L 5 V 282/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 2217/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 282/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. Januar 1995 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1934 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Bosnien-Herzegowina. Erstmals am 10. Oktober 1988 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, am 5. April 1945 durch liegengebliebenes Kriegsmaterial verletzt worden zu sein. Er habe bei dieser Verletzung den Unterarm verloren und eine Formveränderung des rechten Fußes mit Funktionsbehinderung erlitten. Infolge dieses schädigenden Ereignisses sei er als ziviles Kriegsopfer anerkannt und erhalte entsprechende Versorgung. Er legte den Anerkennungsbescheid und Zahlungsbelege vor. Nach weiteren Ermittlungen und versorgungsärztlicher Auswertung der medizinischen Befunde erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 17. Dezember 1990 die geltend gemachten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 v.H. Zur Begründung führte er u.a. aus, daß die Leistung als sog. "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.

Diesen am 17. Januar 1991 abgesandten Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers durch Bescheid vom 5. Januar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung des Bewilligungsbescheides sei aus öffentlichem Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bewilligungsbescheides allein in die Verantwortung der deutschen Verwaltung falle. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.

Hiergegen legte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers Widerspruch ein und trug vor, der Kläger habe telefonisch mitgeteilt, daß seine Rente seit 1 1/2 Jahren nicht mehr ausbezahlt werde. Ferner trug der Prozeßbevollmächtigte des Klägers vor, daß wegen der Kriegsereignisse eine Kontaktaufnahme zu dem Kläger erheblich erschwert sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. August 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück; da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse an der Rücknahme. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand würde bei Sozialleistungen vielfach zutreffen und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.

Am 13. September 1993 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig sei.

Mit Urteil vom 27. Januar 1995 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe in seinen Entscheidungen nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr zeige die gebrauchte Formulierung deutlich, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an Zivilkriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zuträfen. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rückforderung eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleich Rücknahme und Widerspruchsbescheid erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien deshalb wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben.

Gegen das am 15. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 20. März 1995 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Er ist der Ansicht, bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X sei im sozialen Entschädigungsrecht wenigstens im Regelfall überhaupt kein Ermessen auszuüben. Dies habe der 9/9 a Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Im vorliegenden Rechtsstreit handele es sich um einen klassischen Regelfall. Es hätte deshalb kein Ermessen ausgeübt werden müssen. Im übrigen seien sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegung einbezogen worden. Ermittlungen der aktuellen Einkommensverhältnisse seien nicht erforderlich gewesen, da zugunsten des Klägers bereits von schwierigen persönlichen Verhältnissen ausgegangen worden sei. Letztlich sei die Bundesrepublik Deutschland für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem 2. Weltkrieg entbrannt sei, nicht verantwortlich. Bei der Ermessensausübung hätte dieser Umstand nicht zu einem Verzicht auf die Rücknahme führen können.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. Januar 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger ist der Ansicht, der Rücknahmebescheid sei rechtswidrig, weil der Beklagte sein Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt habe. Ferner trägt der Prozeßbevollmächtigte des Klägers vor, daß die Verbindung zu dem Kläger nach Bosnien-Herzegowina weiterhin infolge der Kriegsereignisse sehr schlecht sei. Seine Tochter (Kriegsflüchtling) habe mitgeteilt, daß der Kläger seine Rente das letzte Mal im September 1994 bekommen habe und der Kläger praktisch ohne Einkommen sei.

Der Senat hat mit gerichtlichem Schreiben vom 24. September 1996 auch die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995 in vergleichbaren Fällen in das Verfahren eingeführt und Kopien der Urteile an die Beteiligten zur Kenntnisnahme übersandt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Nichterscheinen des Prozeßbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Ladung einen entsprechenden Hinweis enthielt (§ 110 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie an sich statthaft (§ 151 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 27. Januar 1995 den Bescheid vom 5. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.

Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigten Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2–4 SGB X). Der Senat hat bereits in zwei gleichgelagerten Fällen (Hess. LSG, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Diese Urteile sind bereits in das vorliegende Verfahren eingeführt und den Beteiligten in Kopie zur Kenntnisnahme übersandt worden. Der Senat nimmt vollinhaltlich hierauf Bezug.

Entscheidend ist hiernach, daß die Entstehung des Bewilligungsbescheides für die Versorgungsleistung allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in ständiger Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 9 RV 188/75, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 9 a RV 12/91, zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9 a RV 39/92) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist allein der Anspruch; unerheblich ist, ob und wie die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Der ehemalige Staat Jugoslawien gewährte auch Versorgungsleistungen. Die selbständigen Staaten Bosnien-Herzegowina, Slowenien und Kroatien haben insoweit die früheren jugoslawischen Rechtsnormen auch übernommen.

Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat geht auch für den vorliegenden Fall davon aus, daß es sich nicht um einen Regelfall handelt, in dem eine Ermessensentscheidung nicht notwendig gewesen wäre. Es liegt eine sogenannte Ermessensunterschreitung vor. Denn es wurde dieselbe Formulierung für eine Vielzahl von Fällen benutzt und damit Verhältnisse nur pauschal berücksichtigt, aber nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt. Gegebenenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden müssen. Der Kläger lebt in Bosnien-Herzegowina und hatte deshalb zeitweise keinen Kontakt zu seinem Prozeßbevollmächtigten. Der Kläger lebt in einem Gebiet der Teilrepublik der ehemaligen Republik Jugoslawien, in dem bekanntermaßen Krieg herrschte. Somit ist auch denkbar, daß der Kläger Kriegsflüchtling ist. Seine Tochter (Kriegsflüchtling) hat nunmehr mitgeteilt, daß der Kläger ca. 40,00 DM als ziviles Kriegsopfer erhalte. Seit September 1994 erhalte der Kläger keine Rente mehr und sei praktisch ohne Einkommen. Zwar steht es der Behörde frei, welche Ermessensentscheidungen sie fällt. Insoweit ist die Ermessensentscheidung vom Gericht auch nicht überprüfbar. Jedoch liegt, wie bereits ausgeführt, im vorliegenden Fall eine Ermessensunterschreitung vor, denn es fehlt an der individuellen Ermessensprüfung. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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