L 13 AS 3945/08 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 4 AS 2650/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AS 3945/08 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 15. August 2008 wird aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage vor dem Sozialgericht Mannheim (S 4 AS 2770/08) gegen den Bescheid vom 23. Juni 2008 und den Widerspruchsbescheid vom 11. August 2008 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin erstattet der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen.

Gründe:

Die nach § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beim Sozialgericht (SG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig; insbesondere ist sie selbst bei Anwendung des ab 1. April 2008 geltenden Verfahrensrechts statthaft. § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG in der ab 1. April 2008 geltenden Fassung (BGBl. I S. 444) regelt den Ausschluss der Beschwerde in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre. Der Beschwerdewert übersteigt vorliegend jedoch EUR 750, - (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG n.F.). Die Beschwerde ist auch begründet.

Der Antrag der Antragstellerin ist, entgegen der Ansicht des SG, als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG der gegen den Bescheid vom 23. Juni 2008 und den Widerspruchsbescheid vom 11. August 2008 erhobenen Klage (S 4 AS 2770/08) zu werten; der angefochtene Bescheid ist auch nicht bindend geworden. Denn er ist mit dem als Widerspruch zu wertenden Schreiben vom 5. Juli 2008, Eingang bei der Antragsgegnerin am 15. Juli 2008, fristgerecht angefochten worden. Die Antragstellerin begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die Absenkung einer bereits bewilligten Leistung von Arbeitslosengeld II (Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Klage entfaltet nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Statthaft ist daher im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. April 2006 - L 7 AS 1196/06 ER-B - info also 2006, 1328).

Bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG, in denen wie hier der Rechtsbehelf von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung hat, ist diese Entscheidung des Gesetzgebers, den abstrakten öffentlichen Interessen den Vorrang einzuräumen, zu beachten. In analoger Anwendung des § 86a Abs. 3 S. 2 SGG sind Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zugunsten des Antragstellers nur zu berücksichtigen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen, der Erfolg in der Hauptsache also überwiegend wahrscheinlich ist (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Juli 2006 - L 13 AS 1709/06 ER-B - (juris)). Wegen des grundrechtlichen Gewichts der Leistungen nach dem SGB II, die die Menschenwürde des Empfängers sichern sollen, muss hier im Rahmen der Abwägungsentscheidung die gesetzgeberische Wertung für die sofortige Vollziehbarkeit im Einzelfall zurücktreten, auch wenn keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen (BVerfG NVwZ 2005, 927 zum Maßstab bei der einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG). Dabei kommt es darauf an, ob die Leistung vollständig oder zu einem erheblichen Teil entzogen wird oder nur geringfügige Einschränkungen vorgenommen werden (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. April 2008 - L 7 AS 1161/08 ER-B).

Der Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes, eine nur vorläufige Regelung bis zur endgültigen Hauptsacheentscheidung zu treffen, sowie die nur geringe für die Entscheidung zur Verfügung stehende Zeit bedingen, dass nur eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage durchzuführen ist. Drohen jedoch nicht nur erhebliche, sondern schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, scheidet eine summarische Prüfung aus. Ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich, ist in solchen Fällen eine Entscheidung allein anhand einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung zu treffen (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. April 2006 a.a.O.; BVerfG a.a.O.).

Nach diesen Grundsätzen ist im vorliegenden Fall die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, denn der Bescheid vom 23. Juni 2008 erweist sich nach der hier vorzunehmenden summarischen Prüfung bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen als derzeit offensichtlich rechtswidrig. Es handelt sich um einen belastenden Verwaltungsakt vor dessen Bekanntgabe die Antragsgegnerin verpflichtet gewesen wäre, die Antragstellerin anzuhören (§ 24 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)). Ein Ausnahmefall des Abs. 2 dieser Vorschrift liegt nicht vor. Die Anhörung ist ferner im Verlauf des Widerspruchsverfahrens nicht nachgeholt worden (vgl. § 41 Abs. 2 SGB X), da die Antragsgegnerin den Widerspruch (zu Unrecht) als unzulässig verworfen hat. Angesichts dieser Sachlage erweist sich die Anfechtungsklage unter Zugrundelegung des derzeitigen Sach- und Streitstands als zulässig und begründet, weshalb dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin der Vorzug einzuräumen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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