L 6 V 4306/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 6 V 5632/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 V 4306/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts S. vom 27. Juli 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten erneut über einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die 1929 geborene Klägerin traf, aus der ehemaligen CSSR kommend, am 10. Oktober 1964 als Aussiedlerin/Vertriebene im Grenzdurchgangslager F. ein. Noch im selben Monat verzog sie nach B., wo sie Anfang 1965 heiratete. 1967 wurde ihr Sohn P. geboren.

Bereits am 2. Mai 1966 beantragte die Klägerin beim früheren Versorgungsamt S. (VA) wegen einer entzündlichen Affektion des Hauptnervensystems die Gewährung von Beschädigtenversorgung. Befragt nach dem schädigenden Ereignis gab sie an, sie sei im Mai und Juni 1945 jeweils von 5.00 Uhr bis 22.00 Uhr zum Reinigen der russischen Kommandantur gezwungen worden und habe in den Jahren 1953 bis 1964 in der Schwerindustrie als Kranführerin in drei Schichten gearbeitet. Sie reichte den Befundbericht von Dr. K. vom 18. April 1951 sowie weitere ärztliche Befundberichte vom 22. Juni und 10. Juli 1961 ein. Dr. K. hatte im eben genannten Befundbericht eine depressive neurotische Reaktion mit Schlaflosigkeit, eine vegetative Dystonie und gänzliche Asthenie beschrieben und als wahrscheinliche Ursache eine Überarbeitung und einen störenden nächtlichen Husten genannt.

Mit Bescheid vom 11. Juli 1966 lehnte das VA den Antrag ab. Da die Klägerin nur kurze Zeit Dienstleistungen bei der russischen Besatzungsmacht habe ausführen müssen, stehe die im Jahr 1951 aufgetretene Erkrankung mit den Dienstleistungen nicht in ursächlichem Zusammenhang. Den hiergegen gerichteten Widerspruch begründete die Klägerin im Wesentlichen damit, sogar die Ärztin in P. habe die Erkrankung auf die Ereignisse im Jahr 1945 zurückgeführt und Nachtschichten von 18.00 Uhr bis 6.00 Uhr seien für Frauen bestimmt gesundheitsschädlich. Das VA zog Unterlagen der Universitäts-Nervenklinik T., in der die Klägerin im April und Mai 1966 unter der Annahme einer Encephalomyelitis disseminata behandelt worden war, bei (u.a. Arztbrief PD Dr. F. vom 17. Mai 1966 nebst Krankengeschichte der Universitätsklinik T. vom 1. April bis 7. Mai 1966). Dr. S. (Nervenarzt - Versorgungsärztliche Untersuchungsstelle S.) gelangte in seinem Gutachten vom 8. März 1967 (nebst elektronystagmographischem Zusatzgutachten von Dr. W. vom gleichen Tag) zu der Einschätzung, weder eine asthenische Konstitution mit einer Neigung zu weinerlichen Verstimmungen und anderen nervösen Erscheinungen noch das aktuell bestehende organische Nervenleiden, bei dem es sich wahrscheinlich um eine Multiple Sklerose (MS) handle, könnten als Schädigungsfolge angesehen werden. Ungewöhnliche Stresssituationen durch extreme Lebensverhältnisse hätten in den Nachkriegsjahren über das hinaus, was große Bevölkerungsteile hätten erleiden müssen, nicht vorgelegen. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 31. Juli 1967 führte Dr. S. aus, es seien keine Brückensymptome dafür vorhanden, dass die jetzt festgestellten neurologischen Störungen bis in die Zeit der Internierung zurückreichten. Die psychischen Verstimmungszustände seien durch die asthenische Konstitution bedingt. Mit Widerspruchsbescheid vom 4. September 1967 wies der Beklagte, gestützt auf die Einschätzungen von Dr. S. und Dr. S., den Widerspruch zurück. Die Klägerin erhob hiergegen beim Sozialgericht S. (SG) Klage (S 14 V 3254/67). Das SG holte die nervenfachärztliche gutachtliche Stellungnahme von PD Dr. F. vom 15. Mai 1968 ein. Dieser führte aus, mit großer Wahrscheinlichkeit leide die Klägerin an einer MS, deren Beginn sich schon für das Jahr 1961, nicht jedoch für das Jahr 1951 wahrscheinlich machen ließe. Es spreche mehr dagegen als dafür, dass es sich um eine Schädigungsfolge handle. Eine nochmalige Prüfung wäre nötig, wenn sich ganz ungewöhnliche, extreme körperliche oder psychische Belastungen herausstellen würden. Das SG befragte die behandelnden Ärzte Dr. Dr. Sch. (Nervenfacharzt), Dr. T. (Facharzt für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe), Dr. H. (Chefarzt, Städt. Krankenhaus S. - Gynäkologie), Dr. G. (prakt. Arzt) und Dr. H. (Facharzt für Nerven- und Gemütskrankheiten) schriftlich als sachverständige Zeugen; ferner hat es medizinische Unterlagen aus der CSSR beigezogen. Im Verhandlungstermin vom 29. Oktober 1970 hat die Klägerin - teilweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit - Angaben zu ihrer Arbeits- und Gesundheitssituation in der Nachkriegszeit gemacht. Sie berichtete u.a. davon, dass es während der Tätigkeit in der Kommandantur zu sexuellen Belästigungen durch russische Armeeangehörige gekommen sei; durch ihre erhebliche Gegenwehr habe sie eine Vergewaltigung verhindern können. Sie sei auch in Zimmern eingeschlossen worden. Die Mutter der Klägerin, J. J., wurde im Verhandlungstermin vom 10. Dezember 1970 als Zeugin vernommen. Sie bestätigte die Angaben der Klägerin und gab weiter an, sie habe ihre Tochter wochenlang wegen der Gewaltakte der Besatzungsmacht nachts im Keller oder bei Nachbarn versteckt. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15. September 1972 führte Dr. H. aus, die aus der CSSR beigezogenen Unterlagen enthielten keine neuen Gesichtspunkte.

Mit Urteil vom 30. November 1972 wies das SG die Klage ab. Selbst wenn man die Arbeit der Klägerin bei der Militärkommandantur als schädigendes Ereignis ansehen wolle, obwohl die Klägerin dorthin vom Arbeitsamt aus vermittelt worden sei, so dass nicht festgestellt werden könne, ob sie überhaupt Zwangsarbeit geleistet habe oder vielmehr aus allgemeinen Gründen gezwungen gewesen sei, eine Arbeit aufzunehmen, könne eine psychische Einwirkung, die Gesundheitsstörungen hervorgerufen habe, nicht festgestellt werden. Die aktuell bestehende Krankheit sei zum ersten Mal 1961 festgestellt worden. Trotz umfangreicher Ermittlungen hätten keine Brückensymptome gefunden werden können. Die Meinung der Ärztin, die die Klägerin im Jahr 1951 behandelt habe, dass alles vom Krieg käme, habe sich nicht objektivieren lassen. Auf den Nachweis dieser Aussage komme es hierbei nicht an. Die Tätigkeiten der Klägerin als Näherin und Kranführerin kämen von vornherein nicht als schädigende Ereignisse im Sinne des Versorgungsrechts in Betracht.

Mit Schreiben vom 24. Juli 2001, eingegangen beim VA am 12. November 2001, stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung. Sie machte einen im Mai 1945 wegen des Einsatzes in der russischen Kommandantur eingetretenen Nervenschaden geltend. Dr. K. habe bereits 1949 im Beisein von Studenten die Symptome der Nervenschädigung vorgeführt und die Schädigung mit den Ereignissen von 1945 begründet. Das VA lehnte mit Bescheid vom 7. Oktober 2002 den Erlass eines Rücknahmebescheids ab. Der Bescheid vom 11. Juli 1966 sei rechtsverbindlich geworden. Die Klägerin habe keine neuen Gesichtspunkte oder rechtserhebliche Tatsachen vorgebracht, die nicht schon bei dessen Erteilung bekannt gewesen seien. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. November 2002 zurück. Die Klägerin nahm die deswegen erneut beim SG erhobene Klage (S 6 V 5883/02), nachdem das Gericht auf die Möglichkeit der Einholung eines Gutachtens auf Kostenrisiko der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen hatte, im April 2004 zurück.

Am 28. November 2004 (Schreiben vom 27. November) beantragte die Klägerin wiederum die Gewährung einer Beschädigtenversorgung. Sie machte geltend, als 16-jähriges Mädchen über Wochen hinweg während der ihr zugeteilten Tätigkeit bei der Besatzungsarmee sexuellen Belästigungen ausgesetzt gewesen zu sein, die ihr eine erhebliche Gegenwehr abverlangt hätten. Sie habe erhebliche Ängste ausgestanden, zumal sie in Räumen eingeschlossen worden sei. In dieser Zeit sei es erstmals zu nervlichen Zusammenbrüchen, Depressionen und Erschöpfungszuständen gekommen. Dr. K. und Dr. G. hätten einen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und diesen Ereignissen gesehen. Auch Dr. H. sei dieser Auffassung. Das VA lehnte mit Bescheid vom 2. September 2004 den Erlass eines Rücknahmebescheids noch einmal ab. Das Vorbringen der Klägerin sei bereits Gegenstand der Entscheidung vom 11. Juli 1966 gewesen. Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 16. September 2004. Die sexuellen Belästigungen seien neu geltend gemacht worden. Diese seien früher nicht Streitgegenstand gewesen. Sie seien zwar in der Zeugenaussage der Mutter angedeutet worden, es sei jedoch nicht in Erwägung gezogen worden, diese als schädigende Ursache zu bewerten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Jahr 1967 hätten eine Darstellung von Vergewaltigungen durch das Opfer noch nicht so zugelassen wie heute. Zwar sei es zu keiner Vergewaltigung gekommen, sie sei jedoch über Wochen hinweg dem Stress ausgesetzt gewesen und hätte sich sogar z.T. im Keller verstecken müssen. Zwischenzeitlich gebe es auch weitergehende Erkenntnisse über die Ursachenketten nach sexuellen Belästigungen und Vergewaltigungen. Die Klägerin legte das Attest des Nervenfacharztes H. (junior) vom 27. September 2004 vor: die MS sei gutartig verlaufen, es seien keine weiteren Schübe aufgetreten. Seit 1991 bestehe eine Angststörung mit zeitweise auftretenden depressiven Verstimmungen, die als chronische posttraumatische Belastungsreaktion nach den Ereignissen am Kriegsende anzusehen sei. Dr. Gerstenberg sah in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 23. Mai 2005 in diesem Attest keine neuen medizinischen Gesichtspunkte. Art und Umfang der "Internierung" im Jahr 1945 sprächen gegen eine eingreifende Persönlichkeitsveränderung im Alter von 16 Jahren, also nach der Pubertät. Darauf gestützt wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 1. August 2005 zurück.

Dagegen erhob die Klägerin am 2. September 2005 beim SG Klage. Ergänzend zum Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren trug sie vor, Brückensymptome für eine psychiatrische Erkrankung seien vorhanden, im Übrigen seien solche Symptome nicht unbedingt nötig. Auch nach der Pubertät könnten Frauen psychische Verletzungen nach einer Vergewaltigung oder einem sexuellem Übergriff erleiden, zumal wenn sie in Räumen eingeschlossen würden. Die Klägerin legte ein weiteres Attest des Nervenfacharztes H. (junior) vom 20. Juni 2006 vor, wonach sie seit 1945 an Depressionen und Angstzuständen leide, die oft im Winterhalbjahr zunähmen. Diese seien durch die anhaltende schwere Belastung 1945/46 ausgelöst worden. Es bestehe eine anhaltende posttraumatische Belastungsreaktion, ausgelöst durch ein wochenlanges Martyrium in der sowjetischen Kommandantur. Die MS habe mit den Ängsten und Depressionen nichts zu tun. Ferner verwies die Klägerin auf Fachveröffentlichungen zu psychischen (Spät-)Folgen bei Kriegskindern. Der Beklagte erwiderte, es seien nach wie vor keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen worden. Die vorgelegten Fachveröffentlichungen seien keine solchen Gesichtspunkte, sie könnten keinen Ersatz für ein schädigendes Ereignis darstellen. Mit Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2007 wies das SG die Klage ab. Die Klägerin habe keine Gesichtspunkte dartun können, die Anlass für eine Aufhebung der vorangegangenen abschlägigen Entscheidung gegeben hätten. Die vom Nervenfacharzt H. (junior) dargestellte Komponente sei bereits Gegenstand des ersten Klageverfahrens gewesen. Die vorgelegten Veröffentlichungen seien kein im Rechtssinne taugliches Argumentationsmittel, zumal diese nur allgemein Bekanntes darstellten und im Übrigen auch keine aussagekräftigen neuen Gesichtspunkte für die konkreten Leidenskomponenten der Klägerin enthielten.

Gegen den ihren Bevollmächtigten am 10. August 2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 3. September 2007 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Es sei nicht richtig, dass die Einschätzung von Dr. K. nicht berücksichtigt werde. Es bleibe unverständlich, dass die Aufarbeitung der Kriegsfolgeschäden nach über 60 Jahren noch immer nicht möglich zu sein scheine. Sie und ihre Angehörigen seien nicht nur Flüchtlinge gewesen, sondern von Behörden und Gerichten bekämpft worden. Mit einer Bitte um eine baldige Entscheidung verband die Klägerin Hinweise auf verschiedene aktuelle Erkrankungen (Schreiben in einer parallel anhängigen Pflegeversicherungsangelegenheit vom 15. Februar 2008).

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts S. vom 27. Juli 2007 und den Bescheid des Beklagten vom 2. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. August 2005 sowie den Bescheid vom 11. Juli 1966 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. September 1967 aufzuheben und der Klägerin Beschädigtenrente in gesetzlicher Höhe ab dem 1. Januar 2004 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die beigezogene Gerichtsakte des SG im Verfahren S 6 V 5883/02 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig.

Streitgegenständlich ist der Erlass eines Rücknahmebescheids nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Statthafte Klageart hierfür ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl., Seite 130; BSG, Urteil vom 5. September 2006, B 2 U 24/05 R, zitiert nach Juris): so auch im Ansatz der im Gerichtsbescheid dargestellte Antrag der Klägerin, anders jedoch - ohne dass dies in der Sache letztlich von Bedeutung wäre - die Ausführungen des SG in den Entscheidungsgründen.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid des Beklagten vom 2. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. August 2005 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte es abgelehnt hat, den Bescheid vom 11. Juli 1966 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. September 1967, bestätigt durch das Urteil des SG vom 30. November 1972, wiederum bestätigt durch den Bescheid vom 7. Oktober 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. November 2002 zurückzunehmen und der Klägerin Beschädigtenrente nach dem BVG zu gewähren. Denn mit dem zuerst genannten Bescheid hat das frühere VA den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch in rechtlich nicht zu beanstandender Weise abgelehnt.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Die Voraussetzungen dieser Regelung sind vorliegend nicht erfüllt. Auch der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass das VA bei Erlass der Entscheidung vom 11. Juli 1966 das Recht unrichtig angewandt hätte oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen wäre und deshalb Versorgungsleistungen zu Unrecht nicht gewährt hat.

Gemäß § 1 Abs. 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 d BVG erhält derjenige, der durch schädigende Vorgänge, die infolge einer mit einer militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebietes oder mit der zwangsweisen Umsiedlung oder Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung. Dabei müssen das schädigende Ereignis, die dadurch eingetretene gesundheitliche Schädigung und die darauf beruhenden Gesundheitsstörungen (Schädigungsfolgen) erwiesen sein, während nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG für die Frage des ursächlichen Zusammenhangs die Wahrscheinlichkeit ausreichend, aber auch erforderlich ist (BSG, Urteil vom 22. September 1977 - 10 RV 15/77 - BSGE 45, 1; BSG, Urteil vom 19. März 1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58). Ist ein Sachverhalt nicht beweisbar oder ein Kausalzusammenhang nicht wahrscheinlich zu machen, so hat nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast (Feststellungslast) der Beteiligte die Folgen zu tragen, der aus dem nicht festgestellten Sachverhalt bzw. dem nicht wahrscheinlich gemachten Zusammenhang Rechte für sich herleitet (BSG, Urteil vom 29. März 1963 - 2 RU 75/61 - BSGE 19, 52; BSG, Urteil vom 31. Oktober 1969 - 2 RU 40/67 - BSGE 30, 121; BSG, Urteil vom 20. Januar 1977 - 8 RU 52/76 - BSGE 43, 110).

Die von der Klägerin im zweiten Zugunstenverfahren als schädigendes Ereignis in den Mittelpunkt gestellten sexuellen Belästigungen während der Tätigkeit in der sowjetischen Kommandantur haben zwar in dem mit dem Antrag vom 2. Mai 1966 eingeleiteten Verwaltungsverfahren keine besondere Erwähnung gefunden. Im daran anschließenden Klageverfahren wurden diese Belästigungen jedoch umfassend aufgeklärt. Insbesondere wurde im Verhandlungstermin vom 29. Oktober 1970 darüber unter Ausschluss der Öffentlichkeit von der Klägerin berichtet. Zwar mag es sein, dass in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts noch nicht so wie in späterer Zeit über Vergewaltigungen gesprochen wurde. Im konkreten Fall ist jedoch nicht erkennbar, dass die Klägerin bei ihren Angaben im Jahr 1970 wesentliche Dinge verschwiegen hat. Insbesondere bestätigt sie nach wie vor, dass es zu keiner Vergewaltigung gekommen ist. Die sexuellen Belästigungen wurden in der Entscheidung des SG vom 30. November 1972 berücksichtigt. Sie waren mithin entgegen der Auffassung der Klägerin bereits schon einmal "Gegenstand" einer sachlichen Prüfung.

Das Vorbringen der Klägerin, Dr. K. habe einen Zusammenhang zwischen ihrer Erkrankung und den Nachkriegsereignissen gesehen, war Gegenstand des ersten Verwaltungsverfahrens. Dr. S. hat diesen Zusammenhang in seinem Gutachten vom 8. März 1967 jedoch nicht bestätigt. Er hat ausgeschlossen, dass es sich bei der asthenischen Konstitution der Klägerin mit einer Neigung zu weinerlichen Verstimmungen um eine Schädigungsfolge handelt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die behaupteten Äußerungen von Dr. K. nicht nur - wie vom SG in der Entscheidung vom 30. November 1972 ausgeführt - nicht weiter nachgewiesen werden konnten. Die Behauptung steht vielmehr im Widerspruch zu dem vorliegenden Arztbrief von Dr. K. vom 18. April 1951, in dem sie für die damals diagnostizierte depressive neurotische Reaktion mit Schlaflosigkeit bzw. psychovegetative Dystonie als wahrscheinliche Ursache eine Überarbeitung angab.

Zu Recht hat das SG die im aktuellen Klageverfahren vorgelegten Fachveröffentlichungen zu psychischen (Spät-)Folgeschäden bei Kriegskindern nicht als relevanten neuen Gesichtspunkt bewertet. Es mag sein, dass sich in der medizinischen Forschung auch in diesem Bereich neue Erkenntnisse ergeben haben. Vorliegend fehlen jedoch Ansatzpunkte dafür, dass diese Erkenntnisse auf den hier zu beurteilenden Fall zu übertragen sind. Insbesondere sind die von der Klägerin vorgelegten Atteste des Nervenfacharztes H. vom 27. September 2004 und 20. Juni 2006 widersprüchlich. Im ersten Attest gab er an, eine als posttraumatische Belastungsreaktion anzusehende Angststörung mit zeitweise auftretenden depressiven Verstimmungen sei erst 1991 aufgetreten. Im zweiten Attest, das von der Klägerin im zeitlichen Zusammenhang mit der Vorlage der Fachveröffentlichungen eingereicht wurde, führte er aus, Ängste und Depressionen hätten seit 1945 ganz im Vordergrund gestanden. Diese widersprüchlichen Darstellungen sind nicht geeignet, dem Senat die Überzeugung vom Vorliegen wesentlicher neuer Gesichtspunkte, hier eines Spätfolgeschadens, der dann allerdings nicht im Rahmen einer Neuüberprüfung nach § 44 SGB X, sondern im Rahmen eines echten Neuantrags zu prüfen gewesen wäre, zu verschaffen.

Soweit Dr. G. in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 31. Oktober 1970 angab, ein Teil der nervösen Beschwerden seien als Erlebnisreaktion und Anpassungsschwierigkeiten aufgefasst worden, besteht sicher eine Übereinstimmung mit der später vom Nervenfacharzt H. geäußerten Auffassung und der behaupteten - früheren - mündlichen Äußerung von Dr. K ... Der Sichtweise dieser Ärzte standen und stehen jedoch die gutachtlichen Einschätzungen von Dr. S. und Dr. F. sowie die Bewertungen des versorgungsärztlichen Dienstes entgegen.

Die Einschätzungen der zuletzt genannten Gutachter, des versorgungsärztlichen Dienstes und auch des SG im Urteil vom 30. November 1972 können aus Sicht des Senats auch heute noch in Einklang mit den in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP, Ausgabe 2008) dargestellten Grundlagen für die Kausalitätsbeurteilung gebracht werden. In den AHP werden ausgehend von der herrschenden Lehre verlässliche Hinweise für die Zusammenhangsprüfung gegeben. Diese sind von den Gutachtern, der Verwaltung und als allgemeine Tatsachen auch von den Gerichten zu beachten (BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995, 9/9a RVg 4/92, zitiert nach Juris).

Nach den AHP Nr. 71 (Seite 205) kommen sowohl nach langdauernden psychischen Belastungen (z.B. Kriegsgefangenschaft) als auch nach relativ kurzdauernden Belastungen (z.B. Vergewaltigung) psychisch bedingte Traumen in Betracht, sofern die Belastungen ausgeprägt und mit dem Erleben von Angst und Ausgeliefertsein verbunden waren. Die Störungen sind nach Art, Ausprägung, Auswirkung und Dauer verschieden; sie treten gelegentlich auch nach einer Latenzzeit auf. Anhaltend kann sich eine Chronifizierung ergeben. Dies setzt tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende und in der Regel langdauernde Belastungen voraus. Bei länger anhaltenden Störungen und chronisch verlaufenden Entwicklungen ist zu prüfen, ob die Schädigungsfaktoren fortwirken oder schädigungsunabhängige Faktoren für die Chronifizierung verantwortlich sind ("Verschiebung der Wesensgrundlage"). Auch die Auswirkungen psychischer Traumen im Kindesalter (z.B. sexueller Missbrauch) sind nach Art und Intensität sehr unterschiedlich. Sie können in Neurosen übergehen, wenn die schädigenden Einflüsse in früher Kindheit über längere Zeit und in erheblichem Umfang wirksam waren (AHP Nr. 70, Seite 204).

Zwar finden die vom SG im Urteil vom 30. November 1972 und vom Beklagten immer wieder erwähnten sog. Brückensymptome in den AHP keine Erwähnung, vielmehr wird das Auftreten einer Störung auch nach einer Latenzzeit jedenfalls gelegentlich für möglich erachtet. Der Senat misst dem Vorliegen von Brückensymptomen - entsprechend der Ansicht der Klägerin und insoweit abweichend vom eben genannten Urteil des SG - daher auch nicht die entscheidende Bedeutung bei. Gleichwohl halten die früheren Entscheidungen einem Vergleich mit den Maßstäben der aktuellen AHP stand. Auch wenn es zu keiner Vergewaltigung kam, verkennt der Senat nicht die äußerst widrigen, nach den glaubhaften Angaben der Klägerin mit sexuellen Belästigungen verbundenen Umstände, unter denen sie in der sowjetischen Kommandantur gearbeitet hat. Dieser Zeitraum war jedoch auf sieben bis acht Wochen begrenzt, so dass insgesamt noch nicht von einer langdauernden und tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifenden Belastung ausgegangen werden kann. Entsprechend verneinte Dr. S. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 31. Juli 1967 das Vorliegen einer den neurologischen und psychischen Status erklärenden extremen Stresssituation. Auch Dr. F. führte in der nervenfachärztlichen Stellungnahme vom 15. Mai 1968 sinngemäß aus, von einer Schädigungsfolge könne nur ausgegangen werden, wenn sich ganz ungewöhnliche, extreme körperliche oder psychische Belastungen herausstellen würden. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Klägerin selbst ursprünglich ihre Gesundheitsstörungen nicht nur auf die eben genannte Tätigkeit in der Kommandantur, sondern auch auf die danach über viele Jahre hinweg ausgeübte Tätigkeit in der Industrie, die - was zwischenzeitlich auch von der Klägerin nicht mehr geltend gemacht wird - als schädigendes Ereignis im Sinne des BVG aber nicht in Betracht kommt, zurückführte. Noch im Widerspruch vom 10. August 1966 vertrat die Klägerin die Auffassung, die in den Jahren 1953 bis 1964 geleisteten Nachtschichten von 18.00 bis 6.00 Uhr seien sicher gesundheitsschädlich gewesen.

Anknüpfend daran ist auf den bereits erwähnten Gesichtspunkt einer Verschiebung der Wesensgrundlage hinzuweisen. Der Senat zieht mit der hier getroffenen Entscheidung nicht in Zweifel, dass die erheblichen Belastungen der Klägerin im Mai und Juni 1945 auch zu einer Beeinträchtigung ihres damaligen Gesundheitszustands führten. Die Klägerin gab gegenüber dem SG am 29. Oktober 1967 an, bereits während dieser Arbeit einige Nervenschocks bzw. nervliche Zusammenbrüche oder Depressionen erlitten zu haben. Die eben beschriebene Intensität der Belastung erklärt jedoch nicht hinreichend eine lebenslange Chronifizierung. Die von der Klägerin geltend gemachte dauerhafte Gesundheitsstörung ist vielmehr im Wesentlichen auf schädigungsunabhängige Faktoren zurückzuführen. So hat die Klägerin bei der Behandlung in der Universitäts-Nervenklinik T. am 1. April 1966 angegeben, schon immer etwas schwächlich gewesen zu sein. In der Sozialanamnese hat sie im Übrigen von der Tätigkeit "bei Russen" nach Kriegsende berichtet, jedoch nur die nachfolgende Tätigkeit in der Industrie als sehr anstrengend beschrieben. Dr. K. diagnostizierte am 18. April 1951 eine "gänzliche Asthenie". Der Senat geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass sich die Aussage der Klägerin, schon immer etwas schwächlich gewesen zu sein, auch auf die Zeit vor der Tätigkeit in der Kommandantur bezog. Die Bedeutung dieser Grundkonstitution ist nachfolgend aus Sicht des Senats wieder in den Vordergrund gerückt. Die diesbezügliche Einschätzung von Dr. S. in der Stellungnahme vom 31. Juli 1967 ist überzeugend. So führte im Jahr 1967 eine Konfliktsituation in der Arbeit zu einem behandlungsbedürftigen Gesundheitszustand (Arztbrief von Dr. L. vom 10. Juli 1961). Bei der Behandlung in der Universitäts-Nervenklinik T. führte die Klägerin ihre psychische Labilität selbst auf die damals aktuellen, sehr beengten Wohnverhältnisse, das Zusammenleben mit der Großmutter ihres Ehegatten und eine deswegen bestehende gewisse Eifersuchtssituation zurück (Krankengeschichte der Universitäts-Nervenklinik T., Eintrag vom 1. April 1966). Eine erhebliche Belastung stellte auch die MS-Erkrankung dar, die, was von der Klägerin auch nicht mehr geltend gemacht wird, nicht auf die Nachkriegsereignisse zurückgeführt werden kann. Zuletzt ging aus dem Schreiben der Klägerin vom 15. Februar 2008 hervor, dass sie an einem Melanom und Inkontinenz leide und viele Knochenbrüche erlitten habe. Vor diesem Hintergrund hält der Senat die der von der Klägerin hervorgehobene Einschätzung von Dr. K., ungeachtet des Umstands, dass sie schon gar nicht nachgewiesen ist (s.o.), nicht für überzeugend.

Die Berufung war mithin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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