L 2 U 221/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 98 U 745/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 221/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juni 2006 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Auf die Anschlussberufung des Klägers wird die Kostenentscheidung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juni 2006 geändert. Die Beklagte trägt auch die Kosten des Sozialgerichtsverfahrens. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 6.453,00 EUR festgesetzt. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über eine rückwirkende Erhöhung von Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung für die Jahre 1999 bis 2001.

Der Kläger betreibt drei Hotels und ist Mitglied der Beklagten. Mit Bescheid vom 10. August 1999 veranlagte die Beklagte den Kläger entsprechend ihrem ab 1. Januar 1999 geltenden Gefahrtarif in dessen Gefahrtarifstelle 4, die für "Küche und alle sonstigen Tätigkeiten ohne Büro/Verwaltung" die Gefahrklasse 4,50 vorsieht, und in dessen Gefahrtarifstelle 33 "Büro/Verwaltung" mit der Gefahrklasse 1,00. Mit Beitragsbescheid vom 5. April 2000 setzte die Beklagte gegenüber dem Kläger den Bruttobeitrag (inklusive Fremdumlagen) für das Jahr 1999 auf 15589,88 DM fest, der u.a. Beiträge zur Eigenumlage von 10.855,35 DM für 561.000 DM Brutto-Arbeitsentgelt in der Gefahrklasse 4,50 und 2487,98 DM für ein Gesamt-Entgelt (unter Einbezug des versicherten Unternehmers) von 578.600 DM in der Gefahrklasse 1,00 enthielt. Abzüglich eines Beitragsnachlasses in Höhe von 667,17 DM ergab sich ein Nettobeitrag zur Eigenumlage in Höhe von 12.676,16 DM. Die Arbeitsentgelte entnahm sie den Angaben des Klägers im "Nachweis zur Beitragsberechnung 1999".

Mit berichtigtem Beitragsbescheid vom 25. Mai 2001 setzte die Beklagte den Bruttobeitrag (inklusive Fremdumlagen) für das Jahr 2000 auf der Grundlage eines Beitrages von 11.550, 29 DM in der Gefahrklasse 4,50 (Brutto-Arbeitsentgelt von 588.700) und eines Beitrages von 2.693,61 DM in der Gefahrklasse 1,00 (Brutto-Arbeitsentgelt 617.800) auf insgesamt 16.336,28 DM (= 8352,61 EUR) fest, wobei sie die Angaben des Klägers im "Nachweis zur Beitragsberechnung 2000" vom 13. Februar 2001 zugrunde legte. Abzüglich eines Beitragsnachlasses in Höhe von 997,07 DM ergab sich ein Nettobeitrag zur Eigenumlage von 13.246,83 DM.

Auch im Beitragbescheid vom 11. April 2002 setzte die Beklagte die – in EUR umgerechneten- Angaben im "Nachweis zur Beitragsberechnung 2001" vom 28. Februar 2002 um und gelangte zu einer Beitragsforderung in Höhe von insgesamt 9.623,22 EUR, entsprechend 6.736,88 EUR für ein Gesamtarbeitsentgelt in der Gefahrklasse 4,50 von 341.800 EUR und 1.420,43 EUR in der Gefahrklasse 1,00 für ein Gesamtarbeitsentgelt von 324.300 EUR. Der Nettobetrag zur Eigenumlage belief sich auf 7.586, 30 EUR.

In einem Prüfbericht vom 6. November 2002 gelangte der Prüfer M zu dem Ergebnis, dass ein niedrigeres Gesamtentgelt für den Bürobereich anzusetzen sei, nämlich 129.566 EUR für 1999, 137.300 EUR für 2000 und 115.700 EUR für 2001.

Mit Datum vom 13. Dezember 2002 erließ die Beklagte Beitragsbescheide für die Jahre 1999 bis 2001, die sie als berichtigte Bescheide aufgrund der Lohnbuchprüfung am 6. November 2002 bezeichnete. Es ergaben sich höhere Beiträge auf der Grundlage eines Bruttobeitrags von 10.499,09 EUR für 1999, von 10.887,42 EUR für 2000 und von 12.597, 21 EUR für 2001.

Mit dem Widerspruch hiergegen machte der Kläger geltend, ihm sei mündlich erläutert worden, die Entgelte der Mitarbeiter des Hotelverwaltungsbereiches müssten eventuell anderen Gefahrklassen zugeordnet werden, weil diese keine Bürotätigkeiten ausübten. Dies sei nicht nachvollziehbar, weil diese Mitarbeiter keinen höheren Gefahren ausgesetzt seien als andere Verwaltungsmitarbeiter. Dass keine räumliche Trennung eines separaten Büroraumes vorliege, könne nicht ausschlaggebend sein. Daraufhin erfolgte eine erneute Prüfung, die einem Schreiben der Beklagten vom 11. Juli 2003 zufolge eine weitere Korrektur erforderlich mache und zu einer weiteren Nachforderung von cirka 4.400 EUR führe. Die Beklagte erläuterte in diesem Schreiben die der Beitragserhebung zugrunde liegende Berechnung dahingehend, dass ein Gewerbezweiggefahrtarif gegeben sei, der hinsichtlich der bereichsspezifischen Gefahrklassen für die jeweilige Gefahrtarifstelle von den durchschnittlichen Risiken aller Arbeitstätigkeiten in den jeweiligen Gewerbezweigen ausgehe. Die Aufnahme einer eigenen Tarifstelle für den Bürobereich stelle eine tätigkeitsbezogene Durchbrechung des Grundprinzips dar und erfasse nur die vergleichbar bei allen Mitglieds-Unternehmen in ähnlicher Weise vorkommende Tätigkeit im Hilfsunternehmensbereich Büro, nicht aber die Arbeitsleistung von Mitarbeitern im Gefährdungsbereich Empfang-Front-Officebereich. Dabei handele es sich vielmehr um eine die Organisationsstruktur eines Hotels charakterisierende gewerbezweigspezifische Tätigkeit für ein Unternehmen der Gewerbegruppe 16.

Auf der Grundlage des Betriebsprüfungsberichtes vom 11. Juli 2003, der nochmals verringerte Gesamtentgelte für den Bürobereich in Höhe von 92.147 EUR für 1999, 86.400 EUR für 2000 und 86.400 EUR für 2001 aufwies, berechnete die Beklagte in drei Bescheiden vom 17. Oktober 2003 den Bruttobeitrag (inklusive Fremdumlage) für 1999 mit 11.027,49 EUR, für 2000 mit 11607,68 EUR und 2001 mit 13.012,79 EUR. Diese Bescheide bezog sie in das Widerspruchsverfahren ein und wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 20. November 2003 zurück. Zu den kaufmännischen oder verwaltenden Tätigkeiten im Bürobereich der Unternehmen, die nach der Gefahrtarifstelle 33 veranlagt würden, zählten Tätigkeiten in der Organisation, dem Rechnungswesen, der Finanzwirtschaft, der Personalverwaltung oder der Sachverwaltung. Bei dem Büro müsse es sich um einen Bereich handeln, der nur mittelbar den eigentlichen Zweckaufgaben des Betriebes diene, indem er den reibungslosen Betriebsablauf durch die Betreuung des gesamten Betriebes gewährleiste, mit typischen Büroeinrichtungen und Bürogeräten ausgestattet sei, in dem sonst keine weiteren gewerbezweigsspezifischen Tätigkeiten ausgeübt würden und der räumlich von anderen Unternehmensteilen getrennt sei. Eine räumliche Trennung der verschiedenen Unternehmensbereiche liege nur dann vor, wenn diese durch vom Boden bis zur Decke reichende, fest eingebaute bauliche Abtrennungen wie Mauern und Wände voneinander abgegrenzt seien. Die Gründe für die vorgenommene Veränderung der Entgeltzuordnungen zu den veranlagten Unternehmensbereichen seien dem Kläger "in den Prüfungen am 6. November 2002 und 23. Juni 2003 genannt" worden.

Mit der dagegen vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, erstmals im Widerspruchsbescheid sei der Begriff "Bürobereich" von der Beklagten definiert worden. Es sei nicht nachzuvollziehen, weshalb spezielle Anforderungen an die Tätigkeit im Büro gestellt würden. Dabei handele es sich um willkürliche Festlegungen. Abgesehen davon sei die Empfangshalle vom Bereich Küche, Hotelzimmer etc. getrennt. Des Weiteren sei die Erhebung der Insolvenzgeldumlage verfassungswidrig. Auf weitere Einwendungen des Klägers zur Frage des Gefahrenpotentials der einzelnen Tätigkeiten hat die Beklagte mit Schreiben vom 28. Juni 2005 an den Kläger auf § 168 Abs. 2 S. 2 SGB VII verwiesen. Das durch den Wortlaut des § 168 Abs. 2 SGB VII grundsätzlich eingeräumte Ermessen tendiere gegen Null, wenn die Interessen aller in der Beklagten zusammengeschlossenen Unternehmen als Solidargemeinschaft im Sinne der Beitragsgerechtigkeit berührt werde. Ein Verzicht auf die Beitragsnachberechung würde eine Mehrbelastung der Solidargemeinschaft bedeuten. Der Belastungsgleichheit sei Vorrang vor den einzelnen Interessen des Klägers einzuräumen.

Durch Urteil vom 19. Juni 2006 hat das Sozialgericht die angefochtenen Beitragsbescheide für die Jahre 1999 bis 2001 aufgehoben. Diese Bescheide seien rechtswidrig und durch § 168 Abs. 2 SGB VII nicht gedeckt. Danach dürfe der Unfallversicherungsträger Beitragsbescheide für die Vergangenheit nur dann aufheben, wenn der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthalte. Die Verwendung des Wortes "darf" kennzeichne im allgemeinen Sprachgebrauch des Verwaltungsrechts, dass eine Entscheidung in das Ermessen der Behörde gestellt werden solle. Es könne dahingestellt bleiben, ob die ursprünglichen Beitragsbescheide hinsichtlich der Zuordnung der Gehälter zu den Gefahrtarifstellen unrichtige Angaben enthielten, da die jetzt angefochtenen Bescheide rechtswidrig seien, weil die Beklagte keine Ermessenentscheidung getroffen habe. Eine Ermessenentscheidung sei auch nicht deswegen entbehrlich, weil die Aufhebung der Bescheide die einzig rechtmäßige Entscheidung gewesen wäre. Der Verweis der Beklagten auf die Interessen aller in der Berufsgenossenschaft zusammengeschlossenen Unternehmen an einer möglichst weitgehenden Beitragsgerechtigkeit ersetze keine Ermessensentscheidung im Einzelfall, da dieser Gesichtspunkt auf alle von § 168 Abs. 2 SGB VII erfassten Fällen zutreffe und keine Ermessensentscheidung im Einzelfall ersetze. Dafür, dass der Kläger vorsätzlich falsche Angaben gemacht habe, ergebe sich angesichts der nicht eindeutigen Abgrenzung zwischen Bürobereich und sonstigen Tätigkeiten kein Anhaltspunkt.

Mit der hiergegen eingelegten Berufung macht die Beklagte geltend, es sei bislang strittig, ob es sich bei § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII um eine Ermessensvorschrift handele. Dagegen spreche, dass das Bundessozialgericht (BSG) bei der Anwendung der Vorgängervorschrift des § 749 RVO eine Ermessensausübung nicht für erforderlich gehalten habe. Selbst wenn es sich um eine Ermessensvorschrift handele, müsse das Ermessen gegen Null tendieren.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juni 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

sowie im Wege der Anschlussberufung,

der Beklagten die Kosten des Verfahrens erster Instanz aufzuerlegenEr macht geltend, dass die Beitragsnachforderung für ihn eine unbillige Härte darstelle, da er nie darüber aufgeklärt worden sei, nach welchen Kriterien er die Mitarbeiter den einzelnen Gefahrklassen zuzuordnen habe. Dass auch rein verwaltende Mitarbeiter der Gefahrklasse 4,5 zuzuordnen seien, habe er erst bei der Betriebsprüfung im November 2002 erfahren.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht hat zutreffend ausgeführt, dass die Beitragsbescheide der Beklagten für die Jahre 1999 bis 2001 vom 13. Dezember 2002 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 17. Oktober 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2003 rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen.

Nach § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII darf der Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten der Beitragspflichtigen nur dann aufgehoben werden, wenn der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthält. Die Angaben des Klägers in seinen Lohnnachweisen waren für die streitigen Jahre unrichtig im Sinne der zitierten Vorschriften, da sie den Vorgaben des ab 1. Januar 1999 geltenden Gefahrtarifs, unter denen eine Zuordnung der Entgelte zur Gefahrtarifstelle 33 erfolgen kann, nicht entsprach.

Die angefochtenen Bescheide sind gleichwohl rechtswidrig, so dass sie aufzuheben waren. Denn § 168 Abs. 2 SGB VII setzt die Ausübung von Ermessen voraus, welches durch die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden nicht ausgeübt worden ist. Der Senat sieht keine Veranlassung, von seiner im Urteil vom 20.März 2007, L 2 U 46/03, vertretenen Auffassung abzuweichen. Danach ist die Entscheidung nach § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII eine Ermessensentscheidung (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. Februar 2004, Az.: L 2 ER 59/03 U, NZS 2004, 602; Freischmidt in Hauck, Sozialgesetzbuch SGB VII, K § 168 SGB VII Rdnr. 11, Platz in Lauterbach, SGB VII, 4. Aufl., § 168 Rdnr. 4, Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 168 Rdnr. 4, und umfassend SG Berlin, Urteil vom 24. Februar 2006, Az.: S 67 U 585/04; anderer Ansicht Ricke in Kasseler Kommentar, § 168 SGB VII Rdnr. 4). Für die Notwendigkeit, eine Ermessensentscheidung zu treffen, spricht der Wortlaut der Vorschriften ("darf"). Hätte der Gesetzgeber den Unfallversicherungsträgern nicht bloß die Möglichkeit einräumen, sondern sie verpflichten wollen, beim Vorliegen einer der tatbestandlichen Alternativen des § 168 Abs. 2 SGB VII rückwirkend höhere Beiträge als die ursprünglich festgesetzten zu erheben, hätte er die Formulierung "wird aufgehoben, wenn ..." oder "wird nur aufgehoben, wenn ..." gewählt (vgl. die Formulierungen in § 160 SGB VII). Auch zum gleich lautenden § 45 Abs. 1 SGB X, zu dem § 168 Abs. 2 SGB VII eine Sondervorschrift darstellt, ist für alle Bereiche des SGB die Notwendigkeit einer Ermessensausübung anerkannt (Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 45 SGB X Rdnr. 50 m. w. N.). Sinn und Zweck des § 168 Abs. 2 stehen dem nicht entgegen. Den Gesetzesmaterialien ist Abweichendes ebenfalls nicht zu entnehmen. Zur Neuregelung durch das Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz ist in der Gesetzesbegründung lediglich ausgeführt, dass § 168 Abs. 2 die Fälle aufzähle, in denen ein Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten des Unternehmens aufgehoben werden könne. Sie entspreche "im Wesentlichen dem geltenden Recht (§ 749 RVO)" (BT Drs. 13/2204, zitiert nach Hauck, a. a. O., M 010, Seite 86). Das BSG hat zu § 749 RVO eine Ermessensausübung, soweit ersichtlich, zwar nicht geprüft, das Erfordernis einer derartigen Ermessensausübung aber auch nicht verneint (vgl. BSG, Urteile vom 12. Dezember 1985, Az.: 2 RU 49/84 und 2 RU 30/85, SozR 2200 § 734 Nr. 5 und 6). Dahingestellt bleiben kann, ob – wie die Beklagte vorträgt - das Ermessen im Falle des § 168 Abs. 2 SGB VII deutlich reduziert ist. Selbst wenn man in Anbetracht der Verpflichtung zur rechtzeitigen und vollständigen Erhebung von Beiträgen zu diesem Ergebnis kommen mag, macht dies doch nicht grundsätzlich die gesetzlich angeordnete Ausübung des Ermessens entbehrlich; eine Ermessensreduzierung auf Null folgt hieraus bereits deshalb nicht, weil es sich um eine Nacherhebung zu einer bereits stattgefundenen Beitragserhebung handelt, hinsichtlich derer möglicherweise in bestimmten Fällen Vertrauensschutz zu gewähren ist.

§ 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X schreibt für Ermessensentscheidungen eine erweiterte Begründungspflicht vor; danach muss die Begründung diejenigen Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) besteht auf eine pflichtgemäße Ermessensausübung ein Anspruch; bei völligem Ausfall des Ermessens ist der Verwaltungsakt nach § 54 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG rechtswidrig. Vorliegend hat die Beklagte bei Erlass der angefochtenen Bescheide ihre Pflicht zur Ermessensausübung verkannt und eine Ermessensausübung nicht vorgenommen, was zur Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Bescheide führt.

Dieses Versäumnis ist nicht durch die im Schriftsatz vom 28. Juni 2005 enthaltenen Ermessenserwägungen geheilt worden. Nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 SGB X kann zwar eine erforderliche Begründung eines Verwaltungsaktes noch bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozialgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. § 41 Abs. 2 SGB X ermöglicht jedoch trotz der Neufassung nicht das erstmalige Anstellen von zuvor unterbliebenen Ermessenserwägungen noch während des gerichtlichen Verfahrens. Die Änderung des § 41 Abs. 2 SGB X erfolgte in Anlehnung an die verwaltungsprozessuale Regelung des § 45 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), wonach ebenfalls eine erforderliche Begründung bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden kann. Zur möglichen Nachholung von Ermessenserwägungen enthält jedoch für das verwaltungsgerichtliche Verfahren § 114 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) eine gesonderte Regelung, wonach die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren "ergänzen" kann. Eine derartige Regelung ist im SGG nicht enthalten. Auch § 114 Satz 2 VwGO schafft jedoch lediglich die prozessualen Voraussetzungen dafür, dass die Behörde defizitäre Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen kann, nicht hingegen dafür, dass sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 05. September 2006, Az.: 1 C 20/05, DVBL 2007, 260 m. w. N.). Dementsprechend ermöglicht auch § 41 Abs. 2 SGB X jedenfalls nicht das erstmalige Anstellen von Ermessenserwägungen im Prozess bei vorherigem Ermessensausfall.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Auf die Anschlussberufung war die Kostenentscheidung des Urteils des Sozialgerichts zu ändern. Da das Sozialgericht nicht über die Kosten des gerichtlichen Verfahrens entschieden hatte, war die Kostenentscheidung insoweit zu ergänzen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die Zulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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