L 6 V 5608/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 2 V 1494/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 V 5608/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 04.07.2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung.

Am 06.11.2001 beantragte die 1944 in C. geborene Klägerin die Gewährung von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Sie habe kurz nach der Geburt Mittelohrentzündungen auf beiden Ohren gehabt. Die heute bestehende Schwerhörigkeit sei auf die damaligen Luftangriffe zurückzuführen. Ferner habe sie ein psychisches Trauma als Folge der Kriegskampfhandlungen und als Folge einer als Kleinkind miterlebten Vergewaltigung der Mutter und eines selbst erfahrenen sexuellen Missbrauchs 1945/1946 erlitten.

Das Versorgungsamt U. (VA) zog den Arztbrief des C. G. von 1981 (stationäre Behandlung wegen einer depressiven Phase im Jahr 1981) und den Entlassungsbericht der S. Klinik vom 23.07.2001 nach der stationären Behandlung der Klägerin vom 13.02. bis 17.05.2001 bei. Der Chefarzt des Bereichs Psychotherapie Priv. Doz. Dr. H. und die Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse A. beschrieben eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig eine schwere Episode, eine somatoforme Schmerzstörung, eine Adipositas mit Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen und eine schwere Störung der Selbstwertregulation. Im Wesentlichen dieselben Diagnosen stellte der Dipl.-Psychologe Dr. H., bei dem die Klägerin im Rahmen einer ambulanten Langzeitpsychotherapie behandelt wird, im Befundschein vom 27.04.2003. Die Klägerin legte den ihren Eltern am 21.02.1944 ausgestellten Ausweis für Fliegergeschädigte, die Bescheinigung des Landrats in C. vom 29.02.1944 über die Zuweisung einer Wohnung in S., Kreis C., an die fliegergeschädigte Familie G., das Foto eines teilweise zerstörten Hauses, in dem ihre Mutter während der Schwangerschaft mit ihr für einige Tage verschüttet gewesen sei, und Schulzeugnisse vor. Aus dem Zeugnis der Grundschule K. vom 01.04.1952 ergibt sich, dass die Klägerin das Klassenziel nicht erreichte und deshalb nicht in das zweite Schuljahr versetzt werden konnte. Ferner reichte sie das Schreiben ihres Vaters, Karl G., vom 12.12.2001 zu den Akten. Darin führte er aus, seine Frau habe ihm nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft mitgeteilt, dass sie bei dem Bombenangriff vom 21.02.1944 verwundet und zusammen mit zwei weiteren Hausbewohnerinnen, die bei dem Angriff ums Leben gekommen seien, im Keller des Hauses verschüttet worden sei. Die Klägerin sei durch diese Ereignisse schon bei ihrer Geburt physisch und psychisch geschädigt worden. Nach der Geburt sei sie zusammen mit ihrer Mutter wegen Verdachts auf Diphterie auf eine Isolierstation verbracht worden. Wegen ihres Ohrenleidens sei sie bereits im Alter von zweieinhalb Monaten in der Universitätsklinik T. behandelt worden.

Das VA erhob das versorgungsärztliche Gutachten des Neurologen Dr. S. vom 25.11.2003 mit dem Hals-Nasen-Ohrenärztlichen Zusatzgutachten des Obermedizinalrats (OMR) R. vom 12.11.2003. OMR R. beschrieb eine wenigstens hochgradige Schwerhörigkeit beidseits (eine Kombination aus Innenohrschwerhörigkeit und erheblicher Schallleitungskomponente), eine chronisch sezernierende Mittelohreiterung beidseits und Ohrgeräusche. Es handele sich um eine rein endogene, chronische Mittelohreiterung mit entsprechenden Folgeerscheinungen, wie sie in dieser Form ohne jedwede äußere Einflüsse mit zu den häufigsten Erkrankungen im HNO-Bereich gehöre. Bedingt sei das Leiden durch eine angeborene Funktionsstörung der Schleimhäute in den oberen Luftwegen. Völlig ausgeschlossen sei es, dass die Mittelohreiterung bzw. die Innenohrschwerhörigkeit im Mutterleib durch Schalltrauma oder Verschüttung entstanden sein könnten. Dr. S. diagnostizierte eine Schwerhörigkeit beidseits, eine chronische Mittelohrentzündung beidseits, eine Depression, ein Fibromyalgiesyndrom, eine Polyarthrose und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule. Die Klägerin führe ihre psychischen Beschwerden im Wesentlichen auf vermutete frühkindliche Missbrauchserlebnisse zurück. Diese seien ihr vorwiegend anlässlich einer Kursteilnahme an "Prozessarbeit" Anfang der 90-er Jahre bewusst geworden. Es sei jedoch nicht möglich, sich bewusst an Erfahrungen aus der frühesten Kindheit, hier im Alter zwischen einem halben und zwei Jahren, zu erinnern. Das Auftreten und die Entwicklung eines depressiven Syndroms um 1980 müsse man deshalb auf andere Gründe zurückführen. Hier spielten unter anderem biographische-familiäre Einwirkungen während der Kindheit, das Auftreten von Spannungen im eigenen Familienumfeld sowie neben diesen reaktiven Komponenten auch anlagebedingte endogene Ursachen eine Rolle. Auch fehlten wesentliche Brückensymptome im Lebenslauf. Es spreche mehr dagegen als dafür, dass die geltend gemachten psychischen und Ohrbeschwerden mit den angegebenen Kriegserlebnissen in kausalem Zusammenhang stünden. Mit Bescheid vom 02.12.2003 lehnte das VA den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab.

Dagegen legte die Klägerin mit der Begründung Widerspruch ein, sie sei bereits durch den Bombenangriff in S. im Mutterleib geschädigt worden, als ihre schwangere Mutter durch eine Luftmine verschüttet worden sei. Ferner sei sie im letzten Kriegsjahr Opfer eines schweren Fliegerangriffs auf dem Weg von C. nach T. geworden. Im März 1945 sei ihre Mutter von marokkanischen Soldaten vergewaltigt worden. Im gleichen Bett habe sie als Baby gelegen. Sie könne sich ferner an einen selbst erfahrenen sexuellen Missbrauch zu dieser Zeit erinnern. Die Zusammenhänge seien durch die Behandlung bei Dr. H. fachärztlich bestätigt worden. Das VA veranlasste die versorgungsärztliche (vä) Stellungnahme der OMRin Dr. Sch. vom 24.03.2004. Darin vertrat diese die Auffassung, die kombinierte Schwerhörigkeit bei chronischer Otitis media sei ausschließlich auf endogene Ursachen zurückzuführen. Ferner seien ein abgegrenztes psychisches Trauma als Folge von Kriegskampfhandlungen oder alltäglichen Kriegsereignissen sowie ein sexueller Missbrauch nicht nachgewiesen. Die Klägerin habe zweifellos eine schwierige Kindheit durchlebt. Es sei umso fraglicher, dass sie erst im Alter von ca. 45 Jahren einen Zusammenhang mit den genannten Traumata sehen wolle. Eine Brückensymptomatik liege nicht vor. Die Klägerin reichte die Bescheinigung von Dr. H. vom 21.03.2004 zu den Akten. Dr. H. führte aus, die schwere psychische Erkrankung der Klägerin gehe weit in die frühe Kindheit zurück. Wahrscheinlich bestehe ein ursächlicher Zusammenhang mit frühkindlichen Traumatisierungen, die zunächst der infantilen Amnesie unterlegen und erst im Rahmen psychotherapeutischer Bemühungen bewusst geworden seien. Spätere familiäre Belastungen seien hinzugekommen und hätten sich auf die primäre psychische Erkrankung aufgepfropft. Dass bei der Exazerbation der depressiven Erkrankung im Erwachsenenalter das ganze Ausmaß der Genese nicht sofort deutlich geworden sei, hänge mit der Komplexität der psychischen Erkrankung und der jahrzehntelangen Tabuisierung von Übergriffen auf die Zivilbevölkerung am Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. OMRin Dr. Sch. referierte in der weiteren vä Stellungnahme vom 06.04.2004 anamnestische Angaben, welche die Klägerin gegenüber Dr. S. gemacht hatte und schloss hieraus auf erhebliche Spannungen innerhalb der Familie. Schwere innerfamiliäre Belastungen hätten nicht nur die Kindheit und die Adoleszenz, sondern auch das gesamte Erwachsenenalter nachhaltig geprägt und zunehmend zu einem schweren depressiven Syndrom geführt. Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 02.12.2003 blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 21.04.2004).

Am 24.05.2004 erhob die Klägerin Klage bei dem Sozialgericht Ulm (SG). Sie reichte ein von ihr selbst verfasstes, undatiertes Schreiben zu den Akten, in dem sie Ausführungen zu ihrem Lebenslauf und zur Krankheitsgeschichte machte, außerdem legte sie Tonbandaufnahmen der Erzählungen einer Augen- und Zeitzeugin vor.

Der Beklagte trat der Klage entgegen. Er vertrat im Schriftsatz vom 02.05.2006 die Auffassung, dass bereits der Nachweis der schädigenden Ereignisse fehle. Im Übrigen sei der für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge erforderliche Ursachenzusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht.

Auf den Antrag der Klägerin nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) holte das SG bei der Neurologin und Psychiaterin Dr. S. das Gutachten vom 18.03.2006 ein. Dr. S. vertrat darin die Auffassung, die Klägerin sei bereits vorgeburtlich durch die Luftangriffe und die Verschüttung der Mutter traumatisiert worden. Sie habe nach der Geburt kaum eine Bindung zur Mutter aufnehmen können, da diese wegen des Verdachts auf Diphtherie unmittelbar nach der Geburt von ihr getrennt worden sei. Die Beeinträchtigung des kindlichen Hörapparates sei entweder auf antenatale Infektionen des Föten durch eine mütterliche Infektion oder auf die im Gutachten des OMR R. beschriebene Störung der Schleimhautproliferation als Hemmungsmissbildung zurückzuführen, die auch unter Stress entstehen könne. Eine posttraumatische Belastungsstörung, eine andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung und die Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen (Essattacken bei anderen psychischen Störungen und Fibromyalgie) gingen mit Wahrscheinlichkeit auf schädigende Einwirkungen während des Zweiten Weltkriegs zurück. Die Schwierigkeit in der Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE, heute: Grad der Schädigung - GdS) liege darin, dass der sonst übliche "Leistungszustand vor Unversehrtheit" nicht ermittelt werden könne. Es könnten allenfalls Vergleiche zu "gesunden" gleichaltrigen Personen geführt werden. Die durchgehende seelische Behinderung, die primär auf die Kriegstraumatisierung zurückgeführt werden könne, betrage von den 2003 angesetzten Grad der Behinderung (GdB) etwa 70 v. H., wovon 10 bis 20 v. H. auf die familiären Begleitumstände zurückzuführen seien.

Der Beklagte legte hierzu die vä Stellungnahme vom 19.04.2006 vor, in der Dr. Köhler die Auffassung vertrat, die Argumente von Dr. S. hinsichtlich des Ohrenleidens seien spekulativ. Eine Auswirkung der vorgeburtlichen Entwicklung als wesentliche Ursache für die chronische Mittelohrentzündung werde in der Literatur nicht beschrieben. Die von Dr. S. ferner als Ursache des Ohrenleidens erwähnte Diphtherie bzw. eine andere schwere Infektion der oberen Atemwege werde durch die vorliegenden Befunde nicht bestätigt. Außerdem spreche der bisherige stetige Verlauf mehr für die endogene degenerative Genese als für eine Entstehung der chronischen Otitis media beidseits als Fortentwicklung einer akuten Mittelohrentzündung in Folge der schwerwiegenden Infektion der oberen Atemwege mit der daraus resultierenden nicht abheilenden großen Perforation der Trommelfelle. Bezüglich der psychischen Störung, die Dr. S. als posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziere, beschreibe die Sachverständige fast ausschließlich die subjektive Interpretation der für die Klägerin belastenden Ereignisse. Die massive und chronifizierende psychische Traumatisierung im familiären Bereich sowie die ablehnende Haltung der Mutter seien im Gutachten kaum erwähnt. Ferner könne die aktuelle Interpretation des Verhaltens des Kindes als Ausdruck einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht als Grundlage dieser Diagnose seit dem Jahr 2001 gelten.

In der mündlichen Verhandlung vom 04.07.2006 wurde der Ehemann der Klägerin, Siegfried Thalhofer, als Zeuge vernommen. Der Zeuge Thalhofer führte aus, die Klägerin habe ihm erst ca. 2000/2001 von Vergewaltigungen der Mutter und anderer Frauen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs berichtet. Das SG wies die Klage mit Urteil vom 04.07.2006, das der Bevollmächtigten der Klägerin am 02.10.2006 zugestellt wurde, ab.

Am 02.11.2006 hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie hat ein weiteres, von ihr verfasstes Schreiben vom 23.01.2007, das wiederum Angaben zu ihrem Werdegang beinhaltet, und zahlreiche Zeitungsartikel zu den Ereignissen am Ende des Zweiten Weltkriegs und den Folgen psychischer Traumatisierungen zu den Akten gereicht.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass ihr Ohrenleiden auf den im Mutterleib miterlebten Bombenangriff und weitere erlittene Fliegerangriffe als Säugling zurückzuführen sei. Die psychische Erkrankung gehe auf die miterlebten Vergewaltigungen ihrer Mutter und anderer Frauen und den selbst erlittenen sexuellen Missbrauch im Säuglings-/Kleinkindalter zurück.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 04.07.2006 sowie den Bescheid vom 02.12.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, eine Schwerhörigkeit beidseits und eine Depression als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz anzuerkennen und ihr Beschädigtenrente zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG hat der Senat das Gutachten des Oberarztes der Hals-Nasen-Ohrenärztlichen Abteilung des Bundeswehrkrankenhauses Ulm, Prof. Dr. Tisch, vom 14.01.2008 erhoben. Darin werden eine beidseitige, hochgradige Schallleitungs-/schallempfindungsschwerhörigkeit beschrieben. Diese kombinierte Schwerhörigkeit sei auf dem Boden einer langjährigen chronischen Otitis media bei Zustand nach mehrfachen Ohroperationen beidseits entstanden. Die Schallleitungsschwerhörigkeit sei nicht auf schädigende Einwirkungen während des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen, sondern als Endzustand der langjährigen chronischen Otitis media zu sehen. Dieser Verlauf sei schicksalhaft und nicht in Kausalbeziehung zum Zweiten Weltkrieg zu setzen. Die bei der Klägerin vorliegende Schallempfindungsschwerhörigkeit gehe zum überwiegenden Anteil ebenfalls nicht auf schädigende Einwirkungen während des Zweiten Weltkriegs zurück. Es handele sich hier um eine entzündungs-/operationsbedingte Schallempfindungsschwerhörigkeit auf dem Boden der chronischen Otitis media. Darüber hinaus seien bei der im Rahmen der Begutachtung erhobenen Schwerhörigkeit auch altersbegleitende Faktoren im Sinne einer Sozioakusis enthalten. Eine Schädigung des Innenohrs auf Basis der fötal erlittenen Schalltraumata sei grundsätzlich möglich. Nach Einschätzung des Sachverständigen und auf der Basis der vorliegenden Hörtests sei jedoch nicht davon auszugehen, dass diese zu einer relevanten, dass heißt eine MdE-begründenden Schwerhörigkeit geführt hätten.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung der Klägerin ist jedoch nicht begründet. Die bestehenden Gesundheitsstörungen der Klägerin sind nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentlich auf eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne der §§1, 5 BVG zurückzuführen.

Gemäß § 1 Abs. 1 BVG erhält, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung dieses Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung. Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen nach § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG Schädigungen gleich, die durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung herbeigeführt worden sind. Als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG gelten nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und Buchst. d BVG, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, Kampfhandlungen und damit unmittelbar zusammenhängende militärische Maßnahmen, insbesondere die Einwirkung von Kampfmitteln, und schädigende Vorgänge, die in Folge einer mit der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebietes oder mit der zwangsweisen Umsiedlung oder Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind.

Das schädigende Ereignis, die dadurch eingetretene gesundheitliche Schädigung und die darauf beruhenden Gesundheitsstörungen (Schädigungsfolgen) müssen erwiesen sein, während für die Frage des ursächlichen Zusammenhangs die Wahrscheinlichkeit ausreichend, aber auch erforderlich ist (vgl. BSGE 45, 1, 9/10; 60, 58, 59). Wahrscheinlich ist diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG aaO), d. h., dass unter Berücksichtigung der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den behaupteten ursächlichen Zusammenhang spricht. Der ursächliche Zusammenhang ist vor allem nicht schon dann wahrscheinlich, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist. Ist unter diesen Voraussetzungen ein Sachverhalt nicht nachweisbar bzw. wahrscheinlich, so hat nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren herrschenden Grundsatz der objektiven Beweislast der Beteiligte die Folgen zu tragen, der aus dem nicht erwiesenen bzw. wahrscheinlichen Sachverhalt Rechte für sich herleitet (vgl. BSGE 19, 52, 53; 30, 121, 123; 43, 110, 111). Das ist bei anspruchsbegründenden Tatsachen der Kläger. Eine Verschlimmerung ist dann anzunehmen, wenn der schädigende Vorgang entweder den Zeitpunkt vorverlegt hat, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schwerer auftreten ließ, als es sonst zu erwarten gewesen wäre (vgl. BSG SozR 3100 § 1 BVG Nr. 3).

In Bezug auf den Vortrag der Klägerin, sie habe ein Lärmtrauma erlitten, als ihre Mutter bei einem Luftangriff verschüttet worden sei, fehlt es bereits am Nachweis eines schädigenden Ereignisses. Allerdings ist ein Anspruch der Klägerin auf Leistungen nach dem BVG nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin zum Zeitpunkt des beschriebenen Ereignisses noch nicht geboren war. Schon der nasciturus kann im Sinne des § 1 BVG geschädigt werden; lediglich der Anspruch auf Leistungen beginnt frühestens mit der Geburt (vgl. Wilke/Fehl/Förster/Leisner/Sailer, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Auflage 1992 § 1 BVG Rdz. 6 m. w. N.). Dass die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft mit der Klägerin durch einen Bombenangriff verschüttet wurde, steht jedoch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest. Die Klägerin selbst hat angegeben, ihr sei von einem solchen Ereignis berichtet worden. Tatsächlich liegen hierzu jedoch lediglich vor das Schreiben des Vaters der Klägerin vom 12.12.2001, in dem dieser die entsprechende Schilderung seiner Ehefrau nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft wiedergibt, das Foto eines teilweise zerstörten Hauses, der Ausweis für Fliegergeschädigte vom 21.02.1944 und die Bescheinigung des Landrats in C. vom 29.02.1944 über die Zuweisung einer Wohnung in S. vor. Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass sich das Ereignis so abgespielt hat, wie es von der Klägerin geschildert wurde, und im Übrigen berücksichtigt, dass jedenfalls auf Grund des damaligen Wohnortes der Familie G. in Stuttgart Lärmbelastungen durch Bombenangriffe während der Schwangerschaft der Mutter unterstellt werden können, folgt hieraus kein anderes Ergebnis. Die Lärmeinwirkungen haben nämlich nicht nachweisbar zu einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG geführt. Zwar ist eine Schädigung des fötalen Gehörs etwa ab der 26. Schwangerschaftswoche grundsätzlich möglich, wie sich aus dem auf Antrag der Klägerin eingeholten Gutachten von Prof. Dr. Tisch vom 14.01.2008 ergibt. Innenohrschäden können ab einer Lärmeinwirkung von mehr als 85 dB (A) auftreten. Der Fötus ist jedoch, wie Prof. Dr. Tisch überzeugend ausführte, zusätzlich geschützt durch die mütterliche Bauchwand und Schutzreflexe der Mutter (Wegdrehen von der Lärmquelle mit der Folge einer Lärmexposition von hinten). Der Senat schließt sich der Beurteilung von Prof. Dr. Tisch an, dass spekulativ bleibt, ob eine fötale Hörschädigung der Klägerin so groß war, dass sie auch zu einer fassbaren Veränderung der Hörleistung geführt hat. Die Auffassung der Neurologin und Psychiaterin Dr. S. in dem nach § 109 SGG eingeholten Gutachten vom 18.03.2006, die Beeinträchtigung des kindlichen Hörapparates sei entweder durch antenatale Infektionen des Föten durch eine mütterliche Infektion oder durch eine Störung der Schleimhautproliferation als Hemmungsmissbildung, die auch unter Stress entstehen könne, bedingt, beruht letztlich auf Vermutungen. Vorgeburtliche Infektionen der Klägerin, die eine Hörschädigung zur Folge haben konnten, sind nicht belegt. Die Annahme einer Hemmungsmissbildung auf Grund der kriegsbedingten Stresssituation während der Schwangerschaft wird durch die fachärztlichen Beurteilungen des Obermedizinalrats R. und von Prof. Dr. Tisch nicht bestätigt und überzeugt den Senat nicht. Die chronische Otitis media beruht vielmehr auf einer angeborenen Funktionsstörung der Schleimhäute in den oberen Luftwegen, wie sich aus dem überzeugenden Gutachten des Obermedizinalrats R. vom 12.11.2003 ergibt. Hierfür kann eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 BVG nicht verantwortlich gemacht werden. Dass die Behandlung dieser Krankheit auf Grund der damaligen medizinischen Verhältnisse (Fehlen der Therapiemöglichkeit durch Antibiotika) nur durch operative Behandlungen möglich war, wie im Gutachten von Prof. Dr. Tisch dargelegt worden ist, kann ebenfalls nicht als Schädigung im Sinne des BVG angesehen werden.

Entsprechendes gilt für den Vortrag der Klägerin, sie habe als Säugling Fliegerangriffe miterlebt. Wie häufig und mit welcher Stärke die Klägerin Lärmeinwirkungen durch Fliegerangriffe ausgesetzt war, bleibt offen. Gerade der Abstand von der Lärmquelle ist jedoch, wie aus dem Gutachten von Prof. Dr. Tisch folgt, entscheidend für die Höhe des Lärmpegels und für das mögliche Schädigungsausmaß. In jedem Fall aber ist die haftungsausfüllende Kausalität nicht gegeben. Die heute bestehende Schwerhörigkeit geht nicht auf eine damalige Lärmeinwirkung zurück. Entscheidend hierfür waren vielmehr, wie sich aus dem Gutachten des Obermedizinalrats R. vom 12.11.2003 und von Prof. Dr. Tisch vom 14.01.2008 ergibt, die chronischen Mittelohrentzündungen, für die ihrerseits eine endogene, nicht den Kriegsereignissen zuzurechnende Ursache verantwortlich ist.

Soweit die Klägerin ihre psychischen Gesundheitsstörungen auf als Säugling/Kleinkind miterlebte Vergewaltigungen ihrer Mutter und anderer Frauen und selbst erlittenen sexuellen Missbrauch zur gleichen Zeit zurückführt, liegt der Nachweis eines schädigenden Ereignisses nicht vor. Die Klägerin hat in zahlreichen Schreiben angegeben, sie habe im Rahmen einer Therapie aufgedeckt, dass sie in den Jahren 1945/1946 die geschilderten Sexualstraftaten miterlebt bzw. selbst erlitten habe. Der Senat folgt jedoch insoweit der Beurteilung in dem von der Beklagten veranlassten Gutachten des Neurologen Dr. S. vom 25.11.2003. Danach ist eine Erinnerung an Erfahrungen aus der frühesten Kindheit (hier im Alter zwischen einem halben und zwei Jahren) nicht möglich. In der Fachliteratur wird dieses Phänomen als "infantile Amnesie" bezeichnet. Die abweichende Beurteilung in der Bescheinigung des behandelnden Psychotherapeuten der Klägerin Dr. H. vom 21.03.2004, die frühkindlichen Traumatisierungen seien zwar zunächst der infantilen Amnesie unterlegen, jedoch im Rahmen psychotherapeutischer Bemühungen bewusst geworden, entspricht nicht der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung. Gleiches gilt für die Ausführungen in dem auf Antrag der Klägerin durch das SG eingeholten Gutachten von Dr. S. vom 18.03.2006, die seelischen Eindrücke in der frühen Kindheit seien im neurobiologischen System des zentralen Nervensystems gespeichert und könnten emotional völlig eingekapselt ruhen, bis erneute Triggersituationen die neurobiologische Pforte öffneten und dem Sprachzentrum zugänglich machten. Jedenfalls aber sind die von der Klägerin geschilderten Ereignisse nicht wesentliche Ursache für die heute im psychiatrischen Bereich bestehenden Gesundheitsstörungen (haftungsausfüllende Kausalität). Die Klägerin leidet, wie sich aus dem Entlassungsbericht der S. Klinik nach der stationären Behandlung vom 13.02.2001 bis 17.05.2001 ergibt, an einer rezidivierenden depressiven Störung, zum damaligen Zeitpunkt einer schweren Episode, einer somatoformen Schmerzstörung, einer Adipositas mit Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen und einer schweren Störung der Selbstwertregulation. Die Klägerin wurde bereits im Jahr 1981 wegen einer depressiven Neurose stationär behandelt (Arztbrief Christophsbad G.). Hierfür spielten mehrere Faktoren wie unter anderem biographisch-familiäre Einwirkungen während der Kindheit, das Auftreten von Spannungen im eigenen Familienumfeld sowie neben diesen reaktiven Komponenten auch anlagebedingte endogene Ursachen eine Rolle. In Bezug auf die geltend gemachte Schädigung in frühester Kindheit fehlen insbesondere Brückensymptome zu der ab 1981 behandelten Depression. Insoweit schließt sich der Senat der überzeugenden Beurteilung im Gutachten von Dr. S. vom 25.11.2003 und in den vä Stellungnahmen von Dr. Sch. vom 24.03.2004 und 06.04.2004 und von Dr. Köhler vom 19.04.2006 an. Die abweichende Beurteilung in der im Rahmen des Widerspruchsverfahrens vorgelegten Bescheinigung von Dr. H. vom 21.03.2004 beruht auf der – nicht bewiesenen – Annahme von frühkindlichen Traumatisierungen. Dr. H. geht im Übrigen auch davon aus, dass spätere familiäre Belastungen hinzu gekommen seien und sich "auf die primäre psychische Erkrankung aufgepfropft" hätten. Ein Abgrenzung zwischen der von ihm angenommenen psychischen Schädigung in frühester Kindheit und den Einwirkungen während des späteren Lebens nimmt Dr. H. nicht vor. Auch Dr. S., die eine Schädigung während des Zweiten Weltkriegs als Ursache für die Gesundheitsstörungen der Klägerin im psychiatrischen Bereich ansieht, begründet ihre Beurteilung letztlich unter anderem mit weiteren belastenden Faktoren in der Lebensgeschichte der Klägerin wie der zeitweisen Trennung von der Mutter, der Ablehnung durch die Mutter, der Schwerhörigkeit als massiver Behinderung der Klägerin und einer mangelhaften Förderung des weiteren Lebensweges durch die Primärfamilie. Bei diesen Umständen handelte es sich jedoch nicht um unmittelbare Kriegseinwirkungen nach § 5 BVG. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Klägerin während ihres Lebens erheblichen Belastungen ausgesetzt und ihr persönlicher Lebensweg durch die besondere Situation am Ende und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit geprägt war. Diese Umstände können jedoch nicht als Schädigung im Sinne des BVG angesehen werden. Der Be-griff der "unmittelbaren Kriegseinwirkung" im Sinne des § 5 BVG ist eng auszulegen. Zustände, denen alle Bevölkerungskreise für längere Zeit ausgesetzt waren, wie Mangelzustände hinsichtlich der Ernährung und Versorgung mit Arzneimitteln oder ungenügende Unterkunftsverhältnisse und eine dadurch bedingte erhöhte Ansteckungsgefahr fallen nicht unter diesen Begriff (VV zu § 5 BVG, zitiert nach Wilke/Fehl/Förster/Leisner/Sailer, a. a. O. § 5 BVG). Dass die Situation der Familie G. und damit die Entwicklung der Klägerin durch die Verhältnisse Mitte der 40er Jahre besonders belastet war, begründet daher keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung.

Die Berufung war nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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