L 1 RA 44/00

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 1 RA 163/97
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 1 RA 44/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Klägerin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Beigeladenen auch für den Zeitraum zwischen dem 1. Juli 1991 und dem 2. Januar 1997 von der Versicherungspflicht zu befreien hat.

Die 1941 geborene Klägerin war bereits seit längerer Zeit als Zahnärztin tätig. Zum 1. Juli 1991 ließ sie sich als selbstständige Zahnärztin in einer eigenen Praxis nieder. In der Folgezeit versandte die Beigeladene Hinweisschreiben vom 29. Juli 1991 über die allgemeinen Möglichkeiten einer Versicherung in ihrem Altersversorgungswerk. Dabei wies sie darauf hin, die Mitgliedschaft im Altersversorgungswerk ermögliche eine Befreiung von der Versicherungspflicht bei der Beklagten. Sie fügte dem Schreiben Befreiungsanträge bei und bat um deren Rücksendung spätestens bis zum 30. September 1991. Wegen weiterer Informationen verwies sie auf Ausführungen in den Zahnärztlichen Nachrichten vom Juni 1991.

Auf einen entsprechenden Antrag der Klägerin nahm die Beigeladene sie mit Bescheid vom 24. Februar 1992 mit Wirkung vom 1. Juli 1991 als Mitglied in ihr Versorgungswerk auf.

Mit einem am 2. Januar 1997 bei der Beigeladenen und am 7. Januar 1997 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben beantragte die Klägerin die Befreiung von der Pflichtversicherung bei der Beklagten, die diese mit Bescheid vom 4. März 1997 vom 2. Januar 1997 an aussprach. Zur Begründung führte die Beklagte aus, die Befreiung wirke erst vom Eingang des Antrages an, da der Antrag nicht innerhalb von drei Monaten nach Beginn der Versicherungspflicht im Sinne von § 6 Abs. 4 SGB VI gestellt worden sei.

Gegen den Bescheid legte die Klägerin mit Eingangsdatum bei der Beklagten vom 18. März 1997 Widerspruch ein, den sie damit begründete, sie habe von der Beigeladenen keinen Hinweis auf die Befreiungsmöglichkeit erhalten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. August 1997 wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch zurück. Sie führte aus, die Befreiung sei gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI zu Recht mit Wirkung vom 2. Januar 1997 ausgesprochen worden. § 6 Abs. 4 SGB VI ermögliche die Befreiung nur dann vom Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen an, wenn sie innerhalb von drei Monaten beantragt werde. Die Beigeladene habe sie mit Schreiben vom 29. Juli 1991 über Befreiungsmöglichkeiten und Antragsfristen informiert. Insoweit lägen keine Gründe vor, aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches abweichend zu entscheiden. Eine Nachsichtgewährung komme nicht in Betracht, weil fehlendes Verschulden der Klägerin an einer rechtzeitigen Antragstellung nicht festzustellen sei.

Die Klägerin hat mit der am 3. September 1997 beim Sozialgericht Dessau eingegangenen Klage geltend gemacht, sie habe alle Praxisunterlagen dem Steuerberater überlassen, der sie nicht auf die Möglichkeit eines Befreiungsantrages hingewiesen habe. Um die geschäftlichen Dinge habe sich außerdem ihr Ehemann als Mitinhaber der Praxis gekümmert. Die Zeit, schriftlichen Hinweisen der Beigeladenen nachzugehen, habe ihm und auch ihr im Hinblick auf die Arbeit und die Bedürfnisse der Familie gefehlt. Erst im Rahmen ihrer Rentenantragstellung sei ihr das Versäumnis aufgefallen. Aufforderungen zur Zahlung habe sie von der Beklagten nie erhalten. Den Regelbeitrag für den genannten Zeitraum in Höhe von 33627,- DM könne sie nicht aufbringen. Die Hinweise der Beigeladenen, die die Beklagte sich zurechnen lassen müsse, seien auch nicht deutlich genug. Auf die Befreiungsmöglichkeiten des § 229a SGB VI sei sie überhaupt nicht hingewiesen worden.

Mit Urteil vom 16. Dezember 1999 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, wegen des Fehlens einer früheren Antragstellung sei die Klägerin weder gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI, noch gemäß § 20 SVG noch gemäß § 229a Abs. 1 S. 1 SGB VI von der Versicherungspflicht zu befreien gewesen.

Von den Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fehle es schon an der Pflichtverletzung. Die Beigeladene – der Beklagten zuzurechnen – habe durch das Schreiben vom 29. Juli 1991 ausführlich auf die Möglichkeiten hingewiesen. Dem Anschreiben seien sogar standardmäßig Befreiungsanträge beigefügt gewesen. Selbst wenn dies bei der Klägerin nicht der Fall gewesen sein sollte, hätte sie den Hinweis auf entsprechende Anlagen zum Anlass für die nachträgliche Anforderung nehmen müssen.

Für die Beklagte selbst habe sich kein Beratungsanlass ergeben, weil vor dem Befreiungsantrag kein Verwaltungsverfahren anhängig gewesen sei, anlässlich dessen sich die Gestaltungsmöglichkeit der Befreiung habe aufdrängen müssen. Für eine Nachsichtgewährung, gleichbedeutend für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X gälten die gleichen Gesichtspunkte.

Mit der nach Zustellung des Urteils am 20. April 2000 am 18. Mai 2000 eingegangenen Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Mit Bescheid vom 31. August 2001 hat die Beklagte die begehrte Befreiung auch nach § 231 Abs. 6 SGB VI mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin sei am 31. Dezember 1998 nicht mehr versicherungspflichtig gewesen.

Die Klägerin führt aus, die Beigeladene hätte zur Erfüllung ihrer Informationspflichten jeden Zahnarzt in Sachsen-Anhalt individuell informieren müssen. Schon gar nicht könne sich die Beklagte darauf berufen, das Verhalten der Beigeladenen sei ihr nicht zuzurechnen. Denn die Beklagte selbst habe überhaupt keine Informationen erteilt. Jedenfalls sei nunmehr die Befreiung nach § 231 Abs. 6 SGB VI auszusprechen. Nach der in dieser Vorschrift vorgenommenen Aufteilung der Vorsorgemaßnahmen müsse sie mindestens in deren entsprechender Anwendung befreit werden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau vom 16. Dezember 1999 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 4. März 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. August 1997 abzuändern und den Bescheid vom 31. August 2001 aufzuheben und

die Beklagte zu verpflichten, ihre Befreiung von der Versicherungspflicht mit Wirkung vom 1. Juli 1991 festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie führt ergänzend aus, selbst ein Beratungsfehler sei ihr nicht zuzurechnen. Denn die Beigeladene sei kein Leistungsträger im Sinne von § 12 SGB I.

Die Beigeladene hat sich nicht geäußert.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Die Akte der Beklagten – Vers.-Nr. – hat und bei der Beratung vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144 Abs. 1 S. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat keinen Erfolg.

Der Bescheid der Beklagten vom 4. März 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. August 1997 beschwert die Klägerin im angefochtenen Umfang nicht im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 2 S. 1 SGG, weil er insoweit rechtmäßig ist. Denn die Klägerin hatte keinen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht für den Zeitraum vor Januar 1997.

Die Klägerin war gemäß § 10 Abs. 1 des Gesetzes über die Sozialversicherung (SVG) vom 28.6.90 (GBl. I der DDR, S. 486) als Bezieherin eines Arbeitseinkommens (aus selbstständiger Tätigkeit) pflichtversichert, weil keine anderweitige Bestimmung in Rechtsvorschriften bestand. Diese Vorschrift galt gemäß Anl. II Kap. VIII Sachg. F Abschnitt III Maßgabe 2b S. 1 zum Einigungsvertrag (Gesetz v. 23.9.90, BGBl. II S. 885) für den Bereich der Rentenversicherung bis zum 31. Dezember 1991 weiter. Die Versicherungspflicht bestand gemäß § 229a Abs. 1 S. 1 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) in der Fassung durch Gesetz vom 25.7.91 (BGBl. I S. 1606) fort.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht vor Januar 1997 gemäß § 20 SVG, weil diese Befreiungsgrundlage nach der genannten Vorschrift des Einigungsvertrages mit Ablauf des 31. Dezember 1991 ohne vorherige Antragstellung durch die Klägerin außer Kraft getreten ist.

Sie hat auch keinen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht gemäß § 229a Abs. 1 S. 1 SGB VI, weil danach der Antrag bis zum 31. Dezember 1994 gestellt sein musste und dies bei ihr nicht der Fall war.

Sie hat gemäß § 6 Abs. 4 SGB VI (i.d.F. durch G. v. 28.12.89, BGBl. I S. 2261) keinen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht vor dem Antragsmonat Januar 1997, weil danach die Befreiung nur dann vom Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen an wirkt, wenn sie innerhalb von drei Monaten – nach deren Eintritt – beantragt wird. Diese Voraussetzungen lagen spätestens mit Erteilung des Bescheides vom 24. Februar 1992 vor, wie sich aus der Bestätigung der Beigeladenen vom 2. Januar 1997 auf dem Antragsvordruck zur Befreiung von der Versicherungspflicht ergibt, ohne dass der Antrag innerhalb der Rückwirkungsfrist eingegangen wäre.

Ein Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht ergibt sich auch nicht aus § 231 Abs. 6 SGB VI (i.d.F. durch G. v. 3.4.01, BGBl. I S. 47), weil die Klägerin entgegen § 231 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 SGB VI vor dem 31. Dezember 1998 Kenntnis von der Versicherungspflicht erlangt hat, wie sich aus ihrem bereits im Januar 1997 gestellten Befreiungsantrag ergibt. Gegen die Ungleichbehandlung der Klägerin gegenüber vergleichbaren Versicherten, die später von der Versicherungspflicht Kenntnis erlangt haben, sind auch vor dem Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes keine durchgreifenden Einwände ersichtlich. Der Gesetzgeber musste bei der Wahl des Stichtages darauf Bedacht nehmen, dass in länger zurückliegenden Fällen Betroffene bereits unfreiwillig, aber endgültig Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet und andere Vorsorgemaßnahmen aufgegeben hatten. Diesem Personenkreis gegenüber durfte er Versicherte, die gesetzlich fällige Beiträge noch nicht entrichtet hatten, nicht aus diesem gesetzesfremden Grund besser behandeln. Für den Zeitraum nach dem Stichtag war für den Gesetzgeber hingegen die gewollte und sachlich nachvollziehbare Gleichbehandlung mit dem Personenkreis des § 231 Abs. 5 SGB VI (BT-Drs. 14/5095 S. 9) ausschlaggebend.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf eine weiter zurück wirkende Befreiung von der Versicherungspflicht im Wege des Sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Bei der Beklagten selbst fehlt es insoweit bereits an einer Pflichtverletzung, die die Klägerin in einer Verletzung der Beratungspflicht des § 14 S. 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) sieht. Denn es fehlt der erforderliche konkrete Anlass, um diese Pflicht auszulösen (BSG, Urt. v. 22.10.96 – 13 RJ 69/95 – SozR 3 – 1200 § 14 Nr. 22), weil die Beklagte nach Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit bis zu dieser Zeit nicht mit einem Vorgang der Klägerin befasst war.

Ein Verhalten der Beigeladenen ist der Beklagten nicht zuzurechnen, weil die Aufgabenbereiche der Beklagten und der Beigeladenen nicht in der erforderlichen Weise miteinander verzahnt sind. Die betroffenen Behörden müssen nämlich vom Gesetzgeber im Sinne einer Funktionseinheit arbeitsteilig in ein Verfahren eingeschaltet sein, die Zuständigkeitsbereiche beider Stellen sachlich-rechtlich eng miteinander verknüpft sein (BSG, a.a.O.). Dies ist hier nicht der Fall, weil die Beigeladene nicht in den Vorgang der Entstehung oder Beendigung sozialer Rechte einbezogen ist. Der gesetzlichen Regelgestaltung nach bietet sie eine zusätzliche Altersversorgungsmöglichkeit, die die Rechte und Pflichten auf dem Gebiet des Sozialrechts unberührt lässt. Die erforderliche zwingende Nähe einer möglicherweise unterlassenen Beratung zu einem sozialrechtlichen Gestaltungsrecht fehlt schon deshalb, weil Ergebnis auch der Rat zu einem Verzicht auf den Beitritt zum Versorgungswerk sein kann, der eine sozialrechtliche Ge-staltungsmöglichkeit überhaupt nicht berührt.

Schließlich ist der Klägerin auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 Abs. 1 S. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) zu gewähren. Es fehlt bereits an der Versäumung einer gesetzlichen Frist, weil die Klägerin den Befreiungsantrag jederzeit stellen konnte. Dementsprechend handelt es sich bei der zeitlich begrenzten Rückwirkung der Antragstellung nach § 6 Abs. 4 SGB VI um eine sachlich-rechtlich gewollte, verschuldensunabhängige Regelung. Denn diese muss zur Vermeidung von Widersprüchen ebenso zwingend einsetzen, wie die allgemeine Verschiebung der Befreiungswirkung mit der Antragstellung.

Die von der Beklagten geprüfte Nachsichtgewährung kommt als Folge eines eigenständigen Rechtssatzes nicht mehr in Betracht, weil sie durch § 27 SGB X verdrängt ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen gemäß § 160 Abs. Nr. 1, 2 SGG nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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