S 8 SO 57/08 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 8 SO 57/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, der Antragstellerin 138,00 EUR vorläufig zu zahlen, fällig sofort und auszuzahlen an die Mutter der Antragstellerin Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

Der sinngemäß am 21.05.2008 gestellte Antrag der Antragstellerin,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr zur Wahrnahme von Umgangswochenenden mit ihrer leiblichen Mutter, wohnhaft in A, die Fahrkosten in Höhe von 14-tägig 69,00 EUR zu zahlen,

hat im tenorierten Umfange Erfolg.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist nur dann der Fall, wenn dem Antragsteller gegen den Antragsgegner ein Anspruch (sogenannter Anordnungsanspruch) zusteht, dessen vorläufige Durchsetzung dringlich ist (sogenannter Anordnungsgrund). Die vorläufige Befriedigung des Anspruchs anzuordnen, kommt dabei aber nur in Betracht, wenn dem Antragsteller sonst unzumutbare Nachteile entstünden (Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache). Dies ist im Rahmen einer summarischen Prüfung zu ermitteln (LSG NRW, Beschluss vom 21.04.2005, Aktenzeichen L 9 B 6/05 SO ER). Anordnungsanspruch und -grund sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO). Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die eingeschränkte gerichtliche Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (LSG NRW, Beschluss vom 01.08.2005, Aktenzeichen L 12 B 14/05 AS ER). Erforderlich ist der Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit; trotz der Möglichkeit des Gegenteils dürfen Zweifel nicht überwiegen (Krasney/Udsching, Handbuch des Sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Auflage, III. Kapitel, Randnummer 157).

Diese Voraussetzungen liegen im tenorierten Umfange vor.

Bezüglich Zeiträumen vor Eilantragstellung bei Gericht am 21.05.2008 fehlt es an einem Anordnungsgrund. Ein Anordnungsgrund ist insoweit schon aus grundsätzlichen Erwägungen abzulehnen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung dient einzig der Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage, insbesondere, wenn irreparable Nachteile drohen. Gegenwärtig ist grundsätzlich nur die Zeit ab Antragstellung bei Gericht. Insofern soll es nicht zu Lasten von Antragstellern gehen, wenn nicht unverzüglich eine Entscheidung durch das Gericht herbeigeführt wird. Dies ist Ausfluss der Garantie effektiven Rechtsschutzes, Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz. Die Zeit vor der Antragstellung bei Gericht aber ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht mehr gegenwärtig, die damalige Notlage - unter welchen Einschränkungen auch immer - überwunden.

Für die Zeit ab Eilantragstellung besteht im tenorierten Umfange hingegen ein Anordnungsgrund. Bei summarischer Prüfung droht die Ausübung eines 14-tägig geplanten Umgangsrechts ohne vorläufig zusprechende Entscheidung des Gerichts zu scheitern. Es ist nachvollziehbar, dass die Mutter der Antragstellerin den zugesprochenen Betrag nicht wird monatlich aus ihrer Regelleistung zuschießen können. Ebenso ist bei summarischer Prüfung glaubhaft, dass private Darlehensgeber die Wahrnehmung des Umgangsrechts weder dauerhaft noch vollumfänglich vorfinanzieren werden. Hierfür spricht, dass die Mutter der Antragstellerin ihr Umgangsrecht seit ihrem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung im November 2007 nur viermal wahrgenommen hat. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass es ihr finanziell häufiger möglich gewesen wäre, sie aber keine häufigere Wahrnehmung wünschte, sind nicht ersichtlich.

Auch ein Anordnungsanspruch ist nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen Prüfung gegeben. Als Anspruchsgrundlage zieht das Gericht § 73 SGB XII in verfassungskonformer Auslegung heran. Diese Vorschrift sieht vor, dass Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden können, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Eine sonstige Lebenslage in Abgrenzung zu den übrigen durch das SGB XII geregelten Lebenslagen - Auffangvorschrift - sieht das Gericht bei summarischer Prüfung in dem Bedürfnis nach Wahrnehmung des Umgangsrechts gegeben (Bundessozialgericht, Urteil vom 07.11.2006, Az.: B 7 B AS 14/06 R; LSG NRW, Beschluss vom 10.05.2007, Az.: L 20 B 24/07 SO ER). Dies erfolgt allein in verfassungskonformer Auslegung der Norm. Bei summarischer Prüfung spricht zwar alles dafür, dass § 73 SGB XII nach seinem noch aus Zeiten der Geltung des BSHG vorherrschenden Verständnis (§ 27 Abs. 2 Satz 1 BSHG als Hilfe in besonderen Lebenslagen) bzw. der damaligen Zuordnung der Kosten des Umgangsrechts (abweichender Regelsatz nach § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG bzw. auch heute noch für SGB XII-Leistungsbezieher § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) ursprünglich nicht für die Finanzierung der Kosten des Umgangsrechts gedacht ist. Doch verkennt die Beklagte, dass Artikel 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Grundgesetz eine verfassungskonforme Auslegung entweder der Vorschriften des SGB XII in Bezug auch auf Leistungsbezieher des SGB II oder aber direkt des SGB II erfordert, selbst wenn bei restriktiver Auslegung keine Norm einschlägig ist. Letzteres - verfassungskonforme Auslegung innerhalb des SGB II - hat das Bundessozialgericht (a.a.O.) abgelehnt. Eine verfassungskonforme Auslegung wegen Unzulänglichkeiten des SGB II kann auch zu Lasten des Sozialhilfeträgers erfolgen. Denn eine isolierte Betrachtung der fehlenden Regelung im SGB II als verfassungswidrig ist nicht möglich. Das insoweit einzig verwerfungsberechtigte Bundesverfassungsgericht hätte das Gesamtleistungssystem aus SGB II und SGB XII diesbezüglich zu prüfen. Eine Vorlage an selbiges könnte nur erfolgen, wenn im Gesamtleistungssystem aus SGB II und SGB XII selbst mittels verfassungskonformer Auslegung keine Möglichkeit der Übernahme der Kosten des Umgangsrechts von SGB II-Beziehern mit ihren Kindern bestünde. Dies ist bei summarischer Prüfung nicht der Fall. Der Wortlaut des § 73 SGB XII lässt noch eine verfassungskonforme Auslegung zu, auch wenn Systematik (nach wie vor vorhandener, nur hier nach § 21 SGB XII ausgeschlossener, § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) und Entstehungsgeschichte (frühere Trennung in Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen) dagegen sprechen.

Insofern kann dahinstehen, ob bei Konstruktion einer anderen Anspruchsgrundlage (im SGB II) die Antragsgegnerin nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I zur vorläufigen Leistungserbringung verpflichtet - insbesondere zuerst angegangener Leistungsträger im Sinne der Norm - wäre.

Bei summarischer Prüfung besteht ein Anordnungsanspruch in Höhe der Kosten für eine Besuchsfahrt der Antragstellerin in A alle 2 Wochen (Hin- und Rückfahrt) zu 69,00 EUR (mitgeteilter Bahnfahrpreis). Ohne gegenteilige Äußerungen von Medizinern, Jugendämtern oder dem Kindesvater sieht das Gericht keinen Anlasse anzunehmen, die Mutter der Antragstellerin habe nicht im Blick, ob ihre Tochter körperlich der relativ langen Zugfahrt gewachsen ist. Ebenso hat das Gericht keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Mutter der Antragstellerin, entgegen ihrer Darstellung, in Gelsenkirchen geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, um Wochenenden mit ihren Kindern zu verbringen. Es kann dahinstehen, ob dauerhaft und bei jedem Lebensalter eine 14-tägige Finanzierung des Umgangsrechts aus Sozialhilfemitteln über eine Entfernung von mehr als 400 km beansprucht werden kann. Ebenso kann dahinstehen, ob bei bloßem Umgangsrecht in bestimmten Konstellationen nicht ggf. nur die Anreise des Elternteiles und evtl. Anmietung eines Pensionszimmers für die Wahrnehmung des Umgangsrechts tagsüber genügen kann. Denn vorliegend sind die Antragstellerin und ihr mitreisender Bruder mit 8 bzw. 4 Jahren besonders jung und nach allgemeiner Lebenserfahrung besonders auf ihre Mutter angewiesen. Die Trennung liegt vergleichsweise kurz zurück, die Mutter ist gemeinsam sorge- und nicht bloß umgangsberechtigt und es besteht noch Streit um das Aufenthaltsbestimmungsrecht, d.h. den Verbleib der Antragstellerin und ihres Bruders.

Bezüglich des Umfangs des Erlasses einer einstweiligen Anordnung ist dem Gericht Ermessen eingeräumt.

Das Gericht regelt nur den Zeitraum bis zum Ende des Monats der Entscheidung des Gerichts, d.h. bis 30.06.2008. Allerdings geht das Gericht davon aus, dass die Antragsgegnerin bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens und bei unveränderten Verhältnissen monatlich 138,00 EUR vorläufig leisten wird. Unveränderte Verhältnisse dürften vorliegen, solange weder neue Erkenntnisse zur physischen Belastung der Antragstellerin durch Bahnfahrten vorliegen, noch das Verfahren betreffend das Aufenthaltsbestimmungsrecht abgeschlossen ist. Es dürfte jedoch zumutbar sein, wenn die Antragsgegnerin vor Zahlungen für den Juli 2008 Nachweise fordert, dass im Juni 2008 tatsächlich die finanzierten Bahnfahrten erfolgten. Eine Beschränkung auf den 30.06.08 war insbesondere auch deshalb geboten, da noch keine Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 10.04.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2008 vorliegt. Spätestens mit Ablauf des 19.06.2008 dürfte Bestandskraft der Ablehnung drohen.

Hinsichtlich der Höhe der erlassenen einstweiligen Anordnung geht das Gericht davon aus, dass jedenfalls für den Juni 2008 eine Beschränkung auf zwei Besuchswochenenden hinnehmbar ist. Erfolgte der avisierte Besuch am "verlängerten" Wochenende vom 22.05.08 bis 25.05.08, hat die Antragstellerin zum einen ihre Mutter gerade vier Tage "am Stück" gesehen und zum anderen sind dann turnusmäßig im Juni 2008 nur die Wochenenden vom 06.06.08 bis 08.06.08 sowie vom 20.06.08 bis 22.06.08 Besuchswochenenden. Zudem erscheint, um eine faktische Vorwegnahme der Hauptsache auf das Unerlässliche zu reduzieren, eine vorläufige Beschränkung auf bloß zwei Besuchswochenenden pro Monat derzeit hinnehmbar zu sein (14-tägig ergäbe durchschnittlich rund 2,2 Besuchswochenenden pro Monat). Es handelt sich um keine echte Vorwegnahme der Hauptsache, da Geldflüsse theoretisch stets rückabgewickelt werden können. Faktisch sind aufgrund der finanziellen Verhältnisse der Antragstellerin und ihrer Mutter vorläufig ausgeschüttete Beträge jedoch schwerlich zurückzuerlangen. Ein gesonderter vorläufiger Zuspruch für die Wahrnehmung des Umgangsrechts vom 22.05.08 bis 25.05.08 konnte unterbleiben. Falls dieser Besuch durchgeführt wurde, konnten die entsprechenden Mittel rein tatsächlich noch aus anderen Quellen als der Regelleistung der Mutter der Antragstellerin für Juni 2008 vorfinanziert werden. Die weitere Wahrnehmung des Umgangsrechts ist nicht von einer vorläufigen diesbezüglichen Kostenübernahme abhängig. Eine Verzögerung der Entscheidung nur um die den Mai 2008 betreffenden Umstände aufzuklären, liegt zudem nicht im Interesse der Antragstellerin.

Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung der §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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