L 1 RA 121/00

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 1 RA 103/98
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 1 RA 121/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte zur Feststellung einer Zugehörigkeit des Klägers zum Sonderversorgungssystem des Ministeriums für Staatssicherheit ermächtigt ist.

Der im März 1936 geborene Kläger war seit 1950 versicherungspflichtig beschäftigt und trat am 27. April 1954 als Soldat in das Wachregiment B. ein, dem er bis zum 31. Dezember 1957, seit dem 1. Februar 1955 als Gefreiter, angehörte. In seiner Kaderkarte ist als Grund für die Entlassung "Ablauf der Verpflichtung" angegeben. Für den gesamten Zeitraum nahm ein Bediensteter des Wachregiments für dieses Eintragungen im Sozialversicherungsausweis des Klägers vor. Der beitragspflichtige Gesamtarbeitsverdienst belief sich danach im Zeitraum vom 27. April 1954 bis zum 31. Dezember 1955 auf 7550,- M, im Kalenderjahr 1956 auf 4800,- M und im Kalenderjahr 1957 auf 5088,- M.

Organisatorisch unterstand das Wachregiment in dem genannten Zeitraum dem Staatssekretariat für Staatssicherheit beim Ministerium des Innern, später Ministerium für Staatssicherheit.

Auf einen Rentenantrag des Klägers hin nahm die Beklagte ein Verwaltungsverfahren zur Prüfung der Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem auf und hörte den Kläger mit Schreiben vom 6. Februar 1996 zu ihrer Absicht an, die Zeit vom 1. April 1957 bis zum 31. Dezember 1957 als Zeit der Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem mit einem Bruttoarbeitsentgelt von 3888,- DM und einem Entgelt nach dem AAÜG in Höhe von 2389,28 DM festzustellen.

Dazu führte der Kläger aus, er finde keine Erklärung für die Aufteilung seiner Dienstzeit beim Wachregiment. Er habe nie einem Sonderversorgungssystem angehört.

Mit Bescheid vom 19. März 1996 traf die Beklagte die angekündigten Feststellungen. Über den Bescheid enthält die Akte eine Verfügung der Beklagten vom 24. März 1996; weitere Verfügungen oder Vermerke sind in Bezug auf ihn nicht feststellbar.

Gegen den ihm nach seiner eigenen Mitteilung am 26. März 1996 zugegangenen Bescheid legte der Kläger mit Eingangsdatum bei der Beklagten vom 23. April 1996 Widerspruch ein und bezog sich ergänzend auf den Inhalt seines Sozialversicherungsausweises. Weiter führte er aus, Entlassungen seien damals nur auf Entpflichtungsgesuche zum 30. Juni oder 31. Dezember eines Jahres ausgesprochen worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 1996 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Sie führte aus, der Widerspruch des Klägers sei unzulässig, weil er verspätet bei ihr eingegangen sei. Der Bescheid vom 19. März 1996 gelte nach § 37 Abs. 2 SGB X als am 22. März 1996 zugegangen.

Mit der am 20. Mai 1996 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Die Beklagte hat ausgeführt, nach der damals geltenden Versorgungsordnung – dies sei diejenige des Ministeriums des Innern vom 1. Juli 1954 – habe der Kläger eine dreijährige Wartezeit erfüllen müssen. Dies sei mit Ablauf des März 1957 der Fall und der Kläger dann sonderversorgungsberechtigt gewesen.

Dagegen hat der Kläger geltend gemacht, er habe sich nicht durch eine schriftliche Verpflichtungserklärung zu einer Dienstzeit von mehr als drei Jahren verpflichtet. Der nur tatsächlich sieben Monate längere Dienst beim Wachregiment habe nicht zu seiner Einbeziehung in die Versorgungsordnung vom 1. Juli 1954 geführt. Dem hat die Beklagte entgegengehalten, der Kläger habe gerade wegen Überschreitens der dreijährigen Dienstzeit vom 1. April 1957 an neben der Dienstgradvergütung eines Gefreiten von 400,- M ein Treuegeld von 8 v. H. dieser Dienstgradvergütung, nämlich 32,- M, erhalten. Vom 1. April 1957 an seien nicht mehr Beiträge zur Sozialversicherung, sondern zum Sonderversorgungssystem abgeführt worden.

Mit Bescheid vom 28. September 1999 hat die Beklagte das Entgelt nach dem AAÜG entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. April 1999 in Höhe des Durchschnittsentgelts der Versicherten im Beitrittsgebiet festgestellt.

Mit Urteil vom 27. Juli 2000 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Klage sei nicht begründet, weil die Versorgungsordnung des Ministeriums des Innern vom 1. Juli 1954 ihre Geltung auf Mannschaften mit einer Dienstzeit über drei Jahre erstreckt habe. Zur weiteren Begründung hat es sich auf Erlasse und Arbeitsanweisungen der Beklagten und Beigeladenen bezogen.

Gegen das ihm am 2. November 2000 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Eingangsdatum von Montag, den 4. Dezember 2000, Berufung eingelegt. Er trägt vor, in seinem Sozialversicherungsausweis sei für das Jahr 1957 ein einheitliches beitragspflichtiges Bruttoeinkommen eingetragen, dem sich kein Hinweis auf eine Beitragsabführung zu einem Sonderversorgungssystem entnehmen ließe. Die von der Beklagten angeführte Zahlung eines Treuegeldes stehe mit dem Streitgegenstand in keinem Zusammenhang.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau vom 27. Juli 2000 und den Bescheid der Beklagten vom 19. März 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 1996 und des Bescheides vom 28. September 1999 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat den Bescheid vom 19. März 1996 in der Fassung des Bescheides vom 28. September 1999 aufgehoben, soweit sie die Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem des Ministeriums für Staatssicherheit bereits für den Zeitraum vom 1. bis 26. April 1957 festgestellt hat. Im Übrigen hält sie das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.

Die Beigeladene hat sich nicht geäußert.

Der Senat hat Beweis erhoben durch zwei Auskünfte des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 222 f. d.A. sowie die als Beiakte geführten Anlagen sowie auf Bl. 230-236 d.A. Bezug genommen.

Neben der Akte der Beklagten – – haben in der mündlichen Verhandlung und bei der Entscheidung die Befehle des Ministers für Staatssicherheit der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik Nr. 174 und 176/53 und die Versorgungsordnung für die Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit, der Kasernierten Wacheinheiten und der Hauptverwaltung Deutsche Grenzpolizei vom 22. April 1953, die Versorgungsordnung des Ministeriums des Innern vom 1. Juli 1954 und die Erste Durchführungsbestimmung zur Versorgungsordnung vom 1. Juli 1954 vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat keinen Erfolg.

Der Bescheid der Beklagten vom 19. März 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 1996 und des Änderungsbescheides vom 28. September 1999 beschweren den Kläger nicht im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 2 S. 1 SGG, soweit die Beklagte die Zugehörigkeit zu einem Sonderversorgungssystem für die Zeit vom 27. April bis Ende Dezember 1957 festgestellt hat, weil sie insoweit rechtmäßig sind.

Der Senat kann den Bescheid der Beklagten vom 19. März 1996 noch gemäß §§ 77, 78 Abs. 1 S. 1; 84 Abs. 1 S. 1 SGG sachlich überprüfen, weil der Kläger die Widerspruchsfrist von einem Monat gewahrt hat. Zu Lasten der Beklagten lässt sich die Bekanntgabe im Sinne des § 84 Abs. 1 S. 1 SGG als das Ereignis, das den Fristbeginn auslöst, nicht vor dem 26. März 1996 feststellen. Dafür trägt die Beklagte als Behörde gemäß § 37 Abs. 2 2. Hs. des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) die Feststellungslast. Die Voraussetzungen der Bekanntgabevermutung des § 37 Abs. 2 1. Hs. SGB X liegen hier schon nicht vor, weil ein Absendevermerk in der Akte der Beklagten fehlt.

Die Beklagte ist gemäß § 8 Abs. 3 S. 2, Abs. 2 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) in der Fassung der Änderung durch Gesetz vom 27.7.01 (BGBl. I S. 1939) zur Feststellung der Zugehörigkeit des Klägers zum Sonderversorgungssystem nach § 1 Abs. 2 in Verbindung mit Anlage 2 Nr. 4 zum AAÜG ermächtigt. Denn er gehörte während des umstrittenen Zeitraums vom 27. April bis 31. Dezember 1957 aufgrund konkreter Einbeziehung dem Sonderversorgungssystem des Ministeriums für Staatssicherheit an.

Die Einbeziehung in das Sonderversorgungssystem des Ministeriums für Staatssicherheit richtete sich zu dieser Zeit nach der Versorgungsordnung des Ministeriums des Innern vom 1. Juli 1954. Ihre Anwendbarkeit bei Inkrafttreten auch für den Bereich des Staatssekretariats für Staatssicherheit bestimmt sie ausdrücklich. Der Senat ist aber davon überzeugt, dass die Versorgungsordnung auch nach der Neuerrichtung eines Ministeriums für Staatssicherheit im November 1955 anwendbar blieb und nicht erneut auf die Versorgungsordnung des Ministeriums für Staatssicherheit vom 22. April 1953 zurückgegriffen wurde. Denn anderenfalls hätte die bereits im Zeitraum zwischen Juli 1954 und November 1955 erfolgte Einbeziehung von Mannschaften in die Versorgung des Ministeriums des Innern rückabgewickelt werden müssen, weil die frühere Versorgungsordnung des Ministeriums für Staatssicherheit nach deren § 1 auf Offiziere beschränkt war. Dies kann im Hinblick auf eine Gleichstellung aller bewaffneten Organe innerhalb der DDR nach Einführung der Versorgungsordnung des Ministeriums des Innern nicht mehr gewollt gewesen sein. Eine andere bis 1957 in Kraft gesetzte Versorgungsordnung für die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit ist nicht bekannt.

Der Kläger erfüllte auch die Voraussetzungen der Versorgungsordnung vom 1. Juli 1954 für eine Einbeziehung. Insbesondere erfüllte er die Voraussetzung eines längerdienenden Mannschaftsdienstgrades im Sinne der Einleitung zu dieser Versorgungsordnung. Voraussetzung dafür ist, wie aus dem Klammerzusatz der Einleitung folgt, eine Dienstzeit von über drei Jahren. Es kann dahinstehen, ob die Auffassung der Beklagten zutrifft, dafür reiche allein ein tatsächliches Überschreiten der dreijährigen Dienstzeit aus. Denn der Kläger hatte sich – wie entgegen seiner Darstellung aus den vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes übersandten Personalunterlagen über ihn folgt – nach einer Verpflichtungserklärung vom 27. April 1954 für einen Dienst von nicht weniger als drei Jahren im Wachbataillon des Ministeriums für Staatssicherheit zwischenzeitlich zum Dienst, solange ihn Partei und Regierung brauchen, verpflichtet. Dies folgt aus seinem eigenen Entpflichtungsantrag vom 30. März 1957. Da der Kläger ausweislich seines Entpflichtungsantrages und der Aktennotizen über die mit ihm geführten Gespräche zu diesem Zeitpunkt zum Dienst nach Ablauf seiner dreijährigen Verpflichtung nicht mehr bereit war, ist von der Fortführung des Dienstes aufgrund seiner Bindung an die nachfolgende Verpflichtungserklärung bis Ende 1957 auszugehen.

Eines zur Entstehung des Versorgungsverhältnisses führenden Aktes seitens des Klägers – in Form einer Beitrittserklärung – oder der Staatsorgane – in Form einer Einbeziehungsverfügung – bedurfte es nicht. Die Notwendigkeit solcher Erklärungen ist nicht geregelt und wäre für ein Zwangsversicherungsverhältnis wie die Zugehörigkeit zu einem Sonderversorgungssystem auch sachfremd. Ebenso wie in der Sozialversicherung, an deren Stelle das Sonderversorgungssystem nach §§ 30 S. 2; 33 Abs. 3 der Versorgungsordnung tritt, entstehen Beitragspflichten und Leistungsanwartschaften allein durch die Erfüllung der maßgeblichen Tatbestände der Versicherungspflicht. Insofern kommt es nicht darauf an, dass dem Kläger die Zugehörigkeit zu dem Sonderversorgungssystem nicht bekannt war.

Für den Kläger spricht auch nicht die Vermutung des § 286 c des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI), wonach aufgrund der Eintragungen im Sozialversicherungsausweis des Klägers die Versicherungspflicht und Beitragszahlung zur Sozialversicherung zu vermuten wäre. Diese widerlegliche Vermutung ist für Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Sonderversorgungssystem widerlegt, weil die Sonderversorgungsträger solche Zeiten wie ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis in den Sozialversicherungsausweis eingetragen haben. Dies ergibt sich aus der den Beteiligten übersandten Ablichtung eines Sozialversicherungsausweises aus der Akte zu einem bei dem Senat anhängigen Streitfall, der unstrittig einen Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit betrifft. Entsprechendes ist aufgrund der Vielzahl der beim Senat anhängig gewesenen Streitverfahren von früheren Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit nach Überprüfung aufgrund des Vorbringens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 28. Januar 2004 auch gerichtsbekannt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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