L 1 KR 133/07

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 15 KR 216/07
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 133/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die wirksame Zustellung der Entscheidung (Urteil, Gerichtsbescheid, Beschluss), der Lauf der Frist für die Einlegung des Rechtsmittels und die Möglichkeit der Wiedereinsetzung richten sich auch bei einem blinden Rechtsmittelführer allein nach dem SGG. Ein Verstoß gegen die Zugänglichkeitsmachungsverordnung als solcher - hier der unterbliebene Hinweis nach § 4 Abs. 2 ZMV - führt weder dazu, dass die Jahresfrist (§ 66 Abs. 2 SGG) maßgeblich ist, noch dazu, dass Wiedereinsetzung § 67 SGG) zu gewähren ist.
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 31. Juli 2007 wird verworfen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung einer Haushaltshilfe.

Der 1957 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse versichert. Er leidet unter einer hochgradigen Myopie (-28,0 dpt), ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 und den Merkzeichen "G", "Bl", "H" sowie "RF" und bezieht neben einer Erwerbsminderungsrente Blindengeld nach dem Landesblindengeldgesetz.

Am 14.02.2007 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Haushaltshilfe für mindestens 8 Stunden in der Woche auf unbegrenzte Zeit. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 15.02.2007 ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2007 zurück, weil weder die gesetzlichen noch die satzungsmäßigen Voraussetzungen für die begehrte Leistung erfüllt seien.

Der Kläger hat mit seiner am 30.04.2007 beim Sozialgericht Dresden (SG) erhobenen Klage geltend gemacht, aufgrund seiner Sehbehinderung bei der Führung seines Haushalts und der Bearbeitung behördlicher Korrespondenz auf ständige Hilfe angewiesen zu sein, die er von seiner niedrigen Rente nicht auf Dauer bezahlen könne.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 31.07.2007 abgewiesen. Weder nach § 38 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) noch nach der Satzung der Beklagten könne der Kläger eine Haushaltshilfe beanspruchen. Die Voraussetzungen des § 38 SGB V erfülle der Kläger schon deshalb nicht, weil er nicht mit einem Kind in einem Haushalt zusammenlebe. Die Satzung der Beklagten räume einen Anspruch auf Haushaltshilfe nur ein, wenn 1) nach ärztlicher Bescheinigung die Weiterführung des Haushalts wegen akuter schwerer Krankheit oder wegen akuter Verschlimmerung einer Krankheit nicht möglich sei oder 2) nach ärztlicher Bescheinigung die Weiterführung des Haushalts wegen akuter schwerer Krankheit oder wegen akuter Verschlimmerung einer Krankheit oder wegen einer aus medizinischen Gründen erforderlichen Abwesenheit als Begleitperson eines versicherten Angehörigen nicht möglich sei und im Haushalt ein Kind lebe, das bei Beginn der Haushaltshilfe das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet habe oder das behindert und auf Hilfe angewiesen sei. Für beide Alternativen sei Voraussetzung, dass eine andere im Haushalt lebende Person den Haushalt nicht weiterführen könne. Darüber hinaus ermächtige die Satzung die Beklagte, in begründeten Ausnahmefällen Haushaltshilfe in angemessenem Umfang zur Verfügung stellen, soweit dies nach ärztlicher Feststellung erforderlich sei. Diese Voraussetzungen erfülle der Kläger nicht. Es liege weder eine ärztliche Bescheinigung vor noch bestünden Anhaltspunkte dafür, dass die Weiterführung des Haushalts wegen akuter schwerer Krankheit oder wegen akuter Verschlimmerung einer Krankheit nicht möglich sein solle. Für die finanziellen Nöte des Klägers habe die gesetzliche Krankenversicherung nicht aufzukommen.

Gegen diesen dem Kläger am 03.08.2007 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich dieser mit seiner am 17.09.2007 eingelegten Berufung. Warum die Berufung erst an diesem Tag eingelegt worden sei, könne er sich nicht erklären. Da er praktisch nichts sehen könne, beschäftige er zur Bearbeitung des Schriftverkehrs Hilfspersonen. Schreiben, die er erhalte, kämen auf einen Stapel und würden nach und nach abgearbeitet. Dabei kämen die aktuellsten Schreiben im Stapel immer ganz nach unten. Er selbst habe seine Hilfspersonen angewiesen, den Stapel von oben nach unten zu bearbeiten. Ausweislich seiner Unterlagen seien am 11.08.2007, 27.08.2007, 02.09.2007 und 17.09.2007 Hilfspersonen bei ihm anwesend gewesen. In der Sache bringt der Kläger vor, seine Dioptrienstärke und der daraus folgende Grad der Behinderung beweise, dass er auf fremde Hilfe angewiesen sei. Außerdem sei er durch die Folgen mehrfacher Operationen behindert. Verwandte und Bekannte wohnten mindestens 150 km von seinem Wohnort entfernt und könnten ihm daher nicht zur Seite stehen.

Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 31. Juli 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 15. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 2007 zu verurteilen, die Kosten für eine ständige Haushaltshilfe im Umfang von 8 Stunden in der Woche zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise zurückzuweisen.

Sie hält den Gerichtsbescheid in der Sache für zutreffend und die Berufung für verfristet.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge vorgelegen. Hierauf und auf die in der Gerichtsakte enthaltenen Schriftsätze der Beteiligten sowie den übrigen Akteninhalt wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist unzulässig.

Gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Dies gilt nach § 105 Abs. 2 Satz 1 SGG auch, wenn das SG durch Gerichtsbescheid statt durch Urteil entschieden hat. An die Stelle der Monatsfrist tritt nach § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG eine Jahresfrist, wenn im Gerichtsbescheid die Rechtsmittelbelehrung unterblieben oder unrichtig ist. Der angefochtene Gerichtsbescheid vom 31.07.2007 wurde dem Kläger am 03.08.2007 zugestellt. Dies ergibt sich aus der in der SG-Akte enthaltenen Zustellungsurkunde. Danach wurde dem Kläger der Gerichtsbescheid am 03.08.2007 persönlich ausgehändigt. Dies war dem Kläger auch bewusst, der in der Berufungsschrift die angefochtene Entscheidung bezeichnenderweise als "Gerichtsbescheid von Freitag, den 03.08.07" bezeichnet hat.

Die Rechtsmittelbelehrung, die dem Gerichtsbescheid beigefügt war, weist keine Fehler auf. Sie weist den Kläger zutreffend auf den richtigen Rechtsbehelf (Berufung), die einzuhaltende Frist (ein Monat nach Zustellung) und das Gericht (Berufungsgericht, fristwahrend auch Ausgangsgericht) hin. Aus diesem Grunde war die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids einzulegen.

Die Berufungsfrist begann demnach am 04.08.2007 (§ 64 Abs. 1 SGG) und endete mit Ablauf des 03.09.2007 (§ 64 Abs. 2 SGG), eines Montags (vgl. § 64 Abs. 3 SGG). Die am 17.09.2007 erhobene Berufung war daher verfristet.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nicht in Betracht. Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 Abs. 1 SGG). Einen derartigen Antrag hat der Kläger nicht ausdrücklich gestellt. Wird die versäumte Handlung jedoch innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt, kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag erfolgen (§ 67 Abs. 2 Satz 4 SGG).

Eine Wiedereinsetzung ist im vorliegenden Fall ausgeschlossen, weil der Kläger nicht ohne Verschulden verhindert war, die Berufungsfrist einzuhalten. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Versäumnis der Berufungsfrist auch bei Anwendung derjenigen Sorgfalt, die einem gewissenhaften Prozessführenden zumutbar ist, nicht vermeidbar war. Hiervon ist nicht schon allein deshalb auszugehen, weil der Kläger hochgradig sehbehindert ist. Blindheit oder eine hochgradige Sehbehinderung sind für sich allein kein Wiedereinsetzungsgrund. Zwar ist davon auszugehen, dass der Kläger angesichts seiner hochgradigen Myopie auf gerichtliche Dokumente, die ihn – wie hier – in normaler Schrift und damit in einer für ihn nicht wahrnehmbaren Form erreichen, nicht selbst reagieren kann. Dennoch ist eine Wiedereinsetzung nicht möglich. Dem Kläger – der trotz seiner Sehbehinderung auch in anderen Verfahren erfolgreich Berufung einzulegen vermochte – war bewusst, dass ihm mit dem Gerichtsbescheid ein amtliches Dokument ausgehändigt worden war, dessen Zustellung den Ablauf von Rechtsmittelfristen auslöste. Zur Bearbeitung seines Schriftverkehrs bediente sich der Kläger der Mitarbeit von Hilfspersonen. Deren Tätigkeit organisierte er so, dass sämtliche Schreiben, die ihn erreichten, auf einen Stapel gelangen, wobei die neuesten Schreiben im Stapel immer ganz nach unten kamen. Dieser Stapel war von seinen Hilfspersonen von oben nach unten abzuarbeiten. Obwohl den Kläger – wie er wusste – am 03.08.2007 mit dem Gerichtsbescheid ein amtliches, Fristen auslösendes Dokument erreichte und bei ihm am 11.08.2007, 27.08.2007 und 02.09.2007 Hilfspersonen anwesend waren, wurde der Gerichtsbescheid erst am 17.09.2007 bearbeitet. Die dadurch verursachte Versäumnis der Berufungsfrist wäre vermeidbar gewesen, wenn der Kläger seine Hilfspersonen angewiesen hätte, den Stapel mit dem Schriftverkehr nicht nur strikt nach der Reihenfolge abzuarbeiten, sondern dabei auch auf die Dringlichkeit zu achten. Hat der Kläger demnach nicht alles Zumutbare getan, um die Versäumung der Berufungsfrist zu verhindern, scheidet eine Wiedereinsetzung aus.

Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht § 191a Abs. 1 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Danach kann eine blinde oder sehbehinderte Person nach Maßgabe der Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (Zugänglichkeitsmachungsverordnung – ZMV) verlangen, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Nach § 2 Abs. 1 ZMV umfasst der Anspruch auf Zugänglichmachung nach § 191a GVG alle Dokumente, die in einem gerichtlichen Verfahren einer blinden oder sehbehinderten Person zuzustellen sind. Hierzu gehören auch Gerichtsbescheide. Das Zugänglichkeitsmachungsverfahren hat, wie § 2 Abs. 2 ZMV klarstellt, keine Auswirkungen auf die Vorschriften über die Zustellung. Demnach richten sich die verfahrensrechtlichen Folgen der Zustellung allein nach den Bestimmungen der Prozessordnungen (BR-Drucks. 915/06, S. 8). Die blinde oder sehbehinderte Person soll zwar durch die Zugänglichmachung in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Rechte im Verfahren wahrzunehmen (§ 4 Abs. 1 ZMV). Die Zugänglichmachung erfolgt jedoch nicht von Amts wegen, sondern nur auf Verlangen, worauf die verpflichtete Stelle hinzuweisen hat (§ 4 Abs. 2 ZMV). Da die Zustellungsvorschriften der Prozessordnungen von der ZMV unberührt bleiben, können die Folgen von Fristversäumnissen nur nach Maßgabe der Bestimmungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behoben werden (vgl. BR-Drucks. 915/06, S. 11 f.). Diese lassen aber – wie bereits ausgeführt wurde – im vorliegenden Fall eine Wiedereinsetzung nicht zu. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das SG auf die Möglichkeit der Zugänglichmachung entgegen § 4 Abs. 2 Satz 2 ZMV nicht hingewiesen hatte. Denn der Kläger hat mit seinen Anweisungen an die Hilfspersonen, derer er sich zur Bearbeitung seines Schriftverkehrs bediente, nicht alles Zumutbare getan, um das Fristversäumnis zu verhindern.

Der Senat weist darauf hin, dass die Berufung auch in der Sache keine Aussicht hat. Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, sind weder die gesetzlichen noch die satzungsmäßigen Voraussetzungen für die Gewährung einer Haushaltshilfe erfüllt, wobei sich durch die Fusion der AOK Sachsen mit der AOK Thüringen an den satzungsmäßigen Voraussetzungen nichts geändert hat. Anders als Gesetz und Satzung fordern, liegt beim Kläger ein akutes Krankheitsgeschehen nicht vor, das ihn an der Weiterführung seines Haushalts hindert. Die von ihm begehrte Leistung kommt allenfalls im Rahmen der Sozialhilfe gemäß § 27 Abs. 3, § 70 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch in Betracht. Hierüber ist hier jedoch nicht zu befinden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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