L 5 V 3/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 2584/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 3/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1937 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Slowenien. Erstmals am 7. Januar 1988 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, am 8. Mai 1945 durch liegengebliebenes Kriegsmaterial schwer verletzt worden zu sein. Infolge des Verlustes des linken Armes im Unterarm, von Daumen und Finger links sowie einer Knie- und Unterschenkelverletzung sei er zu 100 % Invalide und erhalte wegen dieses schädigenden Ereignisses von seinem Heimatland eine Rente als ziviles Kriegsopfer. Er legte den Anerkennungsbescheid und Zahlungsbelege vor. Nach weiteren Ermittlungen und versorgungsärztlicher Auswertung der medizinischen Befunde erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 17. Dezember 1990 – abgesandt am 17. Januar 1991 – die geltend gemachten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H. Zur Begründung führte er unter anderem aus, daß die Leistungen als sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt würden.

Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers durch Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als Zivilkriegsopfer von seinem Heimatstaat und eine weitere Versorgung nach dem BVG sei damit ausgeschlossen. Die Aufhebung der Rentenbewilligung sei aus öffentlichem Interesse geboten. Zugunsten des Interesses des Klägers sei berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in die Verantwortung der deutschen Verwaltung falle. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse die deutsche Verwaltungsentscheidung keinen Einfluß hätte.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch mit Schreiben vom 21. Januar 1993 ein und trug vor, daß er auf die Versorgungsleistung angewiesen sei. Ende April 1945 habe sein Vater zwei deutschen Soldaten Unterschlupf gewährt. Vorher hatte er bereits mitgeteilt, daß er ledig sei und seit dem Tod seiner Mutter 1990 allein lebe. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück; da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er keine Leistungen zurückzuzahlen. Für die Zukunft überwiege das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden bei Sozialleistungen vielfach zutreffen und könnten bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.

Gegen das auf diplomatischem Wege am 31. August 1993 zugestellte Urteil hat der Kläger am 21. Oktober 1993 beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig sei.

Mit Urteil vom 7. Oktober 1994 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und Widerspruchsbescheid aufgehoben. In seinen Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB V obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe in seiner Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr liege ein Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit in den Ausführungen zum Ermessen vor. Dies werde insbesondere dadurch deutlich, daß der Beklagte nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge hatte, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an Zivilkriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zuträfen. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rückforderung eingeleitet und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleich Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien deshalb wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.

Mit Beschluss vom 16. Dezember 1994 hat das Sozialgericht die Sprungrevision nicht zugelassen.

Gegen das am 23. Dezember 1994 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 3. Januar 1995 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Er ist der Ansicht, bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X sei im sozialen Entschädigungsrecht wenigstens im Regelfall überhaupt kein Ermessen auszuüben; dies habe der 9/9 a Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Die Rechtsprechung anderer Senate des BSG sei für das soziale Entschädigungsrecht nicht einschlägig. Der vorliegende Rechtstreit sei ein klassischer Regelfall. Es hätte deshalb kein Ermessen ausgeübt werden müssen. Im übrigen ergebe sich, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter und die Schädigung sowie das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegung mit einbezogen worden seien. Weitere Ermittlungen seien jedoch nicht notwendig gewesen, da grundsätzlich von den schweren persönlichen Verhältnissen der Kläger ausgegangen worden sei. Für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt sei, könne die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich gemacht werden. Weitere Überlegungen hätten nicht angestellt werden müssen. Ferner behauptet der Beklagte, daß der Kläger weiterhin Anspruch auf Rente als Zivilkriegsopfer habe. Ob die Zahlung tatsächlich erfolge, sei letztlich unerheblich.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger ist der Ansicht, daß das Anhörungsrecht gemäß § 24 SGB X verletzt sei. Die Anhörung sei auch im Vorverfahren nicht nachgeholt worden. Insbesondere sei der Kläger nicht auf die Rechtslage im einzelnen hingewiesen worden. Ferner habe der Beklagte überhaupt kein Ermessen ausgeübt. Allein dies sei ein Ermessensfehlgebrauch. Von einer Ermessensreduzierung auf Null könne nicht die Rede sein. Ferner behauptet der Kläger, keine Kriegsopferrente von seinem Heimatstaat mehr zu erhalten, so daß eine Doppelversorgung nicht vorliege.

Der Senat hat bei dem Verband für Alters- und Invalidenversicherung Sloweniens ermittelt. Dieser hat mit Schreiben vom 30. November 1995 mitgeteilt, daß der Kläger als Zivilkriegsopfer von ihr keine Invalidenrente erhalte.

Ferner hat der Senat mit gerichtlichem Schreiben vom 24. November 1996 die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995 in vergleichbaren Fällen in das Verfahren eingeführt und Kopien der Urteile den Beteiligten übersandt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§ 151 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 7. Oktober 1994 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 1993 aufgehoben, denn die Verwaltungsentscheidung ist rechtswidrig.

Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2–4 SGB X). Der Senat hat bereits in zwei gleichgelagerten Fällen (vgl. Hess. LSG, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95 –) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Diese Urteile sind bereits in das vorliegende Verfahren eingeführt und den Beteiligten zur Kenntnisnahme gegeben worden. Der Senat nimmt vollinhaltlich hierauf Bezug.

Entscheidend ist hiernach, daß die Entstehung des Bewilligungsbescheides für die Versorgungsleistung allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 9 RV 188/75; Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 9 a RV 12/91; zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9 a RV 39/92) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist allein der Anspruch, unerheblich ist, ob und wie die Geldleistung letztlich erbracht wird. Deshalb erübrigen sich im vorliegenden Fall auch weitere Ermittlungen in Slowenien. Der Kläger ist grundsätzlich als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Der ehemalige Staat Jugoslawien gewährte auch Versorgungsleistungen. Die selbständigen Staaten Bosnien-Herzegowina, Slowenien und Kroatien haben insoweit die früheren jugoslawischen Rechtsnormen auch übernommen, wie aus vergleichbaren Verfahren bekannt ist.

Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat geht im vorliegenden Fall davon aus, daß es sich nicht um einen Regelfall handelt, wonach jegliche Ermessenserwägung entbehrlich ist. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Es ist der sogenannte Fall der Ermessensunterschreitung gegeben. Denn es wurde dieselbe Formulierung für eine große Vielzahl von Fällen benutzt und damit Verhältnisse nur pauschal, nicht aber alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, die bei der Ermessensentscheidung grundsätzlich eine Rolle hätten spielen können. Gegebenenfalls hätten sie auch von dem Beklagten ermittelt werden müssen. Der Kläger hat wiederholt vorgetragen, daß er auf die Versorgungsleistungen angewiesen sei. Hinzu kam, daß der Kläger, der ledig ist, im Jahr 1990 seine Mutter verlor. Weitere Härtetatbestände wären ohne weiteres im vorliegenden Fall zu ermitteln gewesen. Dies ist jedoch, wie bereits ausgeführt, nicht geschehen. Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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