L 15 VG 11/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 3 VG 6/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VG 11/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 VG 10/08 B
Datum
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 24.07.2006 - S 3 VG 6/03 - insoweit aufgehoben, als der Beklagte verurteilt wurde, Versorgungsrente nach einer höheren MdE als um 40 v.H. (nach § 30 Abs.1 BVG) vor dem 1. Dezember 1996 (Antragsmonat) zu gewähren und die Klage der Klägerin gegen die Bescheide des Beklagten vom 27. September 2001 und 1. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2003 wird insoweit abgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu Hälfte.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1964 geborene Klägerin ist wiederholt sexuell traumatisiert worden. Streitig sind zwischen den Beteiligten Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) aufgrund der Vergewaltigung vom 11./12.09.1992.

Die Klägerin ist spanische Staatsangehörige deutsch-spanischer Abstammung. Sie hat mit Erstantrag vom 12.12.1996 vorgetragen, sie sei 1983 von einer Gruppe von Türken in der Nähe ihrer Schule vergewaltigt worden. Ein erneuter wiederholter sexueller Missbrauch habe am 11./12.09.1992 durch einen Deutschen stattgefunden, der sie überrumpelt und in seiner Wohnung vergewaltigt habe.

Der Beklagte hat den Erstantrag vom 12.12.1996 mit Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung (AVF) R. vom 27.05.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familienförderung (BLVF) vom 18.05.1998 mit der Begründung abgelehnt, ein Nachweis habe nicht erbracht werden können, dass die vorgetragenen sexuellen Handlungen durch J. K. (K.), geboren 1931, gegen ihren Willen erfolgt seien. Im Rahmen des sich anschließenden sozialgerichtlichen Verfahrens hat das Sozialgericht Regensburg (SG) das Urteil des Landgerichts R. vom 19.04.2002 - 2 KLs 140 Js 14843/99 -, bestätigt durch Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 10.10.2000 - 1 StR 383/00 -, beigezogen. Danach ist die Klägerin nach anfänglichem Weigern aus "nicht mehr nachvollziehbaren Gründen" in den Pkw von K. gestiegen und mit diesem nach Hause gefahren. Dort ist die Klägerin in der Nacht vom 11.09.1992 auf den 12.09.1992 vergewaltigt und sexuell missbraucht worden (u.a. Oralverkehr). K. ist wegen dieser sowie einer anderweitigen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten bzw. vier Jahren verurteilt worden. Dementsprechend hat sich der Beklagte mit (angenommenem) Vergleichsangebot vom 16.02.2001 bereit erklärt, aufgrund der Ereignisse vom 11. bzw. 12.09.1992 einen Grundanspruch nach dem OEG anzuerkennen und über die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) einen rechtsbehelfsfähigen Bescheid zu erteilen.

Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr.K. hat mit versorgungsärztlichem Gutachten vom 03.07.2001 ausgeführt, dass ganz im Vordergrund eine schädigungsunabhängige psychische Erkrankung stehe. Die Klägerin leide unter einer endogenen Psychose und unter einem chronischen Schmerzsyndrom, das ca. 1990 (also vor der Vergewaltigung) begonnen habe. Auch aus den Berichten des Bezirkskrankenhauses R. gehe nicht hervor, dass die psychische Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung nach Vergewaltigung zuordenbar wäre. Auch die jetzt nach ca. neun Jahren noch nachweisbare erhebliche psychische Symptomatik im Sinne einer hebephrenen schizoaffektiven Psychose sei nicht mehr mit der Schädigung vereinbar. Dementsprechend hat der Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid des AVF R. vom 27.09.2001 als Folge einer Schädigung nach dem OEG ab 01.12.1996 eine "posttraumatische Belastungsstörung" in nicht rentenberechtigengem Grad anerkannt.

Der Beklagte hat die Klägerin im Rahmen des Widerspruchsverfahrens durch das M.-Institut für Psychiatrie untersuchen lassen. Dres.W. und Z. haben mit psychiatrischem Fachgutachten vom 09.04.2003 ausgeführt, dass die leichte posttraumatische Belastungsreaktion eine MdE von 10 bis 20 v.H. ergebe. Im Übrigen liege die intellektuelle Leistungsfähigkeit im Grenzbereich; es bestehe eine chronische somatoforme Schmerzstörung sowie ein Verdacht auf eine nicht näher bezeichnete leichte depressive Episode. Außerdem sei der Schmerzmittelabusus zu berücksichtigen. In Auswertung dieses Gutachtens hat der Beklagte mit Teilabhilfebescheid des AVF R. vom 01.08.2003 ab 01.12.1996 als Folge einer Schädigung im Sinne des OEG eine "posttraumatische Belastungsstörung, depressive Störungen" im Sinne der Verschlimmerung anerkannt. Die MdE um 20 v.H. nach § 30 Abs.1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ist nicht rentenberechtigend gewesen.

Im Übrigen ist der Widerspruch vom 25.10.2001 gegen den Bescheid des AVF R. vom 27.09.2001 mit Widerspruchsbescheid des BLVF vom 20.08.2003 zurückgewiesen worden.

In dem sich anschließenden weiteren sozialgerichtlichen Verfahren hat Prof.Dr.B. nach stationärer Begutachtung vom 26.10.2005 bis 01.11.2005 auf die tiefe Religiosität der Klägerin hingewiesen. Dies erkläre auch die lange Latenzzeit (erhebliches Schamgefühl) bis zur Anzeige am 06.11.1995 bei der Kriminalinspektion R ... Die posttraumatische Belastungsstörung nach Vergewaltgigung samt hieraus resultierender somatoformer Schmerzstörung bedinge eine Gesamt-MdE um 90 v.H. Die ohne festen Wohnsitz in M. lebende Klägerin könne überhaupt keiner Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nachgehen. Dass die Klägerin überhaupt einen Antrag auf Leistungen nach dem OEG im Dezember 1996 gestellt habe, sei mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen, dass sie ab diesem Zeitpunkt Unterstützung durch andere Autoritätspersonen (Rechtsanwältin und behandelnder Arzt) erhalten habe. Vorher sei sie nicht dazu in der Lage gewesen, einen entsprechenden Antrag zu stellen.

Gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B. vom 25.04.2006 hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 02.05.2006 ein Anerkenntnis dahingehend abgegeben, ab 18.12.1996 als Folge einer Schädigung nach dem OEG anzuerkennen: 1. Posttraumatische Belastungsstörung (Einzel-MdE 30 v.H.); 2. somatoforme Schmerzstörung (Einzel-MdE 20 v.H.) zu 1) im Sinne der Entstehung und zu 2) im Sinne der Verschlimmerung. Die Gesamt-MdE ist mit 40 v.H. bewertet worden.

Das SG ist mit Urteil vom 24.07.2006 im Wesentlichen den Ausführungen von Prof.Dr.B. mit psychologischem Gutachten vom 09.01.2006 gefolgt und hat den Teilabhilfebescheid des VA R. vom 01.08.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2003 aufgehoben. Weiterhin ist der Beklagte verpflichtet worden, bei der Klägerin als Folge einer Schädigung im Sinne des OEG eine "posttraumatische Belastungsstörung" im Sinne der Entstehung und eine "chronifizierte somatoforme Schmerzstörung mit Medikamentenmissbrauch" im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen und der Klägerin Versorgungsrente nach einer MdE von 80 v.H. vom 01.09.1992 bis 31.01.1996 und nach einer MdE von 70 v.H. ab 01.02.1996 bis auf weiteres zu gewähren.

Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten vom 14.08.2006 ging am 16.08.2006 beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) ein. Von Seiten des BayLSG wurden die Versorgungs- und Schwerbehindertenakten des Beklagten beigezogen, ebenso vier Akten des SG Regensburg mit einer Heftung (Kopien aus den Akten des Amtsgerichts R.). Dem Eilantrag des Beklagten vom 23.01.2007 hat das BayLSG mit Beschluss vom 02.05.2007 - L 15 VG 1/07 ER - entsprochen und die Vollstreckung aus dem Urteil des SG Regensburg vom 24.07.2006 - S 3 VG 6/03 - gemäß § 199 Abs.2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) insoweit ausgesetzt, als der Beklagte verurteilt wurde, Versorgungsrente nach einer höheren MdE als 40 v.H. (nach § 30 Abs.1 BVG) zu gewähren.

Der Beklagte hob mit Berufungsbegründung vom 23.01.2007 hervor, dass bei der Klägerin bereits vor der Tat im Jahr 1992 eine psychische Symptomatik im Sinne von rezidivierenden depressiven Verstimmungen bestanden habe. Die Klägerin sei nach ihren eigenen Angaben seit ihrem 13. Lebensjahr depressiv verstimmt und habe bereits im Alter von 17 Jahren nach einer Auseinandersetzung mit ihrem Vater ihren ersten Selbstmordversuch (Einnahme von Tabletten) unternommen, weil sie dessen Demütigungen nicht mehr ertragen habe. Weitere Selbstmordversuche habe die Klägerin ca. ein halbes Jahr später sowie im Alter von 21 und 24 Jahren unternommen. Hinsichtlich der Schädigungsfolgen könne daher keinesfalls eine höhere MdE als 40 v.H. festgestellt werden. Insoweit werde auf das Gutachten von Dr.W. vom 09.04.2003 verwiesen, das auf ausdrücklichen Wunsch der ehema- ligen Bevollmächtigten der Klägerin erstellt worden sei. Dr.W. sei in diesem ausführlich begründeten Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass im Zusammenhang mit der Tat vom September 1992 lediglich von einer nicht rentenberechtigenden MdE von 20 v.H. auszugehen sei. Mit der im Klageverfahren vergleichsweise angebotenen Anerkennung einer MdE von 40 v.H. sei damit der Klägerin bereits weitestmöglich entgegengekommen worden.

Das BayLSG bestellte mit Beweisanordnung vom 15.06.2007 Dr.H. gemäß § 106 Abs.3 Nr.5 SGG zum ärztlichen Sachverständigen. Dieser führte mit nervenärztlich-sozialmedizinischem Gutachten vom 28.06.2007 nach Aktenlage aus, dass schädigungsbedingt eine "posttraumatische Belastungsstörung" (Einzel-MdE 30 v.H.) sowie eine "somatoforme Schmerzstörung" (Einzel-MdE 20 v.H.) bestehe. Die Gesamt-MdE betrage ab dem Antrag vom 18.12.1996 40 v.H. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben z.B. in kirchlich getragenen Einrichtungen seien erfolgversprechend und zumutbar. Es sei nicht begründbar, weshalb eine berufliche Wiedereingliederung bei der jetzt 43-jährigen Klägerin nicht zumutbar sein sollte.

Die Klägerin berief sich mit Schriftsatz vom 03.10.2007 auf das Gutachten von Prof.Dr.B. vom 09.01.2006 bzw. auf das Urteil des SG vom 24.07.2006. Dr.P. habe die Diagnose einer hebephrenen Schizophrenie widerlegt. Sie habe vor der Vergewaltigung im September 1992 als Küchenhilfe in einem Altenheim sowie als Putzhilfe in einer Fabrik arbeiten können. Dies sei anschließend nicht mehr möglich gewesen. Sie könne kaum ihren Haushalt führen; die Gardinen seien seit zwei Jahren nicht gewaschen, die Fenster seit zwei Jahren nicht geputzt. Die chronischen Schmerzen hätten erst nach der Vergewaltigung vom September 1992 angefangen. Sie sei erwerbsunfähig und erhalte eine kleine Erwerbsunfähigkeitsrente. Sie bekomme kein Wohngeld und könne die Miete kaum bezahlen. Sie esse nur eine kleine Mahlzeit am Tag und könne ihren Haushalt kaum führen.

In der mündlichen Verhandlung vom 19.02.2008 stellt der Bevollmächtigte des Beklagten den Antrag, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 24.07.2006 - S 3 VG 6/03 - insoweit aufzuheben, als der Beklagte verurteilt wurde, Versorgungsrente nach einer höheren MdE als um 40 v.H. nach § 30 Abs.1 BVG vor dem 01.12.1996 (Antragsmonat) zu gewähren, und die Klage im Übrigen abzuweisen.

Die Klägerin hat bereits mit Schriftsatz vom 03.10.2007 sinngemäß beantragt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 24.07.2006 als unbegründet zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß § 202 SGG i.V.m. § 540 Zivilprozessordnung (ZPO) sowie entsprechend § 136 Abs.2 SGG auf die Unterlagen des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist gemäß §§ 143, 144 und 151 SGG zulässig und begründet.

Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält gemäß § 1 Abs.1 des OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG. § 60 Abs.1 BVG bestimmt, dass die Beschädigtenversorgung mit dem Monat beginnt, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens jedoch mit dem Antragsmonat. Die Versorgung ist auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. War der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so verlängert sich diese Frist um den Zeitraum der Verhinderung.

Dementsprechend stehen der Klägerin aufgrund ihres Antrags vom 12.12.1996 grundsätzlich Leistungen nach dem OEG ab Beginn des Antragsmonats 01.12.1996 zu. Entgegen den Ausführungen von Prof.Dr.B. mit Gutachten vom 09.01.2006 ist die Klägerin nicht an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen. Denn sie hat bereits am 06.11.1995 über die Frauenbeauftragte des Polizeipräsidiums Niederbayern/Oberpfalz Anzeige gegen Unbekannt wegen Vergewaltigung gestellt. Auch im Rahmen der 2 1/2-stündigen Zeugenvernehmung bei der Kriminalinspektion R., Kommisariat 13 vom 25.01.1996 hat die Klägerin die Vorfälle vom 11. und 12.09.1992 sachlich und umfassend sowie im Wesentlich gefasst geschildert. Es sind keinerlei Gründe ersichtlich, warum die Klägerin nicht zeitgleich (im November 1995 oder Januar 1996) auch einen Antrag nach dem OEG hätte einreichen können. In diesem Zusammenhang fällt vielmehr auf, dass sich die Klägerin erst zur Stellung eines Antrages nach dem OEG am 12.12.1996 entschlossen hat, nachdem sie den Täter am 04.10.1996 am Hauptbahnhof in R. wiedererkannt hat und dieser nach Verständigung der Bahnpolizeiwache R. festgenommen worden ist. Somit sind gemäß § 1 Abs.1 Satz 1 OEG i.V.m. § 60 Abs.1 BVG Leistungen ab 01.12.1996 zu erbringen, nicht jedoch für den zurückliegenden Zeitraum.

Die MdE bemisst sich gemäß § 1 Abs.1 OEG i.V.m. § 30 Abs.1 BVG nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Für die Beurteilung ist maßgebend, um wie viel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als Folgen einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt sind. Die vorstehend zitierten Rechtsnormen werden durch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 bzw. 2004, 2005 und 2008" ausgefüllt. Wenngleich diese Verwaltungsvorschriften, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, für das Gericht nicht zwingend bindend sind, werden sie dennoch regelmäßig zur Gesetzesauslegung und als wertvolle Entscheidungshilfe herangezogen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 06.03.1995 - BvR 60/95 (NJW 1995, S.3049, 3050) die Beachtlichkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1983" im verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren als "antizipierte Sachverständigengutachten" bestätigt. Das Gebot der Gleichbehandlung, wie es in Art.3 Abs.1 Grundgesetz (GG) normiert ist, erfordert es auch in diesem Fall, keinen anderen Bewertungsmaßstab als den üblichen anzulegen.

Manifestieren sich die Folgen psychischer Traumen in stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen), so beträgt die MdE 30 bis 40 v.H ... Bei Vorliegen schwerer Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ist eine MdE um 50 bis 70 v.H. vorgesehen, bei schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten eine MdE um 80 bis 100 v.H.

Hiervon ausgehend hat der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr.H. mit nervenärztlich-sozialmedizinischem Gutachten nach Aktenlage vom 28.06.2007 schlüssig und überzeugend ausgeführt, dass die schädigungsbedingte MdE 40 v.H. beträgt. Sie setzt sich zusammen aus einer "posttraumatischen Belastungsstörung" mit einer Einzel-MdE von 30 v.H. sowie einer "somatoformen Schmerzstörung" mit einer MdE um 20 v.H. Denn Dr.B. hat mit psychologischem Gutachten vom 09.01.2006 gravierende biographische Aspekte vor 1992 völlig außer Acht gelassen und einseitig die aktuelle Symptomatik den schädigenden Ereignissen vom 11./12.09.1992 zugeordnet. Belastend für die Klägerin ist bereits gewesen, dass sie mit elf Jahren nach Deutschland verbracht worden ist. Sie wäre lieber in Spanien geblieben, "da sie dort Freundinnen gehabt habe. In der Schule in Deutschland sei sie von Buben geschlagen und angespuckt worden, da diese Ausländer gehasst hätten." Der Vater sei sehr streng gewesen. "Er habe sie sehr häufig mit einem Gürtel oder einem Stock geschlagen." Da sie in der Schule nicht besonders gut gewesen sei, habe sie der Vater neben anderen nichtigen Gründen auch deshalb immer wieder geschlagen. Die Geschwister seien bevorzugt worden. Sie sei manchmal zu Nachbarn geflüchtet, wenn sie zu viel Angst vor dem Vater gehabt habe. "Als sie 13 Jahre alt gewesen sei, habe ihr Vater ihr wütend erklärt, dass es besser gewesen wäre, wenn sie gar nicht geboren worden wäre." Nach dem Hauptschulabschluss habe der Vater ihr vorgeworfen, dass man ihr den Abschluss geschenkt und dass sie ihn nicht verdient habe. Während einer Lehre zur Restaurantfachgehilfin habe sie die Männer im Restaurant zum Alkoholtrinken animieren müssen, was sie nicht gewollt habe. Mit 16 Jahren sei sie in M. in ein Kloster mit strenger Klausur eingetreten, später sei sie wegen Ungehorsam aus dem Kloster entlassen worden. Bei Rückkehr nach Deutschland sei sie vom Vater wiederum terrorisiert worden. Er habe ihr erklärt, dass er ihre religiösen Bücher verbrennen werde und habe ihr untersagt, den Gottesdienst zu besuchen. Er habe immer wieder erklärt, wie nutzlos sie sei und habe sie auch vor anderen Menschen erneut gedemütigt. Mit 17 Jahren habe sie einen Suizidversuch durch Aufschneiden der Pulsadern unternommen, weil sie die Demütigungen und die Schläge ihres Vaters nicht mehr habe ertragen können. Die Mutter sei auf der Seite des Vaters gestanden. Sie habe niemanden gehabt, dem sie sich hätte anvertrauen können. Bei einer Tätigkeit in einem Altenpflegeheim habe es erneute Probleme gegeben. Die Oberschwester sei sehr böse gewesen, u.a. deshalb erneuter Suizidversuch, der gescheitert sei. Der Vater habe ihr danach vorgeworfen, dass sie kein Durchhaltevermögen habe und habe sie weiter tyrannisiert. Mit 19 Jahren habe sie bei R. in einer Schule für Ausländer das erste Vergewaltigungserlebnis erlitten. - Auch für den erkennenden Senat ist somit schlüssig und überzeugend, dass die Klägerin bereits vor den Ereignissen vom 11./12.09.1992 erheblich traumatisiert worden ist.

Weiterhin ist auf den Bericht der Psychiatrischen Klinik R. vom 06.02.1996 zu verweisen, wonach die Klägerin seit der Aduleszenz an einer hebephrenen Schizophrenie leidet und sich bereits vor 1995 dreimal in dortiger stationärer Behandlung befunden hat, später auch stationär in der Psychiatrischen Klinik T ... Die genaue Diagnose kann rückblickend dahingestellt bleiben (Schizophrenie bzw. schizoaffektive Psychose). Es wird erst später übereinstimmend von einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung ausgegangen.

Grundsätzlich kommt nach einer Vergewaltigung bzw. einem sexuellen Missbrauch eine MdE um 30 v.H. in Betracht (vgl. Rohr/ Strässer/Dahm, Handkommentar zum Versorgungsrecht mit Verfahrensrecht, Bd.V A 180/1 m.w.N.). Vorliegend ist in Folge der Ereignisse vom 11./12.09.1992 eine Rente nach einer MdE um 40 v.H. einzuweisen, da sich die Schädigungsfolgen aufgrund der bei der Klägerin bestehenden starken Religiosität wesentlich gravierender auswirken als in vergleichbaren Fällen. Dies hat auch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B. mit versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 25.04.2006 berücksichtigt und sich kritisch mit dem Gutachten von Dr.W. (M.-Institut für Psychiatrie) vom 09.04.2003 auseinandergesetzt. Die dort befürwortete MdE von 20 v.H. trägt dem schädigungsbedingten Beschwerdebild der Klägerin nicht ausreichend Rechnung.

Weiterhin darf nicht außer Acht gelassen werden, dass nach dem Schwerbehindertengesetz (nunmehr: SGB IX) der Grad der Behinderung (GdB) unabhängig von der Ursache mit 70 bewertet worden ist. Das Gesamtbild der psychischen Funktionsbeeinträchtigung samt somatoformer Schmerzstörung mit Medikamentenabusus kann wie bereits vorstehend ausgeführt nicht auf die Ereignisse vom 11./12.09.1992 zurückgeführt werden. Es ist daher auch für den erkennenden Senat schlüssig und überzeugend, den schädigungsbedingten Anteil mit einer Gesamt-MdE um 40 v.H. zu berücksichtigen.

Zur Bildung der Gesamt-MdE ist auf Rz.19 der "Anhaltspunkte" zu verweisen. Bei der Beurteilung des Gesamt-MdE-Grades ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-MdE-Grad bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten MdE-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von hier nicht gegebenen Ausnahmefällen abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen MdE-Grad von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem MdE-Grad von 20 v.H. ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Ausgehend von zwei Schädigungsfolgen mit Einzel-MdE-Werten von 30.v.H. und 20 v.H. beträgt die Gesamt-MdE somit 40 v.H. im Sinne von § 30 Abs.1 BVG.

Bei der Klägerin liegt auch keine schädigungsbedingte besondere berufliche Betroffenheim im Sinne von § 30 Abs.2 BVG vor, die eine Erhöhung der Gesamt-MdE gebieten könnte. Denn in Übereinstimmung mit Dr.H. mit Gutachten vom 28.06.2007 ist der erkennende Senat überzeugt, dass die Klägerin in Berücksichtigung ihrer tiefen Religiosität sowie der Notwendigkeit möglichst nicht mit Männern zusammenzuarbeiten zu müssen, z.B. in kirchlich oder caritativ getragenen Einrichtungen leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben könnte. In diesem Zusammenhang ist auf die Lehre zur Restaurantfachgehilfin ebenso hinzuweisen wie bereits die in einem Altenpflegeheim ausgeübte Tätigkeit. Der erkennende Senat verkennt nicht, dass nach dem SGB IX der GdB mit 70 bewertet ist. Dies korrespondiert mit der "kleinen Erwerbsunfähigkeitsrente", die die Klägerin erhält. Im Rahmen des sozialen Entschädigungsrechts können jedoch nicht sämtliche Funktionsstörungen berücksichtigt werden, sondern nur die schädigungsbedingten. Bei einer schädigungsbedingten MdE um 40 v.H. (§ 30 Abs.1 BVG) sind schädigungsbedingt zumindest einfache Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wie hier regelmäßig nicht ausgeschlossen.

Nach alledem ist der Berufung des Beklagten stattzugeben und die Klage im Übrigen abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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