Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 48 SB 1233/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 113/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juli 2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 bereits für die Zeit ab dem 16. November 2000.
Der 1948 geborenen Klägerin war auf einen im Oktober 1997 gestellten Erstantrag hin auf der Grundlage eines im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 17. August 1998 eingeholten Gutachtens der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie G vom 8. Oktober 1998 durch Widerspruchsbescheid vom 11. März 1999 ein Gesamt GdB von 40 zuerkannt worden.
Im Dezember 2001 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag, zu dem sie Atteste der behandelnden Ärzte Dr. P, Frauenärztin, vom 19. April 2001, der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K vom 26. Januar 2001 und dem Facharzt für Allgemeinmedizin Ö vom 10. Dezember 2001 beibrachte; letzterer nannte als Diagnose u. a. eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung. Der Beklagte holte ein Gutachten des Praktischen Arztes Dr. Y vom 25. Januar 2002 ein, der ausführte, dass eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung und Bluthochdruck neu hinzugekommen seien, dass der Gesamt GdB von 40 jedoch weiterhin angemessen sei. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme erkannte der Beklagte durch Bescheid vom 05. April 2002 dennoch insgesamt auf einen Gesamt GdB von 50 wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen, deren verwaltungsintern durch Dr. Y festgestellte Einzel GdB sich aus den Zusätzen in Klammern ergeben:
a) Depressiver Erschöpfungszustand (30) b) Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, rezidivierendes Halswirbelsäulen- und Lenden- wirbelsäulensyndrom, Osteoporose (20) c) Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (20) d) Bluthochdruck (10) e) Fingerpolyarthrose, Rhizarthrose (10)
Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Im November 2003 beantragte die Klägerin die rückwirkende Anerkennung des GdB von 50 ab 16. November 2000. Dies lehnte der Beklagte nach Einholung einer prüfärztlichen Stellungnahme durch Bescheid vom 29. Januar 2004 ab, da die festgestellten Behinderungen erst ab dem Zeitpunkt der Untersuchung des Dr. Y am 25. Januar 2002 hätten festgestellt werden können. Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin, mit dem sie ausführte, dass ihre Erkrankungen bereits im Jahr 2000 bestanden hätten, und dem Befunde des Facharztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. K vom 29. November 2001 und vom 24. Januar 2002 beigefügt waren, wies der Beklagte nach Einholung eines Befundberichts des Dr. K vom 3. März 2004 und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme durch Widerspruchsbescheid vom "05. März 2004", zur Post gegeben am 10. Mai 2004, zurück.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht Befundberichte der behandelnden Ärzte zum Zeitraum bis November 2000 mit folgenden Ergebnissen eingeholt: - Der Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. K hat mit am 25. November 2004 eingegangenen Befundbericht angegeben, dass die Klägerin im Jahr 2000 nicht in seiner Behandlung gewesen sei, ihr seinerzeitiger Zustand sei ihm nicht bekannt. - Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K hat am 04. April 2005 ausgeführt, dass die Klägerin bei ihr zuerst am 19. Mai 2000 und zuletzt am 31. März 2005 in Behandlung gewesen sei. Die Klägerin habe bis November 2000 unter depressiven und somatoformen Störungen mittleren Ausmaßes gelitten, es hätte eine Depression mit rezidivierenden Phasen, F33.1 der ICD 10 Kapitel V (F), vorgelegen; eine schwere Störung wie bei einer Zwangskrankheit habe nicht bestanden. Die Befunde wechselten entsprechend der Belastungen, Anforderungen und des Arbeitsklimas. Eine Verschlimmerung sei durch multiple Belastungen im Jahr 2000 eingetreten. Die Frage nach zeitlicher Aufgliederung beantwortete sie mit "November 2000", die Klägerin habe von Mobbing am Arbeitsplatz berichtet, an anderer Stelle gab sie an, dass die Klägerin im Dezember 2000 von erheblichen Belastungen durch Mobbing am Arbeitsplatz berichtet habe, was zu einer massiven Exazerbation ihrer Beschwerden mit Somatisierungsstörung geführt habe. Die Behandlung sei in den Phasen durch Antidepressiva, stützende Gespräche und eine Verhaltenstherapie durch Frau Dipl. Psych. O erfolgt mit dem Ergebnis einer Stabilisierung, so dass ruhige Phasen ohne besondere Belastungen recht gut hätten bewältigt werden können. Bei phasenhaftem Verlauf habe es immer wieder Einbrüche gegeben. Eine Verbesserung und längere stabile Phasen beständen seit Antritt der neuen Stelle in T im Juli 2001. - Die psychologische Psychotherapeutin Dipl. Psych. O hat in ihrem Befundbericht vom 17. Juni 2005 die Aufnahme einer Behandlung durch sie am 01. November 1999 beschrieben und insoweit auf einen beigefügten Antrag an die Krankenversicherung der Klägerin betreffend die Kostenübernahme für die Behandlung verwiesen. Als Diagnosen für die Zeit bis November 2000 benannte sie eine schwere depressive Episode (F32.2 ICD 10) und eine selbstunsichere vermeidende Persönlichkeitsstörung (F60.6). Die Klägerin habe unter stärker behindernden Störungen durch depressive, phobische und somatoforme Störungen gelitten; eine schwere Störung durch einen Verdacht auf eine Zwangsstörung habe sich nicht bestätigt. - Der behandelnde Facharzt für Innere Medizin Dr. W hat durch Befundbericht vom 17. Januar 2006 ferner für die Zeit bis November 2000 noch eine arterielle Hypertonie WHO Grad I II mitgeteilt. Herzschäden oder Herzrhythmusstörungen hätten nicht bestanden. Eine Belastung durch EKG sei bis 125 W durchgeführt worden. - Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Ö hat mitgeteilt, die Klägerin erst seit April 2001 zu behandeln, und die Aufzeichnungen seines Praxisvorgängers übersandt.
Durch Gerichtsbescheid vom 14. Juli 2006 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Nach § 44 Abs. 2 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) komme eine rückwirkende Aufhebung eines rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit nur nach pflichtgemäßem Ermessen der Behörde in Betracht. Insoweit normiere § 6 Abs. 1 Satz 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung, dass auf Antrag des schwerbehinderten Menschen nach Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses bei dem (offenkundigen) Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft bereits zu einem früheren Zeitpunkt dieser Zeitpunkt auf dem Schwerbehindertenausweis zu vermerken sei. Ein besonderes Interesse an der rückwirkenden Eintragung sei nicht vorgetragen worden; zugunsten der Klägerin werde jedoch die Inanspruchnahme eines vorzeitigen Rentenbeginns ohne, ggf. mit geringeren Abschlägen nach § 236 a Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (SGB VI) unterstellt. Der Beklagte habe jedoch weder das Recht unrichtig angewandt, noch sei er von einem falschen Sachverhalt ausgegangen, als er den Bescheid vom 05. April 2002 erlassen habe. Denn die Schwerbehinderteneigenschaft habe im November 2000 noch nicht vorgelegen, beweisbar sei diese erst seit der Untersuchung durch Dr. Y im Januar 2002. Für die psychische Erkrankung ergäben sich anhand der von Frau G im Oktober 1998 erhobenen Befunde sowie unter Auswertung der Befundberichte der Frau Dr. K und der Dipl. Psych. O keine Anhaltspunkte für eine höheren Einzel GdB als 30. Zwar beschreibe die behandelnde Psychiaterin eine Befundverschlechterung im November 2000 durch Mobbing am Arbeitsplatz, weise jedoch auch gleichzeitig auf den wechselnden Verlauf der Erkrankung mit Stabilisierungen und Einbrüchen hin. Dem Umstand der Schwankungen sei nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Schwerbehindertenrecht und im sozialen Entschädigungsrecht (AHP) mit einem Durchschnittswert Rechnung zu tragen. Bereits im Juli 2001 habe sich der Zustand der Klägerin in seelischer Hinsicht wieder stabilisiert, weshalb die Einschätzung des Beklagten für zutreffend erachtet werde. Die chronisch-obstruktive Lungenkrankheit liege beweisbar erst ab 2002 vor, weshalb die Klägerin am Vortrag, diese habe bereits früher bestanden, auch nicht weiter festgehalten habe. Der medikamentös gut einstellbare und ohne weitere Folgen verbliebene Bluthochdruck sei keinesfalls mit einem höheren Einzel GdB als 10 zu bewerten. Anhaltspunkte für das Vorliegen wesentlicher Einschränkungen auf orthopädischem Gebiet ergäben sich aus den eingeholten Befundberichten, insbesondere den Unterlagen des Praxisvorgängers des Dr. Ö nicht.
Gegen diesen am 21. Juli 2006 zugegangenen Gerichtsbescheid richtet sich die am 09. August 2006 eingegangene Berufung der Klägerin. Die Klägerin trägt vor, die Feststellung ihrer Schwerbehinderteneigenschaft zum 16. November 2000 zur Vermeidung von Rentenabschlägen nach § 236 a SGB VI zu benötigen. Ihrem Krankheitsverlauf und den Befunden der behandelnden Ärzte könne ohne weiteres entnommen werden, dass ihre Schwerbehinderteneigenschaft nicht erst seit der Untersuchung durch Dr. Y vorgelegen habe. Eine kurzfristige Stabilisierung ihres seelischen Leidens im Juli 2001 spreche nicht gegen das Vorliegen einer schweren seelischen Erkrankung bereits mindestens seit November 2000. Aus den Unterlagen des Praxisvorgängers des Dr. Ö gehe hervor, dass sie mindestens seit April 1999 als "multimorbider Patient" bezeichnet worden sei; ferner gebe es hier zahlreiche Eintragungen zu einer schweren seelischen Symptomatik mit Somatisierungstendenz. Ihre Lungen- und Bronchialfunktion sei seit April 1991 beeinträchtigt.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juli 2006 und den Bescheid des Beklagten vom 29. Januar 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05. März 2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, seinen Bescheid vom 05. April 2002 abzuändern und einen Gesamt Grad der Behinderung von 50 bereits ab 16. November 2000 zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verweist auf die Ausführungen der erstinstanzlichen Entscheidung, denen er sich anschließe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei der GdB als Statusfeststellung grundsätzlich nur ab Antrag mit Wirkung für die Zukunft, nicht aber für die Vergangenheit festzustellen. Eine Rückwirkung müsse auf offenkundige Fälle beschränkt bleiben. Die Eigenschaft als Schwerbehinderter sei dann nicht offenkundig, wenn der GdB nur durch Einholung eines oder mehrerer fachärztlicher Gutachten unter Berücksichtigung und Würdigung sämtlicher vorhandener medizinischer Unterlagen festgestellt werden könne. Das offenkundige Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft für die Zeit vor Hinzutreten der chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung im Dezember 2001 sei vorliegend nicht ersichtlich.
Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes eine Aufstellung der Krankenkasse der Klägerin über Arbeitsunfähigkeitszeiten eingeholt, auf die Bezug genommen wird. Sodann hat es auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. v vom 08. Juli 2007 eingeholt. Dieser führte aus, dass entsprechend der ICD 10 Logik die bei der Untersuchung festgestellte aktuelle depressive Symptomatik als leichtgradig zu klassifizieren sei. Ein somatisches Syndrom liege nicht vor. Offensichtlich komme es jedoch immer wieder rezidivierend unter psychosozialen Belastungen zu einer deutlichen Verstärkung der depressiven Symptomatik. Vorliegend sei es nach den anamnestischen Angaben der Klägerin in Übereinstimmung mit den objektiv dokumentierten Befunden zu Exazerbationen 1992 mit dem Beginn der Spielsucht des Ehemannes, 1997 im Zusammenhang mit der Scheidung vom Ehemann und in den Jahren 1999 bis 2001 unter den damaligen Belastungsfaktoren während der Arbeit aufgrund von Schwierigkeiten mit einer neuen Kita-Leitung gekommen. Die Angaben der Klägerin seien durch die dokumentierten Befunde sowohl des Hausarztes, der behandelnden Nervenärztin Dr. K wie auch der behandelnden Verhaltenstherapeutin gestützt. Dem Bericht der Verhaltenstherapeutin komme aus seiner Sicht ein erhebliches Gewicht zu, da diese naturgemäß die Klägerin am häufigsten gesehen habe; diese habe eindeutig eine schwere depressive Symptomatik diagnostiziert. Insgesamt sei aus seiner nervenärztlichen Sicht der Einzel GdB von 30 in der Rückschau eher streng beurteilt. Es habe sicherlich eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vorgelegen, die einen Einzel GdB von 30 40 entsprechend den Anhaltspunkten ausmache. Entsprechend den von ihm erhobenen Befunden sei der Einzel GdB für den fraglichen Zeitraum seines Erachtens mit 40 anzusetzen, was unter Berücksichtigung der degenerativen Wirbelsäulenveränderungen mit einem Einzel GdB von 20 zu einem Gesamt GdB von 50 für den Zeitpunkt 16. November 2000 führe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Bescheide des Beklagten und der erstinstanzliche Gerichtsbescheid sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung eines Gesamt GdB von 50 bereits ab 16. November 2000.
Nach § 44 Abs. 2 SGB X ist ein rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann nach Satz 2 der Vorschrift auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Diese Vorschrift ist Grundlage einer möglichen Rücknahme für nach dem Schwerbehindertengesetz (bzw. nach dessen Außerkrafttreten dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch SGB IX ) zu treffende Feststellungen (BSG, Urteil vom 29. Mai 1991, Az.: 9 a/9 RVs 11/89, SozR 3 1300 § 44 Nr. 3). Die Höhe des Gesamt-GdB ist nach Maßgabe der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil II SGB IX)" in ihrer jeweils geltenden Fassung (für November 2000 also der AHP 1996; derzeit Ausgabe 2008 – AHP 2008), die als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen sind, festzustellen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Nr. 19 AHP 1996 (S. 33 ff., ebenso AHP 2008, Seite 24 ff.) die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Nr. 19, Abs. 1, 3 und 4 AHP 1996, S. 35; ebenso AHP 2008, Seite 24 ff.).
Wie bereits das Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat, war die vom Beklagten mit Bescheid vom 05. April 2002 getroffene Feststellung über die Zuerkennung eines GdB von 50 ohne Feststellung einer Rückwirkung jedoch nicht rechtswidrig. Problematisch ist dabei zwar, dass das vom Beklagten für die Erhöhung des Gesamt-GdB genannte Datum (Dezember 2001 bzw. Januar 2002) anhand des Ergebnisses der Ermittlungen nicht nachvollziehbar ist. Denn Dr. Y, der ohnehin den Gesamt-GdB nur mit 40 bewertete, kam am 25. Januar 2002 zu der Annahme der weiteren Behinderung chronisch-obstruktive Lungenerkrankung lediglich aufgrund einer entsprechenden Benennung im Attest des Arztes Ö vom 10. Dezember 2001, das jedoch hierzu keinerlei weitere Angaben enthielt, und aufgrund des von ihm erhobenen Befundes "vereinzelte bronchitische Geräusche basal", während nach den AHP 1996 für einen diesbezüglichen Einzel-GdB von 20 eigentlich eine schwere Form von Bronchiektasen (fast kontinuierlich ausgiebiger Husten und Auswurf, häufige akute Schübe) oder eine das gewöhnliche Maß übersteigende Atemnot bei mittelschwerer Belastung, statische und dynamische Messwerte der Lungenfunktionsprüfung bis zu 1/3 niedriger als die Sollwerte (AHP 1996, Nr. 26.8, S. 82 f.) erforderlich waren; derartige Befunde lagen nicht vor. Dr. K gab im am 25. November 2004 eingegangenen Befundbericht an, dass die Klägerin im Jahr 2000 bei ihm nicht in Behandlung gewesen sei und er keine Angaben zu ihrem seinerzeitigen Zustand machen könne. Gegenüber dem Beklagten hatte Dr. Kmit Befundbericht vom 3. Mai 2004 angegeben, dass die Klägerin im Behandlungszeitraum über trockenen Husten geklagt habe; der Diagnosebezeichnung J44.8 G (chronische Bronchitis) ist dabei die Erfüllung der Voraussetzungen für einen Einzel-GdB von 20 ebenfalls nicht zu entnehmen. Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen Bronchitis gab es ausweislich des Vorerkrankungsverzeichnisses der Krankenkasse der Klägerin lediglich Juni/Juli 1997 und sodann wieder ab August 2001.
Dennoch führt dies nicht dazu, dass ein Gesamt-GdB von 50 bereits für November 2000 festgestellt werden könnte. Das Sozialgericht Berlin hat dies im Gerichtsbescheid vom 14. Juli 2006 unter Auswertung der zeitnah erhobenen Befunde der Frau G im Oktober 1998 und der behandelnden Ärzte Dr. K und der Dipl. Psych. O ausführlich dargelegt. Auf diese Ausführungen wird entsprechend § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen; das Gericht schließt sich diesen Bewertungen an. Entgegen der Auffassung der Beklagten war hier allerdings nicht nur eine Überprüfung im Hinblick auf eine "offenkundige" Abweichung der GdB-Beurteilung vorzunehmen, da es – anders als im der BSG-Entscheidung vom 29. Mai 1991 (a.a.O.) zugrundeliegenden Fall – wegen der erstmaligen Antragstellung im Oktober 1997 nicht um eine vor die Antragstellung zurückwirkende GdB-Feststellung ging. Das Sozialgericht hat sich dementsprechend auch nicht auf die Prüfung der bloßen Offenkundigkeit einer – möglicherweise - fehlerhaften Bewertung beschränkt, als es ausgeführt hat, dass ein höherer GdB als 40 für November 2000 nicht festgestellt werden könne.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachten des Dr. v. Die im streitigen Zeitpunkt anzuwendenden AHP 1996 sahen einen Einzel GdB von 0 20 für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen, einen Einzel GdB von 30 40 für stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) und einen Einzel GdB von 50 70 erst für schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vor (Nr. 26.3 AHP 1996, Seite 60 f., übereinstimmend mit AHP 2008, Seite 48). Der Gutachter stellte zunächst einmal zum Untersuchungszeitpunkt lediglich eine leichtgradige depressive Symptomatik fest und verneinte das Vorliegen eines somatischen Syndroms. Hinsichtlich der Bewertung für den streitigen Zeitpunkt 16. November 2000 drückt sich selbst der Gutachter eher vage aus, wenn er ausführt, dass ein Einzel GdB von 30 aus nervenärztlicher Sicht "eher streng beurteilt" sei. Sicherlich habe eine stärker behindernde Störung vorgelegen, die einen Einzel GdB "von 30 40" ausmache. Seines Erachtens sei der Einzel-GdB für den fraglichen Zeitraum mit 40 anzusetzen. Diese Formulierungen lassen erkennen, dass – was angesichts des Zeitablaufes auch einleuchtet – eine genaue und hinreichend sichere Festlegung zu diesem Einzel-GdB im Nachhinein nicht mehr getroffen werden kann.
Maßgebend konnten daher nach allem nur die zeitnah erhobenen Befunde sein. Zur Bewertung des psychischen Leidens gibt es jedoch zwei sich widersprechende Befunde. Die Psychotherapeutin Dipl. Psychologin O diagnostizierte mit Befundbericht vom 17. Juni 2005 eine schwere depressive Episode bei selbstunsicher vermeidender Persönlichkeitsstörung, während die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K in ihrem Befundbericht vom 04. April 2005 lediglich eine Depression mit rezidivierenden Phasen (F33.1 nach ICD 10) bei wechselnden Befunden und im Einzelnen als stärker behindernd depressive und somatoforme und damit lediglich zwei von den in den AHP genannten fünf Störungen mit Krankheitswert beschreibt, was insgesamt eher für den auch vom Beklagten gefundenen Einzel GdB von 30 spricht. Hinsichtlich der für November/Dezember 2000 aufgrund von Arbeitsplatzschwierigkeiten beschriebenen Verschlimmerung hat das Sozialgericht zu Recht ausgeführt, dass nach den AHP Schwankungen im Gesundheitszustand mit einem Durchschnittswert Rechnung zu tragen ist. Dr. v hat zwar derartige Schwankungen ebenfalls festgestellt und diese anhand der anamnestisch erhobenen Angaben der Klägerin im Einzelnen dargestellt. Einen Durchschnittswert, der diese Schwankungen berücksichtigen würde, hat er jedoch nicht gebildet. Dem Karteiauszug des Praxisvorgängers des Hausarztes Özdemir konnten entgegen der Einschätzung der Klägerin auch keine ausreichenden Befunde zur Schwere der Erkrankung entnommen werden. Hier sind trotz mehrerer Vorstellungen der Klägerin bei dem Arzt im Jahre 2000 lediglich für den 28. April und den 12. Dezember Symptome auf psychiatrischem Gebiet festgehalten, die jedoch für eine Einschätzung des GdB nicht ausreichen. Auch von ihrer vom 23. Oktober 2000 bis 13. Juli 2000 bestehenden Arbeitsunfähigkeit, die unter anderem wegen einer rezidivierenden depressiven Störung bescheinigt worden war, kann nicht auf die Höhe des GdB geschlossen werden; zudem wurde die Arbeitsunfähigkeit jeweils durch Dr. Kraemer attestiert, deren Angaben im Befundbericht vom 4. April 2005, wie ausgeführt, nicht für den höheren GdB von 40 sprachen.
Letztlich kann nicht mehr geklärt werden, ob der Gesundheitszustand der Klägerin im relevanten Zeitpunkt 16. November 2000 bereits einen GdB von 50 gerechtfertigt hat. Diese Unsicherheit geht nach allgemeinen Regeln der so genannten objektiven Beweislast, nach der jeder im Rahmen des anzuwendenden materiellen Rechts die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von dem geltend gemachten Anspruch begründen, zu Lasten der Klägerin.
Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 bereits für die Zeit ab dem 16. November 2000.
Der 1948 geborenen Klägerin war auf einen im Oktober 1997 gestellten Erstantrag hin auf der Grundlage eines im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 17. August 1998 eingeholten Gutachtens der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie G vom 8. Oktober 1998 durch Widerspruchsbescheid vom 11. März 1999 ein Gesamt GdB von 40 zuerkannt worden.
Im Dezember 2001 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag, zu dem sie Atteste der behandelnden Ärzte Dr. P, Frauenärztin, vom 19. April 2001, der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K vom 26. Januar 2001 und dem Facharzt für Allgemeinmedizin Ö vom 10. Dezember 2001 beibrachte; letzterer nannte als Diagnose u. a. eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung. Der Beklagte holte ein Gutachten des Praktischen Arztes Dr. Y vom 25. Januar 2002 ein, der ausführte, dass eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung und Bluthochdruck neu hinzugekommen seien, dass der Gesamt GdB von 40 jedoch weiterhin angemessen sei. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme erkannte der Beklagte durch Bescheid vom 05. April 2002 dennoch insgesamt auf einen Gesamt GdB von 50 wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen, deren verwaltungsintern durch Dr. Y festgestellte Einzel GdB sich aus den Zusätzen in Klammern ergeben:
a) Depressiver Erschöpfungszustand (30) b) Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, rezidivierendes Halswirbelsäulen- und Lenden- wirbelsäulensyndrom, Osteoporose (20) c) Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (20) d) Bluthochdruck (10) e) Fingerpolyarthrose, Rhizarthrose (10)
Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Im November 2003 beantragte die Klägerin die rückwirkende Anerkennung des GdB von 50 ab 16. November 2000. Dies lehnte der Beklagte nach Einholung einer prüfärztlichen Stellungnahme durch Bescheid vom 29. Januar 2004 ab, da die festgestellten Behinderungen erst ab dem Zeitpunkt der Untersuchung des Dr. Y am 25. Januar 2002 hätten festgestellt werden können. Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin, mit dem sie ausführte, dass ihre Erkrankungen bereits im Jahr 2000 bestanden hätten, und dem Befunde des Facharztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. K vom 29. November 2001 und vom 24. Januar 2002 beigefügt waren, wies der Beklagte nach Einholung eines Befundberichts des Dr. K vom 3. März 2004 und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme durch Widerspruchsbescheid vom "05. März 2004", zur Post gegeben am 10. Mai 2004, zurück.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht Befundberichte der behandelnden Ärzte zum Zeitraum bis November 2000 mit folgenden Ergebnissen eingeholt: - Der Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. K hat mit am 25. November 2004 eingegangenen Befundbericht angegeben, dass die Klägerin im Jahr 2000 nicht in seiner Behandlung gewesen sei, ihr seinerzeitiger Zustand sei ihm nicht bekannt. - Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K hat am 04. April 2005 ausgeführt, dass die Klägerin bei ihr zuerst am 19. Mai 2000 und zuletzt am 31. März 2005 in Behandlung gewesen sei. Die Klägerin habe bis November 2000 unter depressiven und somatoformen Störungen mittleren Ausmaßes gelitten, es hätte eine Depression mit rezidivierenden Phasen, F33.1 der ICD 10 Kapitel V (F), vorgelegen; eine schwere Störung wie bei einer Zwangskrankheit habe nicht bestanden. Die Befunde wechselten entsprechend der Belastungen, Anforderungen und des Arbeitsklimas. Eine Verschlimmerung sei durch multiple Belastungen im Jahr 2000 eingetreten. Die Frage nach zeitlicher Aufgliederung beantwortete sie mit "November 2000", die Klägerin habe von Mobbing am Arbeitsplatz berichtet, an anderer Stelle gab sie an, dass die Klägerin im Dezember 2000 von erheblichen Belastungen durch Mobbing am Arbeitsplatz berichtet habe, was zu einer massiven Exazerbation ihrer Beschwerden mit Somatisierungsstörung geführt habe. Die Behandlung sei in den Phasen durch Antidepressiva, stützende Gespräche und eine Verhaltenstherapie durch Frau Dipl. Psych. O erfolgt mit dem Ergebnis einer Stabilisierung, so dass ruhige Phasen ohne besondere Belastungen recht gut hätten bewältigt werden können. Bei phasenhaftem Verlauf habe es immer wieder Einbrüche gegeben. Eine Verbesserung und längere stabile Phasen beständen seit Antritt der neuen Stelle in T im Juli 2001. - Die psychologische Psychotherapeutin Dipl. Psych. O hat in ihrem Befundbericht vom 17. Juni 2005 die Aufnahme einer Behandlung durch sie am 01. November 1999 beschrieben und insoweit auf einen beigefügten Antrag an die Krankenversicherung der Klägerin betreffend die Kostenübernahme für die Behandlung verwiesen. Als Diagnosen für die Zeit bis November 2000 benannte sie eine schwere depressive Episode (F32.2 ICD 10) und eine selbstunsichere vermeidende Persönlichkeitsstörung (F60.6). Die Klägerin habe unter stärker behindernden Störungen durch depressive, phobische und somatoforme Störungen gelitten; eine schwere Störung durch einen Verdacht auf eine Zwangsstörung habe sich nicht bestätigt. - Der behandelnde Facharzt für Innere Medizin Dr. W hat durch Befundbericht vom 17. Januar 2006 ferner für die Zeit bis November 2000 noch eine arterielle Hypertonie WHO Grad I II mitgeteilt. Herzschäden oder Herzrhythmusstörungen hätten nicht bestanden. Eine Belastung durch EKG sei bis 125 W durchgeführt worden. - Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Ö hat mitgeteilt, die Klägerin erst seit April 2001 zu behandeln, und die Aufzeichnungen seines Praxisvorgängers übersandt.
Durch Gerichtsbescheid vom 14. Juli 2006 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Nach § 44 Abs. 2 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) komme eine rückwirkende Aufhebung eines rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit nur nach pflichtgemäßem Ermessen der Behörde in Betracht. Insoweit normiere § 6 Abs. 1 Satz 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung, dass auf Antrag des schwerbehinderten Menschen nach Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses bei dem (offenkundigen) Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft bereits zu einem früheren Zeitpunkt dieser Zeitpunkt auf dem Schwerbehindertenausweis zu vermerken sei. Ein besonderes Interesse an der rückwirkenden Eintragung sei nicht vorgetragen worden; zugunsten der Klägerin werde jedoch die Inanspruchnahme eines vorzeitigen Rentenbeginns ohne, ggf. mit geringeren Abschlägen nach § 236 a Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (SGB VI) unterstellt. Der Beklagte habe jedoch weder das Recht unrichtig angewandt, noch sei er von einem falschen Sachverhalt ausgegangen, als er den Bescheid vom 05. April 2002 erlassen habe. Denn die Schwerbehinderteneigenschaft habe im November 2000 noch nicht vorgelegen, beweisbar sei diese erst seit der Untersuchung durch Dr. Y im Januar 2002. Für die psychische Erkrankung ergäben sich anhand der von Frau G im Oktober 1998 erhobenen Befunde sowie unter Auswertung der Befundberichte der Frau Dr. K und der Dipl. Psych. O keine Anhaltspunkte für eine höheren Einzel GdB als 30. Zwar beschreibe die behandelnde Psychiaterin eine Befundverschlechterung im November 2000 durch Mobbing am Arbeitsplatz, weise jedoch auch gleichzeitig auf den wechselnden Verlauf der Erkrankung mit Stabilisierungen und Einbrüchen hin. Dem Umstand der Schwankungen sei nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Schwerbehindertenrecht und im sozialen Entschädigungsrecht (AHP) mit einem Durchschnittswert Rechnung zu tragen. Bereits im Juli 2001 habe sich der Zustand der Klägerin in seelischer Hinsicht wieder stabilisiert, weshalb die Einschätzung des Beklagten für zutreffend erachtet werde. Die chronisch-obstruktive Lungenkrankheit liege beweisbar erst ab 2002 vor, weshalb die Klägerin am Vortrag, diese habe bereits früher bestanden, auch nicht weiter festgehalten habe. Der medikamentös gut einstellbare und ohne weitere Folgen verbliebene Bluthochdruck sei keinesfalls mit einem höheren Einzel GdB als 10 zu bewerten. Anhaltspunkte für das Vorliegen wesentlicher Einschränkungen auf orthopädischem Gebiet ergäben sich aus den eingeholten Befundberichten, insbesondere den Unterlagen des Praxisvorgängers des Dr. Ö nicht.
Gegen diesen am 21. Juli 2006 zugegangenen Gerichtsbescheid richtet sich die am 09. August 2006 eingegangene Berufung der Klägerin. Die Klägerin trägt vor, die Feststellung ihrer Schwerbehinderteneigenschaft zum 16. November 2000 zur Vermeidung von Rentenabschlägen nach § 236 a SGB VI zu benötigen. Ihrem Krankheitsverlauf und den Befunden der behandelnden Ärzte könne ohne weiteres entnommen werden, dass ihre Schwerbehinderteneigenschaft nicht erst seit der Untersuchung durch Dr. Y vorgelegen habe. Eine kurzfristige Stabilisierung ihres seelischen Leidens im Juli 2001 spreche nicht gegen das Vorliegen einer schweren seelischen Erkrankung bereits mindestens seit November 2000. Aus den Unterlagen des Praxisvorgängers des Dr. Ö gehe hervor, dass sie mindestens seit April 1999 als "multimorbider Patient" bezeichnet worden sei; ferner gebe es hier zahlreiche Eintragungen zu einer schweren seelischen Symptomatik mit Somatisierungstendenz. Ihre Lungen- und Bronchialfunktion sei seit April 1991 beeinträchtigt.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juli 2006 und den Bescheid des Beklagten vom 29. Januar 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05. März 2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, seinen Bescheid vom 05. April 2002 abzuändern und einen Gesamt Grad der Behinderung von 50 bereits ab 16. November 2000 zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verweist auf die Ausführungen der erstinstanzlichen Entscheidung, denen er sich anschließe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei der GdB als Statusfeststellung grundsätzlich nur ab Antrag mit Wirkung für die Zukunft, nicht aber für die Vergangenheit festzustellen. Eine Rückwirkung müsse auf offenkundige Fälle beschränkt bleiben. Die Eigenschaft als Schwerbehinderter sei dann nicht offenkundig, wenn der GdB nur durch Einholung eines oder mehrerer fachärztlicher Gutachten unter Berücksichtigung und Würdigung sämtlicher vorhandener medizinischer Unterlagen festgestellt werden könne. Das offenkundige Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft für die Zeit vor Hinzutreten der chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung im Dezember 2001 sei vorliegend nicht ersichtlich.
Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes eine Aufstellung der Krankenkasse der Klägerin über Arbeitsunfähigkeitszeiten eingeholt, auf die Bezug genommen wird. Sodann hat es auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. v vom 08. Juli 2007 eingeholt. Dieser führte aus, dass entsprechend der ICD 10 Logik die bei der Untersuchung festgestellte aktuelle depressive Symptomatik als leichtgradig zu klassifizieren sei. Ein somatisches Syndrom liege nicht vor. Offensichtlich komme es jedoch immer wieder rezidivierend unter psychosozialen Belastungen zu einer deutlichen Verstärkung der depressiven Symptomatik. Vorliegend sei es nach den anamnestischen Angaben der Klägerin in Übereinstimmung mit den objektiv dokumentierten Befunden zu Exazerbationen 1992 mit dem Beginn der Spielsucht des Ehemannes, 1997 im Zusammenhang mit der Scheidung vom Ehemann und in den Jahren 1999 bis 2001 unter den damaligen Belastungsfaktoren während der Arbeit aufgrund von Schwierigkeiten mit einer neuen Kita-Leitung gekommen. Die Angaben der Klägerin seien durch die dokumentierten Befunde sowohl des Hausarztes, der behandelnden Nervenärztin Dr. K wie auch der behandelnden Verhaltenstherapeutin gestützt. Dem Bericht der Verhaltenstherapeutin komme aus seiner Sicht ein erhebliches Gewicht zu, da diese naturgemäß die Klägerin am häufigsten gesehen habe; diese habe eindeutig eine schwere depressive Symptomatik diagnostiziert. Insgesamt sei aus seiner nervenärztlichen Sicht der Einzel GdB von 30 in der Rückschau eher streng beurteilt. Es habe sicherlich eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vorgelegen, die einen Einzel GdB von 30 40 entsprechend den Anhaltspunkten ausmache. Entsprechend den von ihm erhobenen Befunden sei der Einzel GdB für den fraglichen Zeitraum seines Erachtens mit 40 anzusetzen, was unter Berücksichtigung der degenerativen Wirbelsäulenveränderungen mit einem Einzel GdB von 20 zu einem Gesamt GdB von 50 für den Zeitpunkt 16. November 2000 führe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Bescheide des Beklagten und der erstinstanzliche Gerichtsbescheid sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung eines Gesamt GdB von 50 bereits ab 16. November 2000.
Nach § 44 Abs. 2 SGB X ist ein rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann nach Satz 2 der Vorschrift auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Diese Vorschrift ist Grundlage einer möglichen Rücknahme für nach dem Schwerbehindertengesetz (bzw. nach dessen Außerkrafttreten dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch SGB IX ) zu treffende Feststellungen (BSG, Urteil vom 29. Mai 1991, Az.: 9 a/9 RVs 11/89, SozR 3 1300 § 44 Nr. 3). Die Höhe des Gesamt-GdB ist nach Maßgabe der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil II SGB IX)" in ihrer jeweils geltenden Fassung (für November 2000 also der AHP 1996; derzeit Ausgabe 2008 – AHP 2008), die als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen sind, festzustellen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Nr. 19 AHP 1996 (S. 33 ff., ebenso AHP 2008, Seite 24 ff.) die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Nr. 19, Abs. 1, 3 und 4 AHP 1996, S. 35; ebenso AHP 2008, Seite 24 ff.).
Wie bereits das Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat, war die vom Beklagten mit Bescheid vom 05. April 2002 getroffene Feststellung über die Zuerkennung eines GdB von 50 ohne Feststellung einer Rückwirkung jedoch nicht rechtswidrig. Problematisch ist dabei zwar, dass das vom Beklagten für die Erhöhung des Gesamt-GdB genannte Datum (Dezember 2001 bzw. Januar 2002) anhand des Ergebnisses der Ermittlungen nicht nachvollziehbar ist. Denn Dr. Y, der ohnehin den Gesamt-GdB nur mit 40 bewertete, kam am 25. Januar 2002 zu der Annahme der weiteren Behinderung chronisch-obstruktive Lungenerkrankung lediglich aufgrund einer entsprechenden Benennung im Attest des Arztes Ö vom 10. Dezember 2001, das jedoch hierzu keinerlei weitere Angaben enthielt, und aufgrund des von ihm erhobenen Befundes "vereinzelte bronchitische Geräusche basal", während nach den AHP 1996 für einen diesbezüglichen Einzel-GdB von 20 eigentlich eine schwere Form von Bronchiektasen (fast kontinuierlich ausgiebiger Husten und Auswurf, häufige akute Schübe) oder eine das gewöhnliche Maß übersteigende Atemnot bei mittelschwerer Belastung, statische und dynamische Messwerte der Lungenfunktionsprüfung bis zu 1/3 niedriger als die Sollwerte (AHP 1996, Nr. 26.8, S. 82 f.) erforderlich waren; derartige Befunde lagen nicht vor. Dr. K gab im am 25. November 2004 eingegangenen Befundbericht an, dass die Klägerin im Jahr 2000 bei ihm nicht in Behandlung gewesen sei und er keine Angaben zu ihrem seinerzeitigen Zustand machen könne. Gegenüber dem Beklagten hatte Dr. Kmit Befundbericht vom 3. Mai 2004 angegeben, dass die Klägerin im Behandlungszeitraum über trockenen Husten geklagt habe; der Diagnosebezeichnung J44.8 G (chronische Bronchitis) ist dabei die Erfüllung der Voraussetzungen für einen Einzel-GdB von 20 ebenfalls nicht zu entnehmen. Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen Bronchitis gab es ausweislich des Vorerkrankungsverzeichnisses der Krankenkasse der Klägerin lediglich Juni/Juli 1997 und sodann wieder ab August 2001.
Dennoch führt dies nicht dazu, dass ein Gesamt-GdB von 50 bereits für November 2000 festgestellt werden könnte. Das Sozialgericht Berlin hat dies im Gerichtsbescheid vom 14. Juli 2006 unter Auswertung der zeitnah erhobenen Befunde der Frau G im Oktober 1998 und der behandelnden Ärzte Dr. K und der Dipl. Psych. O ausführlich dargelegt. Auf diese Ausführungen wird entsprechend § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen; das Gericht schließt sich diesen Bewertungen an. Entgegen der Auffassung der Beklagten war hier allerdings nicht nur eine Überprüfung im Hinblick auf eine "offenkundige" Abweichung der GdB-Beurteilung vorzunehmen, da es – anders als im der BSG-Entscheidung vom 29. Mai 1991 (a.a.O.) zugrundeliegenden Fall – wegen der erstmaligen Antragstellung im Oktober 1997 nicht um eine vor die Antragstellung zurückwirkende GdB-Feststellung ging. Das Sozialgericht hat sich dementsprechend auch nicht auf die Prüfung der bloßen Offenkundigkeit einer – möglicherweise - fehlerhaften Bewertung beschränkt, als es ausgeführt hat, dass ein höherer GdB als 40 für November 2000 nicht festgestellt werden könne.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachten des Dr. v. Die im streitigen Zeitpunkt anzuwendenden AHP 1996 sahen einen Einzel GdB von 0 20 für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen, einen Einzel GdB von 30 40 für stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) und einen Einzel GdB von 50 70 erst für schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vor (Nr. 26.3 AHP 1996, Seite 60 f., übereinstimmend mit AHP 2008, Seite 48). Der Gutachter stellte zunächst einmal zum Untersuchungszeitpunkt lediglich eine leichtgradige depressive Symptomatik fest und verneinte das Vorliegen eines somatischen Syndroms. Hinsichtlich der Bewertung für den streitigen Zeitpunkt 16. November 2000 drückt sich selbst der Gutachter eher vage aus, wenn er ausführt, dass ein Einzel GdB von 30 aus nervenärztlicher Sicht "eher streng beurteilt" sei. Sicherlich habe eine stärker behindernde Störung vorgelegen, die einen Einzel GdB "von 30 40" ausmache. Seines Erachtens sei der Einzel-GdB für den fraglichen Zeitraum mit 40 anzusetzen. Diese Formulierungen lassen erkennen, dass – was angesichts des Zeitablaufes auch einleuchtet – eine genaue und hinreichend sichere Festlegung zu diesem Einzel-GdB im Nachhinein nicht mehr getroffen werden kann.
Maßgebend konnten daher nach allem nur die zeitnah erhobenen Befunde sein. Zur Bewertung des psychischen Leidens gibt es jedoch zwei sich widersprechende Befunde. Die Psychotherapeutin Dipl. Psychologin O diagnostizierte mit Befundbericht vom 17. Juni 2005 eine schwere depressive Episode bei selbstunsicher vermeidender Persönlichkeitsstörung, während die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K in ihrem Befundbericht vom 04. April 2005 lediglich eine Depression mit rezidivierenden Phasen (F33.1 nach ICD 10) bei wechselnden Befunden und im Einzelnen als stärker behindernd depressive und somatoforme und damit lediglich zwei von den in den AHP genannten fünf Störungen mit Krankheitswert beschreibt, was insgesamt eher für den auch vom Beklagten gefundenen Einzel GdB von 30 spricht. Hinsichtlich der für November/Dezember 2000 aufgrund von Arbeitsplatzschwierigkeiten beschriebenen Verschlimmerung hat das Sozialgericht zu Recht ausgeführt, dass nach den AHP Schwankungen im Gesundheitszustand mit einem Durchschnittswert Rechnung zu tragen ist. Dr. v hat zwar derartige Schwankungen ebenfalls festgestellt und diese anhand der anamnestisch erhobenen Angaben der Klägerin im Einzelnen dargestellt. Einen Durchschnittswert, der diese Schwankungen berücksichtigen würde, hat er jedoch nicht gebildet. Dem Karteiauszug des Praxisvorgängers des Hausarztes Özdemir konnten entgegen der Einschätzung der Klägerin auch keine ausreichenden Befunde zur Schwere der Erkrankung entnommen werden. Hier sind trotz mehrerer Vorstellungen der Klägerin bei dem Arzt im Jahre 2000 lediglich für den 28. April und den 12. Dezember Symptome auf psychiatrischem Gebiet festgehalten, die jedoch für eine Einschätzung des GdB nicht ausreichen. Auch von ihrer vom 23. Oktober 2000 bis 13. Juli 2000 bestehenden Arbeitsunfähigkeit, die unter anderem wegen einer rezidivierenden depressiven Störung bescheinigt worden war, kann nicht auf die Höhe des GdB geschlossen werden; zudem wurde die Arbeitsunfähigkeit jeweils durch Dr. Kraemer attestiert, deren Angaben im Befundbericht vom 4. April 2005, wie ausgeführt, nicht für den höheren GdB von 40 sprachen.
Letztlich kann nicht mehr geklärt werden, ob der Gesundheitszustand der Klägerin im relevanten Zeitpunkt 16. November 2000 bereits einen GdB von 50 gerechtfertigt hat. Diese Unsicherheit geht nach allgemeinen Regeln der so genannten objektiven Beweislast, nach der jeder im Rahmen des anzuwendenden materiellen Rechts die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von dem geltend gemachten Anspruch begründen, zu Lasten der Klägerin.
Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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