befragung und Zeugenvernehmung des (einzigen) Arbeitgebers bestehen nicht.

Da der Kläger eine wirbelsäulenbelastende Tätigkeit in weniger als einem Drittel der täglichen Arbeitszeit verrichtet hatte, erfüllt er die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Feststellung der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO nicht. Seine Berufung konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat der Senat die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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