S 8 AS 49/08 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
8
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 8 AS 49/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AS 113/08 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, ab 01.06.2008 bis zur Bestandskraft des Bescheides vom 19.05.2008 Arbeitslosengeld II nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten der Antragstellerin zu erstatten.

Gründe:

Die Antragsgegnerin bewilligte der am 00.00.00 geborenen Antragstellerin zuletzt mit Bescheid vom 13.11.2007 Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 01.12.2007 bis zum 31.05.2008 in Höhe von monatlich 853,59 EUR.

Am 15.05.2008 beantragte die Antragstellerin die Fortzahlung dieser Leistung. Sie teilte unter Vorlage einer Studienbescheinigung mit, dass sie seit dem 20.08.2007 als Studentin der Studiengänge "Betriebspädagogik, Wissenspsychologie, Sprach- und Kommunikationswissenschaften" mit der angestrebten Abschlussprüfung "Bachelor" an der RWTH Aachen eingeschrieben ist.

Mit Bescheid vom 19.05.2008 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Fortzahlung des Arbeitslosengeldes II ab, weil die Antragstellerin als eingeschriebene Studentin gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II habe. Die Antragstellerin hat gegen diese Entscheidung Widerspruch eingelegt und am 05.06.2008 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Fortzahlung des Arbeitslosengeldes II gestellt.

Der zulässige Antrag ist begründet. Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich sind das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs im Sinne eines zu sichernden Rechts und eines Anordnungsgrundes im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit der Entscheidung. Dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen um so niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (BVerfG, NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236). Will sich das entscheidende Gericht an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, muss es die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen und Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen. Entscheidet das Gericht anhand einer Folgenabwägung, so sind auch hier die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall der Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten. Die besondere Eilbedürftigkeit der Entscheidung ergibt sich daraus, dass der Antragstellerin keine anderweitigen Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes zur Verfügung stehen. Dies wird durch die Leistungsbewilligung bis zum 31.05.2008 belegt. Der Anordnungsanspruch ergibt sich daraus, dass so erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Leistungsablehnung bestehen, dass in Verbindung mit der besonderen Eilbedürftigkeit und der erheblichen Grundrechtsrelevanz der Entscheidung der Antragsgegnerin deren Verpflichtung zur Fortzahlung der Leistungen bis zur eventuellen Bestandskraft des Ablehnungsbescheides geboten war.

Allerdings ist der Antragsgegnerin dahingehend Recht zu geben, dass gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des BAFöG oder der §§ 60 - 62 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes haben. Wie sich aus den Worten "dem Grunde nach förderungsfähig" ergibt, kommt es hinsichtlich des Leistungsausschlusses nicht darauf an, ob der Auszubildende aus persönlichen Gründen keine Förderung erhalten kann. Entscheidend ist allein, ob die Ausbildung als solche gefördert werden kann (BSG, Urteile vom 06.09.2007 - B 14/7 b 28/06 R und B 14/7 b 36/06 R; Hacketal, in: JurisPK § 7 Rnr. 62). Das Universitätsstudium der Antragstellerin ist ein gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 6 BAföG dem Grunde nach im Rahmen des BAföG förderbares Studium, so dass die Entscheidung der Antragsgegnerin grundsätzlich § 7 Abs. 5 Satz SGB II entspricht. Dennoch liegt im vorliegenden Fall aufgrund der Tatsache, dass die Antragstellerin mittlerweile das 60. Lebensjahr vollendet hat, eine so erhebliche Abweichung gegenüber der Fallgestaltung vor, die der Regelung durch den Gesetzgeber zugrunde lag, dass ein Abweichen vom Grundsatz des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II geboten ist. Denn Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, hinsichtlich des ausbildungsbedingten Bedarfes das SGB II von Leistungen zur Ausbildungsförderung freizuhalten (näher: BSG, Urteil vom 06.09.2007 - B 14/7 b AS 36/06 R; Hacketal, in: JurisPK § 7 Rnr. 64). Sinn und Zweck dieses Leistungsausschlusses greifen im vorliegenden Fall offensichtlich nicht. Zwar ist die Antragstellerin als ordentlich studierende Studentin eingeschrieben. Aufgrund ihres Lebensalters handelt es sich jedoch offensichtlich um ein Seniorenstudium, mit dem sich die Klägerin nicht auf eine spätere Berufstätigkeit vorbereiten will. Hierbei handelt es sich nicht um eine "Ausbildung" im Sinne des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II (für einen 63-jährigen Studenten ebenso OVG Thüringen, Beschluss vom 30.01.2001 - 3 EO 862/00 = FEVS 52, 329). Zur näheren Eingrenzung des Personenkreises, die ein Studium aufnehmen können, ohne gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II vom Ausschluss der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende betroffen zu sein, bietet sich eine Heranziehung des Rechtsgedankens aus § 65 Abs. 4 SGB II an. Nach dieser Vorschrift haben abweichend von § 2 auch erwerbsfähige Hilfebedürftige Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, die das 58. Lebensjahr vollendet haben und die Regelvoraussetzungen des Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes allein deshalb nicht erfüllen, weil sie nicht arbeitsbereit sind und nicht alle Möglichkeiten nutzen und nutzen wollen, ihre Hilfebedürftigkeit durch Aufnahme einer Arbeit zu beenden. Vom 1. Januar 2008 an gilt diese Vorschrift nur noch, wenn der Anspruch vor dem 1. Januar 2008 entstanden ist und der erwerbsfähige Hilfebedürftige vor diesem Jahr das 58. Lebensjahr vollendet hat (§ 65 Abs. 4 Satz 2 SGB II). Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber dokumentiert, dass er bei Personen, die das 58. Lebensjahr vollendet haben und die jedenfalls übergangsweise noch unter diese Vorschrift fallen, nicht davon ausgeht, dass sie dem Erwerbsleben noch zur Verfügung stehen müssen. Damit handelt es sich um eine geeignete Grundlage, den Personenkreis, der bei Aufnahme eines Studiums nicht als "Auszubildender" im Sinne des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II zu bezeichnen ist, näher zu umgrenzen. Die Antragstellerin erfüllt die Voraussetzungen des § 65 Abs. 4 SGB II. Ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld II ist vor dem 1. Januar 2008 entstanden, die Antragstellerin hatte zu diesem Zeitpunkt das 58. Lebensjahr vollendet und sie hat auf Anforderung durch das Gericht am 12.06.2008 die Erklärung nach §§ 65 Abs. 4 SGB II i. V. m. 428 SGB III abgegeben. Dass die Antragstellerin unter dem 02.05.2007 gegenüber der Antragsgegnerin eine anderslautende Erklärung abgegeben hat, ist unschädlich, weil es nicht um die Anwendung von § 65 Abs. 4 Satz 1 SGB II direkt geht, sondern eine Abgrenzung des Begriffs "Auszubildender".

Unter Zugrundelegung der zitierten Rechtsprechung des BVerfG hat aufgrund einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung die Entscheidung zugunsten der Antragstellerin zu ergehen. Die Nachteile, die die Antragstellerin zu erleiden hätte, wenn die einstweilige Anordnung unterbliebe und sich im Hauptsacheverfahren herausstellen würde, dass der Anspruch besteht, überwiegen die Nachteile, die die Steuerzahler - repräsentiert durch die Antragsgegnerin - zu erleiden hätten, wenn die einstweilige Anordnung ergeht und sich im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch nicht besteht. Denn gemäß §§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG, 945 ZPO hat die Antragstellerin die Leistungen zu erstatten, wenn sich im Hauptsacheverfahren das Nichtbestehen des Anspruchs erweist. Damit handelt es sich bei der einstweiligen Anordnung notwendigerweise um eine vorläufige Regelung, deren Folgen rückgängig gemacht werden können. Ergeht die einstweilige Anordnung hingegen nicht, muss die Antragstellerin das Studium abbrechen. Der damit verbundene Verlust an Fortbildung und selbstbestimmter, grundrechtsgeschützter Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1, ggfs. auch Art. 5 Abs. 3 GG, hierzu Jarras, in: Jarass/Pieroth, GG, Art 5 Rnr. 124) ist nicht wiedergutzumachen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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