Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 2435/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 40/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. Oktober 1994 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X).
Der 1936 geborene Kläger stammt aus der Teilrepublik Bosnien-Herzegowina (BiH) der früheren Sozialistischen Föderativen Republik (SFRJ) Jugoslawien. Er lebte zuletzt in T./BiH und nahm während des Krieges in der ehemaligen SFRJ seinen Wohnsitz in P. in der Republik Kroatien.
Der Kläger wurde im Herbst 1944 als seinerzeit achtjähriges Kind bei der Explosion einer im Kampfgebiet des 2. Weltkrieges in S. bei B. zurückgebliebenen Bombe schwer verletzt, weshalb die rechte Hand amputiert werden mußte. Durch Bescheid vom 28. Mai 1976 wurde er in seinem Heimatstaat, der seinerzeitigen Sozialistischen Republik Bosnien-Herzegowina (BiH) nach Maßgabe der dort und in der früheren SFRJ geltenden Gesetze als ziviles Kriegsopfer anerkannt und erhielt ab 1. Juli 1975 eine Rente nach einem Behinderungsgrad von 70 v.H ... Zwischen 1978 und 1984 absolvierte der Kläger neben seiner Berufstätigkeit eine Ausbildung zum Diplom-Juristen. Zuletzt war er in T. in leitender Stellung tätig.
Am 5. Dezember 1988 stellte er erstmals Antrag auf Gewährung von Entschädigungsleistungen nach dem BVG und legte neben medizinischen und anderen Dokumenten auch den Bescheid vom 28. Mai 1976 über die Anerkennung als Zivilkriegsopfer vor und gab an, 1944 durch zurückgebliebenes Kriegsmaterial verletzt worden zu sein.
Nach weiteren Ermittlungen zum schädigenden Ereignis, zum Kriegsverlauf in der Nähe von S. bei B. in der Endphase des 2. Weltkrieges sowie über das Ausmaß der beim Kläger bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen erkannte durch Bescheid vom 27. Mai 1991 das Versorgungsamt die vom Kläger geltend gemachte Gesundheitsstörung ("Amputation der rechten Hand”) als Schädigungsfolge im Sinne des BVG mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v.H. an. Der Beklagte bewilligte dem Kläger unter Berufung auf § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG als sog. "Kannleistung” Beschädigtenversorgung ab dem 1. Dezember 1988. Die Versorgungsrente wurde bis einschließlich Mai 1992 nach T., BiH, ausgezahlt. Im Mai 1992 mußte der Kläger infolge der Kriegsereignisse in den Teilrepubliken der früheren SFRJ seine Heimatstadt verlassen und nach P. in Kroatien fliehen, wo er ohne Einkünfte und ohne Erwerbsmöglichkeit lediglich auf die Gewährung von Flüchtlingsunterstützung angewiesen war. Dies teilte er dem Beklagten erstmals mit Schreiben vom 4. April 1993 mit, indem er darum bat, die Versorgungsbezüge nunmehr auf ein neues Devisenkonto nach P. in Kroatien zu überweisen.
Mit Bescheid vom 13. Januar 1993 nahm der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 27. Mai 1991 ohne vorherige Anhörung des Klägers unter Berufung auf § 45 SGB X mit der Begründung zurück, der Bescheid vom 27. Mai 1991 sei rechtswidrig gewesen, weil gemäß § 7 Abs. 2 BVG das BVG nicht auf Kriegsopfer anzuwenden sei, die aus derselben Ursache Anspruch auf Versorgung gegen einen anderen Staat hätten. Zu Gunsten der Interessen des Klägers sei berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in den Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung falle. Hieraus ergebe sich jedoch nicht die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers in den Bestand des Bescheids; unter Abwägung aller Gesichtspunkte überwiege das öffentliche Interesse an der Rücknahme der fehlerhaften Entscheidung. Weiter heißt es in dem Bescheid:
"Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrige Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Nach § 7 Abs. 2 BVG soll eine solche Einflußnahme gerade verhindert werden. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.”
Dieser Bescheid, den der Beklagte zunächst öffentlich hatte zustellen lassen, wurde, nachdem der Beklagte Kenntnis von der neuen Anschrift in Kroatien erhalten hatte, am 5. Mai 1993 erneut an den Kläger abgesandt; der Kläger hat den Zugang des Bescheides unter dem Datum des 12. Mai 1993 bestätigt und zugleich Widerspruch erhoben (Eingang 21. Mai 1993). Zur Begründung des Widerspruchs hat er u.a. ausgeführt, es sei allgemein bekannt, daß in Bosnien und Herzegowina seit 2 Jahren (1992 und 1993) gekämpft werde. Er habe alles verloren; er habe kein Einkommen und in Kroatien, wo er jetzt wohne, könne er überhaupt nichts bekommen. Die Rente aus Deutschland sei seine einzige Hoffnung. Weiter machte der Kläger geltend, daß die Rente, die ihm seit dem 1. Dezember 1988 zustehe, nicht mehr entzogen werden könne, weil seither mehr als zwei Jahre vergangen seien.
Den Widerspruch wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 u.a. mit der Begründung zurück, das Bundessozialgericht habe am 20. Mai 1992 entschieden, daß die Einbeziehung nichtdeutscher Zivilopfer in die deutsche Kriegsopferversorgung über § 8 BVG nicht erlaubt sei, wenn der Geschädigte gegen seinen eigenen Staat einen Versorgungsanspruch habe. In diesen Fällen sei die Gewährung einer Zivilkriegsopferrente nach deutschem Recht zur Vermeidung einer Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG ausdrücklich ausgeschlossen. Aus diesem Grunde sei die Versorgung des Klägers, wie sich nachträglich herausgestellt habe, von Anfang an rechtswidrig gewesen. Wegen der Schutzwürdigkeit seines Vertrauens würden die bis zum Zeitpunkt der Entziehung bereits ausgezahlten Leistungen nicht zurückgefordert. Für die Zukunft überwiege aber das öffentliche Interesse an der Rechtmäßigkeit der Verwaltung und an der Sparsamkeit der Haushaltsführung. Da der Erstanerkennungsbescheid nicht mehr als zwei Jahre zurückliege, seien die Voraussetzungen für die Rücknahme nach § 45 SGB X erfüllt. Weiter heißt es im Widerspruchsbescheid:
"Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.”
Gegen den ihm unter Vermittlung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Z. mittels eingeschriebenen Brief am 7. August 1993 zugegangenen Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 27. September 1993 beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Er hat u.a. geltend gemacht, daß er jetzt als Flüchtling in Kroatien ohne jegliche finanzielle Unterstützung lebe. In den Jahren 1992 und 1993 habe er keine finanzielle Unterstützung erhalten und als Flüchtling in der Republik Kroatien auch keinen Anspruch auf Sozialhilfe gehabt. Nur vom Caritas-Verband erhalte er Hilfe in Form von Lebensmitteln; für Bekleidung, Schuhe und Miete erhalte er keine Zulagen. Er befinde sich in einer schwierigen materiellen Situation, weil er als invalider und älterer Mann auch nicht arbeiten könne, soweit es Arbeit in der Emigration überhaupt gebe. Wegen der Kriegssituation bestehe auch keine Aussicht auf Rückkehr in seine Heimat in Bosnien-Herzegowina.
Durch Urteil vom 28. Oktober 1994 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 aufgehoben und zur Begründung u.a. ausgeführt, der Bescheid sei zwar nicht schon allein deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte die gemäß § 24 SGB X vorgeschriebene Anhörung zwar unterlassen, diese aber im Widerspruchsverfahren wirksam habe nachholen können (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X). Rechtswidrig aber sei der Bescheid, wie auch der Widerspruchsbescheid, weil das vom Beklagten auszuübende Ermessen nicht bzw. nicht in zutreffender Weise ausgeübt worden sei. Auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens habe der Kläger gemäß § 39 Abs. 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB I) einen Anspruch. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe hätten im Rücknahmebescheid selbst dargelegt werden müssen (§ 35 Abs. 1 SGB X), wobei aus dem Inhalt des Rücknahmebescheides und des Widerspruchsbescheides hätte erkennbar sein müssen, daß die Verwaltung eine Ermessensentscheidung habe treffen wollen und getroffen hat und von zutreffenden Ermessenserwägungen unter Berücksichtigung der relevanten individuellen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalles ausgegangen sei. Der Beklagte habe aber weder in dem Rücknahmebescheid noch in dem Widerspruchsbescheid eine auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellte Ermessensentscheidung getroffen. Dies sei hinsichtlich des Rücknahmebescheides schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und der Beklagte folglich mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht habe vornehmen können. Auch die Ausführungen zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheides seien unzureichend, weil dort in formelhafter Ausdrucksweise lediglich darauf hingewiesen worden sei, daß der Kläger in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe, was bei Empfängern von Sozialleistungen vielfach zutreffe. Auch hier sei aber gerade keine auf den Fall des Klägers bezogene Einzelfallentscheidung getroffen worden. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden des Urteils des BSG vom 20. Mai 1992 (Aktenzeichen: 9 a RV 11/91) eine größere Zahl von Verwaltungsverfahren eingeleitet habe, ohne die nach § 24 Abs. 1 SGB X vorgesehene Anhörung durchzuführen. In ca. 300 gleichgelagerten Fällen seien praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen worden, wovon das Sozialgericht aufgrund des ihm bekannten Akteninhalts von ca. 100 vergleichbaren Streitverfahren Kenntnis habe.
Weil der Beklagte keine gleichartigen Verwaltungsakte im Sinne des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGG erlassen habe, hätte er weder von einer Anhörung absehen können noch auf die individuelle Prüfung der Verhältnisse jedes Einzelfalles verzichten dürfen. Es wäre geboten gewesen, eine auf den Einzelfall abgestellte Ermessensprüfung durchzuführen, da die Empfänger von Versorgungsleistungen, die ihren Wohnsitz im Gebiet einer der Teilrepubliken der ehemaligen SFRJ hatten, durch die dort seit Anfang der 90er Jahre herrschenden kriegerischen Auseinandersetzungen in ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen in je unterschiedlicher Weise betroffen gewesen seien. Bei der Rücknahmeentscheidung sei deshalb davon auszugehen gewesen, daß sich auch der Verlust der deutschen Versorgungsleistungen nicht in allen Fällen gleichermaßen auswirken werde.
Die individuelle Ermessensentscheidung sei auch – entgegen der Rechtsprechung des 9. Senats des BSG (Urteil vom 25. Juni 1986 – 9 a RVG 2/84 –) – bei Rückforderungsbescheiden nicht generell "entbehrlich”, weil bei der Anwendung des § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht keine anderen Maßstäbe gelten könnten als in den übrigen Bereichen des Sozialrechts. Im Ergebnis habe deshalb wegen unzureichender Ermessensausübung und -darlegung der Rücknahmebescheid aufgehoben werden müssen.
Gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 6. Januar 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte die am 16. Januar 1995 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung eingelegt. Er vertritt die Auffassung, das Sozialgericht sei von einer falschen Interpretation des § 45 SGB X ausgegangen, weil bei der Rücknahme von Bescheiden nach dieser Vorschrift im Regelfall für die Verwaltung praktisch kein Ermessensspielraum gegeben sei. In einem solchen Regelfall müsse – jedenfalls für die Zukunft – der rechtswidrig begünstigende Bescheid aufgehoben und die Leistung für die Zukunft eingestellt werden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. September 1993 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte sowie auf die B-Akten des Versorgungsamtes Fulda (Archiv-Nr. ), die dem Senat vorliegen und zum Gegenstand der Beratungen gemacht worden sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil beide Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 in Verbindung mit § 153 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und an sich statthaft, weil über die Gewährung von laufenden Versorgungsleistungen für mehr als ein Jahr gestritten wird (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG); die Berufung ist mithin insgesamt zulässig (§§ 143 ff., 144, 151, 153 SGG).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main durch Urteil vom 28. Oktober 1994 den Rücknahmebescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 und den Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 aufgehoben, weil diese Bescheide rechtswidrig sind und den Kläger beschweren.
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat und der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2–4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2 von § 45 SGB X). Auf das Vertrauen kann sich der Begünstigte (nur dann) nicht berufen, soweit
1) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Satz 3 von Abs. 2 § 45 SGB X).
Der dem Kläger Versorgungsleistungen gewährende Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 27. Mai 1991 war rechtswidrig, weil der Kläger gleichzeitig Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat bezogen hat und hierauf grundsätzlich weiter Anspruch hat. Eine solche Doppelversorgung ist nach § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung hierzu entschieden, daß zivilen Kriegsopfern, welche für die im Krieg erlittenen Beschädigungen von ihren Heimatstaaten Leistungen erhalten, keine Versorgungsleistung nach dem BSG (auch nicht gemäß § 8 BVG im Rahmen einer Ermessensentscheidung mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit) gewährt werden dürfen. Dies hatte das BSG zunächst für Kriegsopfer mit Heimatland Frankreich festgestellt, die dort ähnliche Versorgungsleistungen erhielten, wie sie das BVG vorsieht (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 9 RV 188/75 – SozR 2-3100 § 7 BVG Nr. 2). In mehreren weiteren Urteilen hat das BSG sodann entschieden, daß ein solcher Ausschluß von Leistungen nach dem BVG auch dann zu gelten habe, wenn die Versorgungsleistungen des Heimatlandes im Vergleich zur Versorgung nach deutschem Recht erheblich geringer sind (BSG, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und – 12/91 = SozR 3-3100 § 7 BVG Nrn. 1 und 2). Letzteren Entscheidungen lagen solche Fälle zugrunde, bei denen, wie hier, die Kläger Versorgungsleistungen als zivile Kriegsopfer in einem Teilstaat der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) erhielten (vgl. insbesondere BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Dieser Personenkreis hat auch nach dem Zerfall der früheren SFRJ nach dem Recht der nunmehr selbständigen Teilrepubliken – wie dem Senat aus zahlreichen gleichgearteten Fällen bekannt ist – grundsätzlich Anspruch auf eine Rente als ziviles Kriegsopfer. Jedenfalls die Republiken Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina haben insoweit die früher geltenden Rechtsnormen fortbestehen lassen bzw. die Rechtsregeln aus der Zeit des Bestehens der SFRJ übernommen oder in neues Recht umgestaltet. Unerheblich ist dabei, ob diese Nachfolgestaaten der SFRJ – sowohl während des Bürgerkrieges in der früheren SFRJ als auch jetzt nach dessen Ende – tatsächlich die Geldleistungen erbringen, auf die ihre Bürger Anspruch haben. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es hierauf auch nicht an (vgl. BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Ausreichend ist vielmehr, daß die Geschädigten dem Grunde nach einen Anspruch gegenüber ihrem Heimatstaat haben. Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren selbst den Anerkennungsbescheid aus dem Jahre 1976 vorgelegt, wonach feststeht, daß er auch zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides des Versorgungsamtes Fulda vom 27. Mai 1991 dem Grunde nach noch Anspruch auf eine Rente seines Heimatstaates hatte. Da demnach eine Doppelversorgung hätte ausgeschlossen werden müssen, war der Bescheid des Versorgungsamtes vom 27. Mai 1991 rechtswidrig, weshalb der Beklagte grundsätzlich verpflichtet war, ein Verfahren zur Rücknahme dieses Bescheides nach § 45 SGB X einzuleiten.
Der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993 und der Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 sind auch nicht schon deshalb rechtswidrig, weil vor Erlaß des ersten Bescheides keine Anhörung erfolgt ist. Zwar ist nach § 24 Abs. 1 SGB X einem Betroffenen vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in seine Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Von dieser Notwendigkeit der vorherigen Anhörung konnte der Beklagte auch nicht nach § 24 Abs. 2 SGB X absehen, weil insbesondere kein Fall des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vorliegt, wonach die Anhörung unterbleiben kann, wenn "gleichartige Verwaltungsakte größerer Zahl” zu erlassen sind. Der Beklagte hat zwar, wie er selbst vorträgt, in ca. 300 ähnlichen Fällen Rücknahmebescheide erlassen. Gleichwohl liegen keine gleichartigen Verwaltungsakte im Sinne des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vor, weil die Verwaltungsakte nicht aufgrund weniger, typisierter Grundmerkmale formularmäßig ergehen konnten, sondern eingehende individuelle Ermittlungen notwendig waren (vgl. Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – Kommentar, K § 24 SGB X Rdz. 16). Bei Aufhebungsbescheiden, die nach § 45 SGB X ergehen, sind regelmäßig individuelle Ermittlungen und Abwägungen notwendig; dies ergibt sich schon aus dem Gesetzestext. Es kann dahinstehen, ob sich der Beklagte auf § 24 Abs. 2 Nr. 2 SGB X berufen kann, weil nicht festgestellt werden konnte und auch vom Beklagten nicht dargelegt worden ist, weswegen erst im Januar 1993 ein Verwaltungsverfahren zur Rücknahme der Bewilligungsbescheide eingeleitet wurde, obwohl die bereits zuvor bestehende Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 25. November 1976 – SozR 2-3100 § 7 Nr. 2) schon lange vorher hätte bekannt sein müssen und auch die nur klarstellenden Urteile zur Auslandsversorgung von Bürgern der früheren SFRJ bereits am 20. Mai 1992 ergangen waren. Der Beklagte, der selbst Verfahrensbeteiligter der am 20. Mai 1992 ergangenen Entscheidung war, weil er für die Auslandsversorgung auf dem Staatsgebiet der früheren SFRJ zuständig ist, mußte von der Entscheidung vom 20. Mai 1992 und den sie tragenden Gründen bereits innerhalb kurzer Zeit informiert gewesen sein und hätte deshalb die Betroffenen auch vor Erlaß der Rücknahmebescheide anhören können. Jedoch ist der Mangel der unterbliebenen Anhörung gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden, weil dem Kläger im Widerspruchsverfahren Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern. Deshalb kann der Bescheid vom 11. Januar 1993 – in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 – insoweit nicht beanstandet werden.
Im Ergebnis zutreffend hat jedoch das Sozialgericht Frankfurt am Main in seinem Urteil vom 28. Oktober 1994 festgestellt, daß der angefochtene Rücknahmebescheid wie auch der Widerspruchsbescheid rechtswidrig sind, weil der Beklagte das nach § 45 Abs. 1 SGB X ihm eingeräumte Ermessen nicht in rechtlich einwandfreier Form ausgeübt hat (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Grundsätzlich ist es dem Gericht verwehrt, Ermessensfragen zu prüfen, bevor die richterlich voll nachprüfbaren Voraussetzungen für das Vorliegen bzw. den Wegfall eines Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 1 in Verbindung mit den Abs. 2–4 SGB X erörtert worden sind (vgl. hierzu BSG, SozR 2 1300 § 45 SGB X Nr. 20). In besonders gelagerten Einzelfällen kann es aber aus prozeßökonomischen Gründen geboten sein, die Sachgerechtigkeit der Ermessensausübung vorab zu prüfen (vgl. Grüner, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – SGB X –, Kommentar, § 45 Erläuterung III. 7). Solche prozeßökonomischen Gründe sind hier gegeben. Zwar kann im Hinblick auf die Daten des Erlasses des Erstanerkennungsbescheides (27.05.1991) davon ausgegangen werden, daß der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993, dessen Erlaß der Kläger im Widerspruchsschreiben vom 12. Mai 1993 bestätigt hat, noch in der dem Beklagten nach § 45 Abs. 3 SGB X eingeräumten Frist von zwei Jahren zugegangen ist. Jede weitere Sachaufklärung aber ist schon allein dadurch erschwert, daß der Schriftverkehr mit dem Kläger ins fremdsprachige Ausland geführt werden muß und genaue Antragen und Auskünfte nur zu erhalten sind, wenn die entsprechenden Schriftstücke ins Kroatische übersetzt werden. Auch die Anhörung des Klägers zu seinen individuellen Lebensumständen, die im Rahmen einer Prüfung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB X erforderlich ist, kann nur über den Dolmetscher erfolgen.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X aber "darf” jedoch ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen.
Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 = SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III. 7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche, für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgeblichen Tatsachen (Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3 1300 § 50 Nr. 16 einerseits und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93).
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates – wie dies vom Beklagten zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf Null eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9 a RVg 2/94 – BSGE 60, 147 ff.). Begründet wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht (KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung der Verfahrensrechte und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel. Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in § 45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel –, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senat des BSG noch ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf "Null” kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG, Urteil vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 – und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und – 345/95 –).
Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt, bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, Ermessen auszuüben. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnrn. 25, 30). Von Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind, verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die eine sorgfältige und differenzierte Ermittlung erforderlich machten und – nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen. Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung als Kriegsflüchtling in einer der Teilrepubliken der ehemaligen SFRJ, in der Krieg herrschte. Die Auszahlung der über die Zentralbank in Belgrad angewiesenen Versorgungsleistungen aus Deutschland war seit Mai 1992 unterbrochen. Der Kläger war erneut, wie schon als Kind, unmittelbar von Kriegsereignissen betroffen und nunmehr vor den teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien in Bosnien-Herzegowina nach Kroatien geflohen. Zur Überzeugung des Senates durfte der Beklagte die zum Zeitpunkt des Erlasses des Rücknahmebescheides und auch des Widerspruchsbescheides in Kroatien herrschenden Kriegsereignisse und die aufs äußerste angespannte und bedrohte wirtschaftliche Existenz des von Leistungen nach dem BVG – wenn auch rechtswidrig – Begünstigten nicht außer Acht lassen. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend hält, um zusätzliche weitere Ermessenserwägungen anzustellen, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar dem Vorbringen des Klägers weiter nachgegangen, daß sich dessen Lebensumstände seit Erlaß des Bescheides im Jahre 1991 drastisch verschlechtert hatten. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte weiteren, besonderen Härtegesichtspunkten nicht nachgegangen ist, und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar, Steinwedel a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich zu machen, sieht aber § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt – das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300 a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation, unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein rechtfertigen, von einer besonderen Härte auszugehen. Das Vorliegen solcher Gesichtspunkte hat die Verwaltung im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O., § 45 SGB X, Erl. III/7.). Ermessensentscheidungen – insbesondere dann, wenn Anlaß für die Einbeziehung von Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfall-Entscheidungen zu treffen, die auf jede Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993, in dem der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter, leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der im Kriegsgebiet der ehemaligen SFRJ lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind. Zwar ist für den Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten gegenüber einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten, um ergänzende Textteile einzufügen, in denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides miteinbezogen werden können. Der Kläger war – wenn er sich auch nicht mehr im unmittelbaren Kampfgebiet aufhielt – zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen und zur Flucht gezwungen worden. Er hat sich ausdrücklich darauf berufen, daß sich seine Lebensumstände seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre 1991 drastisch verschlechtert haben und er praktisch alles verloren habe. Insoweit war erkennbar, daß der Kläger, der trotz der schwerwiegenden, bereits im Kindesalter erlittenen Beschädigung einen Beruf erlernt und ausgeübt hat, nunmehr gezwungen worden war, ohne Einkünfte in einem fremden Land zu wohnen und ohne eine Rente in Anspruch nehmen zu können. Solche Umstände hätten zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hat. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob eine solche Entscheidung richtig gewesen wäre und hätte ergehen können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt oder geprüft, noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die schriftliche Begründung der Bescheide aufgenommen hat.
Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu diskutierenden Umstände hätte kein Verzicht auf die Rücknahme erfolgen können, wird zur Überzeugung des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtsprechung kann aber im gerichtlichen Klage- und Berufungsverfahren, das den angegriffenen Rücknahmebescheid und den Widerspruchsbescheid zum Gegenstand hat, die Ermessensprüfung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X).
Der 1936 geborene Kläger stammt aus der Teilrepublik Bosnien-Herzegowina (BiH) der früheren Sozialistischen Föderativen Republik (SFRJ) Jugoslawien. Er lebte zuletzt in T./BiH und nahm während des Krieges in der ehemaligen SFRJ seinen Wohnsitz in P. in der Republik Kroatien.
Der Kläger wurde im Herbst 1944 als seinerzeit achtjähriges Kind bei der Explosion einer im Kampfgebiet des 2. Weltkrieges in S. bei B. zurückgebliebenen Bombe schwer verletzt, weshalb die rechte Hand amputiert werden mußte. Durch Bescheid vom 28. Mai 1976 wurde er in seinem Heimatstaat, der seinerzeitigen Sozialistischen Republik Bosnien-Herzegowina (BiH) nach Maßgabe der dort und in der früheren SFRJ geltenden Gesetze als ziviles Kriegsopfer anerkannt und erhielt ab 1. Juli 1975 eine Rente nach einem Behinderungsgrad von 70 v.H ... Zwischen 1978 und 1984 absolvierte der Kläger neben seiner Berufstätigkeit eine Ausbildung zum Diplom-Juristen. Zuletzt war er in T. in leitender Stellung tätig.
Am 5. Dezember 1988 stellte er erstmals Antrag auf Gewährung von Entschädigungsleistungen nach dem BVG und legte neben medizinischen und anderen Dokumenten auch den Bescheid vom 28. Mai 1976 über die Anerkennung als Zivilkriegsopfer vor und gab an, 1944 durch zurückgebliebenes Kriegsmaterial verletzt worden zu sein.
Nach weiteren Ermittlungen zum schädigenden Ereignis, zum Kriegsverlauf in der Nähe von S. bei B. in der Endphase des 2. Weltkrieges sowie über das Ausmaß der beim Kläger bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen erkannte durch Bescheid vom 27. Mai 1991 das Versorgungsamt die vom Kläger geltend gemachte Gesundheitsstörung ("Amputation der rechten Hand”) als Schädigungsfolge im Sinne des BVG mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v.H. an. Der Beklagte bewilligte dem Kläger unter Berufung auf § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG als sog. "Kannleistung” Beschädigtenversorgung ab dem 1. Dezember 1988. Die Versorgungsrente wurde bis einschließlich Mai 1992 nach T., BiH, ausgezahlt. Im Mai 1992 mußte der Kläger infolge der Kriegsereignisse in den Teilrepubliken der früheren SFRJ seine Heimatstadt verlassen und nach P. in Kroatien fliehen, wo er ohne Einkünfte und ohne Erwerbsmöglichkeit lediglich auf die Gewährung von Flüchtlingsunterstützung angewiesen war. Dies teilte er dem Beklagten erstmals mit Schreiben vom 4. April 1993 mit, indem er darum bat, die Versorgungsbezüge nunmehr auf ein neues Devisenkonto nach P. in Kroatien zu überweisen.
Mit Bescheid vom 13. Januar 1993 nahm der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 27. Mai 1991 ohne vorherige Anhörung des Klägers unter Berufung auf § 45 SGB X mit der Begründung zurück, der Bescheid vom 27. Mai 1991 sei rechtswidrig gewesen, weil gemäß § 7 Abs. 2 BVG das BVG nicht auf Kriegsopfer anzuwenden sei, die aus derselben Ursache Anspruch auf Versorgung gegen einen anderen Staat hätten. Zu Gunsten der Interessen des Klägers sei berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in den Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung falle. Hieraus ergebe sich jedoch nicht die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers in den Bestand des Bescheids; unter Abwägung aller Gesichtspunkte überwiege das öffentliche Interesse an der Rücknahme der fehlerhaften Entscheidung. Weiter heißt es in dem Bescheid:
"Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrige Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Nach § 7 Abs. 2 BVG soll eine solche Einflußnahme gerade verhindert werden. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.”
Dieser Bescheid, den der Beklagte zunächst öffentlich hatte zustellen lassen, wurde, nachdem der Beklagte Kenntnis von der neuen Anschrift in Kroatien erhalten hatte, am 5. Mai 1993 erneut an den Kläger abgesandt; der Kläger hat den Zugang des Bescheides unter dem Datum des 12. Mai 1993 bestätigt und zugleich Widerspruch erhoben (Eingang 21. Mai 1993). Zur Begründung des Widerspruchs hat er u.a. ausgeführt, es sei allgemein bekannt, daß in Bosnien und Herzegowina seit 2 Jahren (1992 und 1993) gekämpft werde. Er habe alles verloren; er habe kein Einkommen und in Kroatien, wo er jetzt wohne, könne er überhaupt nichts bekommen. Die Rente aus Deutschland sei seine einzige Hoffnung. Weiter machte der Kläger geltend, daß die Rente, die ihm seit dem 1. Dezember 1988 zustehe, nicht mehr entzogen werden könne, weil seither mehr als zwei Jahre vergangen seien.
Den Widerspruch wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 u.a. mit der Begründung zurück, das Bundessozialgericht habe am 20. Mai 1992 entschieden, daß die Einbeziehung nichtdeutscher Zivilopfer in die deutsche Kriegsopferversorgung über § 8 BVG nicht erlaubt sei, wenn der Geschädigte gegen seinen eigenen Staat einen Versorgungsanspruch habe. In diesen Fällen sei die Gewährung einer Zivilkriegsopferrente nach deutschem Recht zur Vermeidung einer Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG ausdrücklich ausgeschlossen. Aus diesem Grunde sei die Versorgung des Klägers, wie sich nachträglich herausgestellt habe, von Anfang an rechtswidrig gewesen. Wegen der Schutzwürdigkeit seines Vertrauens würden die bis zum Zeitpunkt der Entziehung bereits ausgezahlten Leistungen nicht zurückgefordert. Für die Zukunft überwiege aber das öffentliche Interesse an der Rechtmäßigkeit der Verwaltung und an der Sparsamkeit der Haushaltsführung. Da der Erstanerkennungsbescheid nicht mehr als zwei Jahre zurückliege, seien die Voraussetzungen für die Rücknahme nach § 45 SGB X erfüllt. Weiter heißt es im Widerspruchsbescheid:
"Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.”
Gegen den ihm unter Vermittlung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Z. mittels eingeschriebenen Brief am 7. August 1993 zugegangenen Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 27. September 1993 beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Er hat u.a. geltend gemacht, daß er jetzt als Flüchtling in Kroatien ohne jegliche finanzielle Unterstützung lebe. In den Jahren 1992 und 1993 habe er keine finanzielle Unterstützung erhalten und als Flüchtling in der Republik Kroatien auch keinen Anspruch auf Sozialhilfe gehabt. Nur vom Caritas-Verband erhalte er Hilfe in Form von Lebensmitteln; für Bekleidung, Schuhe und Miete erhalte er keine Zulagen. Er befinde sich in einer schwierigen materiellen Situation, weil er als invalider und älterer Mann auch nicht arbeiten könne, soweit es Arbeit in der Emigration überhaupt gebe. Wegen der Kriegssituation bestehe auch keine Aussicht auf Rückkehr in seine Heimat in Bosnien-Herzegowina.
Durch Urteil vom 28. Oktober 1994 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 aufgehoben und zur Begründung u.a. ausgeführt, der Bescheid sei zwar nicht schon allein deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte die gemäß § 24 SGB X vorgeschriebene Anhörung zwar unterlassen, diese aber im Widerspruchsverfahren wirksam habe nachholen können (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X). Rechtswidrig aber sei der Bescheid, wie auch der Widerspruchsbescheid, weil das vom Beklagten auszuübende Ermessen nicht bzw. nicht in zutreffender Weise ausgeübt worden sei. Auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens habe der Kläger gemäß § 39 Abs. 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB I) einen Anspruch. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe hätten im Rücknahmebescheid selbst dargelegt werden müssen (§ 35 Abs. 1 SGB X), wobei aus dem Inhalt des Rücknahmebescheides und des Widerspruchsbescheides hätte erkennbar sein müssen, daß die Verwaltung eine Ermessensentscheidung habe treffen wollen und getroffen hat und von zutreffenden Ermessenserwägungen unter Berücksichtigung der relevanten individuellen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalles ausgegangen sei. Der Beklagte habe aber weder in dem Rücknahmebescheid noch in dem Widerspruchsbescheid eine auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellte Ermessensentscheidung getroffen. Dies sei hinsichtlich des Rücknahmebescheides schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und der Beklagte folglich mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht habe vornehmen können. Auch die Ausführungen zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheides seien unzureichend, weil dort in formelhafter Ausdrucksweise lediglich darauf hingewiesen worden sei, daß der Kläger in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe, was bei Empfängern von Sozialleistungen vielfach zutreffe. Auch hier sei aber gerade keine auf den Fall des Klägers bezogene Einzelfallentscheidung getroffen worden. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden des Urteils des BSG vom 20. Mai 1992 (Aktenzeichen: 9 a RV 11/91) eine größere Zahl von Verwaltungsverfahren eingeleitet habe, ohne die nach § 24 Abs. 1 SGB X vorgesehene Anhörung durchzuführen. In ca. 300 gleichgelagerten Fällen seien praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen worden, wovon das Sozialgericht aufgrund des ihm bekannten Akteninhalts von ca. 100 vergleichbaren Streitverfahren Kenntnis habe.
Weil der Beklagte keine gleichartigen Verwaltungsakte im Sinne des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGG erlassen habe, hätte er weder von einer Anhörung absehen können noch auf die individuelle Prüfung der Verhältnisse jedes Einzelfalles verzichten dürfen. Es wäre geboten gewesen, eine auf den Einzelfall abgestellte Ermessensprüfung durchzuführen, da die Empfänger von Versorgungsleistungen, die ihren Wohnsitz im Gebiet einer der Teilrepubliken der ehemaligen SFRJ hatten, durch die dort seit Anfang der 90er Jahre herrschenden kriegerischen Auseinandersetzungen in ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen in je unterschiedlicher Weise betroffen gewesen seien. Bei der Rücknahmeentscheidung sei deshalb davon auszugehen gewesen, daß sich auch der Verlust der deutschen Versorgungsleistungen nicht in allen Fällen gleichermaßen auswirken werde.
Die individuelle Ermessensentscheidung sei auch – entgegen der Rechtsprechung des 9. Senats des BSG (Urteil vom 25. Juni 1986 – 9 a RVG 2/84 –) – bei Rückforderungsbescheiden nicht generell "entbehrlich”, weil bei der Anwendung des § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht keine anderen Maßstäbe gelten könnten als in den übrigen Bereichen des Sozialrechts. Im Ergebnis habe deshalb wegen unzureichender Ermessensausübung und -darlegung der Rücknahmebescheid aufgehoben werden müssen.
Gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 6. Januar 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte die am 16. Januar 1995 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung eingelegt. Er vertritt die Auffassung, das Sozialgericht sei von einer falschen Interpretation des § 45 SGB X ausgegangen, weil bei der Rücknahme von Bescheiden nach dieser Vorschrift im Regelfall für die Verwaltung praktisch kein Ermessensspielraum gegeben sei. In einem solchen Regelfall müsse – jedenfalls für die Zukunft – der rechtswidrig begünstigende Bescheid aufgehoben und die Leistung für die Zukunft eingestellt werden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. September 1993 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte sowie auf die B-Akten des Versorgungsamtes Fulda (Archiv-Nr. ), die dem Senat vorliegen und zum Gegenstand der Beratungen gemacht worden sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil beide Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 in Verbindung mit § 153 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und an sich statthaft, weil über die Gewährung von laufenden Versorgungsleistungen für mehr als ein Jahr gestritten wird (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG); die Berufung ist mithin insgesamt zulässig (§§ 143 ff., 144, 151, 153 SGG).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main durch Urteil vom 28. Oktober 1994 den Rücknahmebescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 und den Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 aufgehoben, weil diese Bescheide rechtswidrig sind und den Kläger beschweren.
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat und der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2–4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2 von § 45 SGB X). Auf das Vertrauen kann sich der Begünstigte (nur dann) nicht berufen, soweit
1) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Satz 3 von Abs. 2 § 45 SGB X).
Der dem Kläger Versorgungsleistungen gewährende Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 27. Mai 1991 war rechtswidrig, weil der Kläger gleichzeitig Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat bezogen hat und hierauf grundsätzlich weiter Anspruch hat. Eine solche Doppelversorgung ist nach § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung hierzu entschieden, daß zivilen Kriegsopfern, welche für die im Krieg erlittenen Beschädigungen von ihren Heimatstaaten Leistungen erhalten, keine Versorgungsleistung nach dem BSG (auch nicht gemäß § 8 BVG im Rahmen einer Ermessensentscheidung mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit) gewährt werden dürfen. Dies hatte das BSG zunächst für Kriegsopfer mit Heimatland Frankreich festgestellt, die dort ähnliche Versorgungsleistungen erhielten, wie sie das BVG vorsieht (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 9 RV 188/75 – SozR 2-3100 § 7 BVG Nr. 2). In mehreren weiteren Urteilen hat das BSG sodann entschieden, daß ein solcher Ausschluß von Leistungen nach dem BVG auch dann zu gelten habe, wenn die Versorgungsleistungen des Heimatlandes im Vergleich zur Versorgung nach deutschem Recht erheblich geringer sind (BSG, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und – 12/91 = SozR 3-3100 § 7 BVG Nrn. 1 und 2). Letzteren Entscheidungen lagen solche Fälle zugrunde, bei denen, wie hier, die Kläger Versorgungsleistungen als zivile Kriegsopfer in einem Teilstaat der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) erhielten (vgl. insbesondere BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Dieser Personenkreis hat auch nach dem Zerfall der früheren SFRJ nach dem Recht der nunmehr selbständigen Teilrepubliken – wie dem Senat aus zahlreichen gleichgearteten Fällen bekannt ist – grundsätzlich Anspruch auf eine Rente als ziviles Kriegsopfer. Jedenfalls die Republiken Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina haben insoweit die früher geltenden Rechtsnormen fortbestehen lassen bzw. die Rechtsregeln aus der Zeit des Bestehens der SFRJ übernommen oder in neues Recht umgestaltet. Unerheblich ist dabei, ob diese Nachfolgestaaten der SFRJ – sowohl während des Bürgerkrieges in der früheren SFRJ als auch jetzt nach dessen Ende – tatsächlich die Geldleistungen erbringen, auf die ihre Bürger Anspruch haben. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es hierauf auch nicht an (vgl. BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Ausreichend ist vielmehr, daß die Geschädigten dem Grunde nach einen Anspruch gegenüber ihrem Heimatstaat haben. Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren selbst den Anerkennungsbescheid aus dem Jahre 1976 vorgelegt, wonach feststeht, daß er auch zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides des Versorgungsamtes Fulda vom 27. Mai 1991 dem Grunde nach noch Anspruch auf eine Rente seines Heimatstaates hatte. Da demnach eine Doppelversorgung hätte ausgeschlossen werden müssen, war der Bescheid des Versorgungsamtes vom 27. Mai 1991 rechtswidrig, weshalb der Beklagte grundsätzlich verpflichtet war, ein Verfahren zur Rücknahme dieses Bescheides nach § 45 SGB X einzuleiten.
Der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993 und der Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 sind auch nicht schon deshalb rechtswidrig, weil vor Erlaß des ersten Bescheides keine Anhörung erfolgt ist. Zwar ist nach § 24 Abs. 1 SGB X einem Betroffenen vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in seine Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Von dieser Notwendigkeit der vorherigen Anhörung konnte der Beklagte auch nicht nach § 24 Abs. 2 SGB X absehen, weil insbesondere kein Fall des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vorliegt, wonach die Anhörung unterbleiben kann, wenn "gleichartige Verwaltungsakte größerer Zahl” zu erlassen sind. Der Beklagte hat zwar, wie er selbst vorträgt, in ca. 300 ähnlichen Fällen Rücknahmebescheide erlassen. Gleichwohl liegen keine gleichartigen Verwaltungsakte im Sinne des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vor, weil die Verwaltungsakte nicht aufgrund weniger, typisierter Grundmerkmale formularmäßig ergehen konnten, sondern eingehende individuelle Ermittlungen notwendig waren (vgl. Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – Kommentar, K § 24 SGB X Rdz. 16). Bei Aufhebungsbescheiden, die nach § 45 SGB X ergehen, sind regelmäßig individuelle Ermittlungen und Abwägungen notwendig; dies ergibt sich schon aus dem Gesetzestext. Es kann dahinstehen, ob sich der Beklagte auf § 24 Abs. 2 Nr. 2 SGB X berufen kann, weil nicht festgestellt werden konnte und auch vom Beklagten nicht dargelegt worden ist, weswegen erst im Januar 1993 ein Verwaltungsverfahren zur Rücknahme der Bewilligungsbescheide eingeleitet wurde, obwohl die bereits zuvor bestehende Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 25. November 1976 – SozR 2-3100 § 7 Nr. 2) schon lange vorher hätte bekannt sein müssen und auch die nur klarstellenden Urteile zur Auslandsversorgung von Bürgern der früheren SFRJ bereits am 20. Mai 1992 ergangen waren. Der Beklagte, der selbst Verfahrensbeteiligter der am 20. Mai 1992 ergangenen Entscheidung war, weil er für die Auslandsversorgung auf dem Staatsgebiet der früheren SFRJ zuständig ist, mußte von der Entscheidung vom 20. Mai 1992 und den sie tragenden Gründen bereits innerhalb kurzer Zeit informiert gewesen sein und hätte deshalb die Betroffenen auch vor Erlaß der Rücknahmebescheide anhören können. Jedoch ist der Mangel der unterbliebenen Anhörung gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden, weil dem Kläger im Widerspruchsverfahren Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern. Deshalb kann der Bescheid vom 11. Januar 1993 – in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 – insoweit nicht beanstandet werden.
Im Ergebnis zutreffend hat jedoch das Sozialgericht Frankfurt am Main in seinem Urteil vom 28. Oktober 1994 festgestellt, daß der angefochtene Rücknahmebescheid wie auch der Widerspruchsbescheid rechtswidrig sind, weil der Beklagte das nach § 45 Abs. 1 SGB X ihm eingeräumte Ermessen nicht in rechtlich einwandfreier Form ausgeübt hat (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Grundsätzlich ist es dem Gericht verwehrt, Ermessensfragen zu prüfen, bevor die richterlich voll nachprüfbaren Voraussetzungen für das Vorliegen bzw. den Wegfall eines Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 1 in Verbindung mit den Abs. 2–4 SGB X erörtert worden sind (vgl. hierzu BSG, SozR 2 1300 § 45 SGB X Nr. 20). In besonders gelagerten Einzelfällen kann es aber aus prozeßökonomischen Gründen geboten sein, die Sachgerechtigkeit der Ermessensausübung vorab zu prüfen (vgl. Grüner, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – SGB X –, Kommentar, § 45 Erläuterung III. 7). Solche prozeßökonomischen Gründe sind hier gegeben. Zwar kann im Hinblick auf die Daten des Erlasses des Erstanerkennungsbescheides (27.05.1991) davon ausgegangen werden, daß der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993, dessen Erlaß der Kläger im Widerspruchsschreiben vom 12. Mai 1993 bestätigt hat, noch in der dem Beklagten nach § 45 Abs. 3 SGB X eingeräumten Frist von zwei Jahren zugegangen ist. Jede weitere Sachaufklärung aber ist schon allein dadurch erschwert, daß der Schriftverkehr mit dem Kläger ins fremdsprachige Ausland geführt werden muß und genaue Antragen und Auskünfte nur zu erhalten sind, wenn die entsprechenden Schriftstücke ins Kroatische übersetzt werden. Auch die Anhörung des Klägers zu seinen individuellen Lebensumständen, die im Rahmen einer Prüfung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB X erforderlich ist, kann nur über den Dolmetscher erfolgen.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X aber "darf” jedoch ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen.
Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 = SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III. 7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche, für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgeblichen Tatsachen (Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3 1300 § 50 Nr. 16 einerseits und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93).
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates – wie dies vom Beklagten zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf Null eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9 a RVg 2/94 – BSGE 60, 147 ff.). Begründet wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht (KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung der Verfahrensrechte und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel. Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in § 45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel –, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senat des BSG noch ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf "Null” kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG, Urteil vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 – und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und – 345/95 –).
Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt, bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, Ermessen auszuüben. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnrn. 25, 30). Von Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind, verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die eine sorgfältige und differenzierte Ermittlung erforderlich machten und – nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen. Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung als Kriegsflüchtling in einer der Teilrepubliken der ehemaligen SFRJ, in der Krieg herrschte. Die Auszahlung der über die Zentralbank in Belgrad angewiesenen Versorgungsleistungen aus Deutschland war seit Mai 1992 unterbrochen. Der Kläger war erneut, wie schon als Kind, unmittelbar von Kriegsereignissen betroffen und nunmehr vor den teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien in Bosnien-Herzegowina nach Kroatien geflohen. Zur Überzeugung des Senates durfte der Beklagte die zum Zeitpunkt des Erlasses des Rücknahmebescheides und auch des Widerspruchsbescheides in Kroatien herrschenden Kriegsereignisse und die aufs äußerste angespannte und bedrohte wirtschaftliche Existenz des von Leistungen nach dem BVG – wenn auch rechtswidrig – Begünstigten nicht außer Acht lassen. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend hält, um zusätzliche weitere Ermessenserwägungen anzustellen, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar dem Vorbringen des Klägers weiter nachgegangen, daß sich dessen Lebensumstände seit Erlaß des Bescheides im Jahre 1991 drastisch verschlechtert hatten. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte weiteren, besonderen Härtegesichtspunkten nicht nachgegangen ist, und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar, Steinwedel a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich zu machen, sieht aber § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt – das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300 a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation, unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein rechtfertigen, von einer besonderen Härte auszugehen. Das Vorliegen solcher Gesichtspunkte hat die Verwaltung im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O., § 45 SGB X, Erl. III/7.). Ermessensentscheidungen – insbesondere dann, wenn Anlaß für die Einbeziehung von Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfall-Entscheidungen zu treffen, die auf jede Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993, in dem der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter, leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der im Kriegsgebiet der ehemaligen SFRJ lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind. Zwar ist für den Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten gegenüber einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten, um ergänzende Textteile einzufügen, in denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides miteinbezogen werden können. Der Kläger war – wenn er sich auch nicht mehr im unmittelbaren Kampfgebiet aufhielt – zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen und zur Flucht gezwungen worden. Er hat sich ausdrücklich darauf berufen, daß sich seine Lebensumstände seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre 1991 drastisch verschlechtert haben und er praktisch alles verloren habe. Insoweit war erkennbar, daß der Kläger, der trotz der schwerwiegenden, bereits im Kindesalter erlittenen Beschädigung einen Beruf erlernt und ausgeübt hat, nunmehr gezwungen worden war, ohne Einkünfte in einem fremden Land zu wohnen und ohne eine Rente in Anspruch nehmen zu können. Solche Umstände hätten zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hat. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob eine solche Entscheidung richtig gewesen wäre und hätte ergehen können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt oder geprüft, noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die schriftliche Begründung der Bescheide aufgenommen hat.
Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu diskutierenden Umstände hätte kein Verzicht auf die Rücknahme erfolgen können, wird zur Überzeugung des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtsprechung kann aber im gerichtlichen Klage- und Berufungsverfahren, das den angegriffenen Rücknahmebescheid und den Widerspruchsbescheid zum Gegenstand hat, die Ermessensprüfung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
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