L 29 B 420/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
29
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 18 AS 32702/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 29 B 420/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Februar 2008 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor lautet: Die aufschiebende Wirkung der vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen zum Aktenzeichen S 66 AS 10386/08 registrierten Klage wird angeordnet. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt R B, S, beigeordnet.

Gründe:

Die statthafte, fristgerecht eingelegte und damit insgesamt zulässige Beschwerde, §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG), der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Nichtabhilfebeschluss vom 19. Februar 2008), ist unbegründet. Der Tenor war hier nur deswegen zu ändern, weil in der Zwischenzeit die zum Aktenzeichen S 66 AS 10386/08 registrierte Klage vor dem SG Berlin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 10. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 2008 erhoben worden ist, zu der der Änderungsbescheid vom 07. April 2008 gemäß § 96 SGG in der ab 01. April 2008 geltenden Fassung des 8. SGG-Änderungsgesetzes (BGBl. I 2008 S. 444 ) Gegenstand dieses Verfahrens geworden sein dürfte.

In einstweiligen Anordnungsverfahren gemäß § 86 b Abs. 1 SGG ist entgegen der Beschwerdebegründung des Antragsgegners nicht von rechtlicher Relevanz, ob – anders als in Verfahren nach § 86 b Abs. 2 SGG – ein Anordnungsgrund gegeben ist. Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs. Satz 1 Nr. 2 SGG). Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen (§ 86b Abs. 1 Satz 2 SGG).

Nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i. V. m. § 39 Nr. 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Im Rahmen der Prüfung des § 86 b Abs. 1 Satz 2 SGG ordnet das Gericht die aufschiebende Wirkung an, wenn der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt ist; demgegenüber wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet, wenn die Klage voraussichtlich aussichtslos ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., 2005, § 86b Rn. 12 c.). Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, ist eine allgemeine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei die Aussichten des Hauptsacheverfahrens mitberücksichtigt werden können. Es gilt der Grundsatz: Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer werden die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers sein (Keller, a. a. O., m. w. N.). Bei der Interessenabwägung ist in den Fällen des § 86 a Abs. 2 Nrn. 1 bis 4 SGG zudem zu berücksichtigen, dass aufgrund der vom Gesetzgeber in diesen Fällen grundsätzlich angeordneten sofortigen Vollziehung ein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des Vollziehungsinteresses abzuleiten ist (Keller, a. a. O., m. w. N.). Die aufschiebende Wirkung kann daher in diesen Fällen nur angeordnet werden, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist.

Der Senat kommt im Rahmen der summarischen Prüfung ebenso wie das Sozialgericht (SG) Berlin in dem angefochtenen Beschluss zu dem Ergebnis, dass die aufschiebende Wirkung der nunmehr erhobenen Klage vor dem SG Berlin anzuordnen gewesen ist.

Hinsichtlich der Beurteilung der Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens bestehen bereits Zweifel dahingehend, dass im Hinblick auf die vom dem Antragsgegner für Oktober 2007 verfügte teilweise Aufhebung der Bewilligungsentscheidung die Antragstellerin grob fahrlässig im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) gehandelt hat. Insbesondere ist derzeit unter Berücksichtigung der Verwaltungsvorgänge und auch der Verwaltungsentscheidungen des Antragsgegners von diesem nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass grobe Fahrlässigkeit (im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X) auf Seiten der Antragstellerin, so der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2008, u. a. deshalb bestehen soll, weil sie vor Abschluss des Mietvertrages (Mietbeginn 01. Oktober 2007) nicht die Zustimmung nach § 22 Abs. 3 Satz 1 SGB II für die Wohnung in der D Straße, B, eingeholt habe. Der Antragsgegner hat sie zwar u. a. zu der von ihr zuletzt bewohnten Wohnung, AS, , durch Schreiben vom 12. September 2006 auf die Unangemessenheit der Kosten der Unterkunft (KdU) und auf die Zustimmungsregelung zu § 22 SGB II hingewiesen. Dieses Hinweisschreiben enthält aber auch die Erklärung, KdU von monatlich von 619,00 EUR für vier Personen seien angemessen. Wenn die Antragstellerin sodann eine Wohnung mit einem monatlichen Mietzins von 496,00 EUR mietet, durfte sie davon ausgehen, sie bewege sich mit diesen Kosten innerhalb der Grenze, wie sie der Antragsgegner für angemessen hielt. Ob tatsächlich nur die Antragstellerin als einzelne Person für die Frage der Angemessenheit der KdU zu berücksichtigen ist, ist ausweislich der Verwaltungsakte des Antragsgegners keineswegs als gesicherte Tatsache anzusehen. Aus dem Vermerk vom 18. September 2007 ergibt sich, dass alle drei Monate neu entschieden werde, wo die Kinder der Antragstellerin untergebracht würden. Nach Angaben des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin im Schriftsatz vom 22. Januar 2008 seien beide Kinder regelmäßig an den Wochenenden sowie an freien Tagen im Elternhaus. Des Weiteren wäre zu berücksichtigen, dass – nach weiteren Angaben des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin – der Sohn David an schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Autismus, psychische Störungen, Hirnschädigung mit Sprachstörungen) leidet. Insoweit ist nicht ohne weitere Informationen zu erkennen, dass hier für die Antragstellerin ausschließlich nur ein Bedarf einer 1-Zimmer-Wohnung bestehe, wofür KdU von monatlich 360,00 EUR angemessen seien. Wenn aber schon zweifelhaft ist, ob die KdU tatsächlich unangemessen sind, ist umso mehr zweifelhaft, ob der Antragstellerin der Vorwurf von grober Fahrlässigkeit gemacht werden kann, die nur gegeben ist, wenn diese unter Berücksichtigung ihrer individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit ihre Sorgfaltspflichten in außergewöhnlich hohen Maß verletzt hat. Ist damit nicht abschließend zu beurteilen, ob die Verwaltungsentscheidungen offensichtlich rechtswidrig sind, ergibt eine Interessenabwägung, dass hier angesichts dessen, dass der Klage gegenwärtig im Rahmen einer summarischen Prüfung größere Erfolgs- als Misserfolgsaussichten beizumessen sind, die aufschiebende Wirkung anzuordnen war. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass für den Monat Oktober 2007 aufgrund des Änderungsbescheides vom 07. April 2008 "nur noch" 77,00 EUR im Streit sind. Bei diesem wirtschaftlichen Wert des streitigen Gegenstandswertes ist es auch im Übrigen nicht unbillig, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten folgt aus § 193 Abs. 1 SGG in entsprechender Anwendung.

Der Antragstellerin war Prozesskostenhilfe gemäß § 73 a SGG iVm §§ 114, 119 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zu bewilligen. Die Antragstellerin kann nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen, da sie Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II bezieht (Bewilligungsbescheid des Job Centers Charlottenburg-Wilmersdorf vom 06. November 2007).

Der Beschluss ist nicht durch die Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar; § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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