L 5 V 331/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 3063/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 331/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. Januar 1995 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X).

Der 1933 geborene Kläger ist in der früheren Teilrepublik der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) Bosnien-Herzegowina (BiH) aufgewachsen und hat seinen Wohnsitz nunmehr in der Republik Kroatien. Der Kläger wurde als 10jähriges Kind am 6. April 1944 bei einem Luftangriff auf die Baustelle des Flughafens Z. bei B.-L. (BiH) schwer verletzt. Er ist deshalb seit Juli 1975 in Kroatien als ziviles Kriegsopfer anerkannt und bezieht Rente.

Erstmals am 12. Oktober 1989 beantragte er beim Versorgungsamt Fulda die Gewährung von Beschädigtenrente und gab an, während des 2. Weltkrieges für Offiziere auf dem im Bau befindlichen Flugplatz Z. tätig gewesen und bei einem Luftangriff schwer geschädigt worden zu sein. Ihm habe der linke Arm im Oberarm amputiert werden müssen. Wegen dieser Schädigung erhalte er seit 1975 in Kroatien eine Rente als ziviles Kriegsopfer, wobei zunächst eine Invalidität von 90 % und ab Mai 1979 (Bescheid vom 21. Mai 1979) eine Invalidität von 100 % angenommen wurde. Der Kläger legte den Bescheid vom 21. Mai 1979 und den Zahlungsnachweis über die ihm gewährte Rente vom 22. November 1989 sowie ärztliche Unterlagen, Zeugenaussagen und Bescheinigungen vor. Nach weiteren Ermittlungen und aktenmäßigen ärztlichen Äußerungen des HNO-Arztes Dr. Z. (vom 18. Februar 1991) und des Chirurgen Dr. (vom 12. März 1991) erkannte das Versorgungsamt Fulda mit Bescheid vom 19. Juni 1991 die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen ("Verlust des linken Armes im Oberarm; Schwerhörigkeit links nach Bombenexplosion; Narbe in der linken Oberschenkel-Gesäßgegend”) als Schädigungsfolgen an mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. und gewährte ab 1. September 1991 Beschädigtenversorgung in Höhe von DM 290,–/Monat. Durch Bescheid vom 3. Juni 1992 wurde die Zahlung gemäß dem 20. KOV-Anpassungsgesetz nach § 48 SGB X auf 299,–/Monat erhöht. In dem die Beschädigtenrente bewilligenden Bescheid wurde zur Begründung u.a. ausgeführt, daß die Leistung als sog. "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG zuerkannt werde.

Diesen Bescheid nahm das Versorgungsamt Fulda ohne vorherige Anhörung des Klägers durch Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Bewilligungsbescheid sei rechtswidrig gewesen, da der Kläger wegen derselben Ursache einen Anspruch auf Rente als ziviles Kriegsopfer gegenüber seinem Heimatstaat habe. Gemäß § 7 Abs. 2 BVG aber sei eine Doppelversorgung ausgeschlossen, was bei Erteilung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nicht beachtet worden sei, weshalb dieser Bescheid rechtswidrig gewesen sei. Seine Rücknahme setze zwar voraus, daß das Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Vorteils nicht höher zu bewerten sei, als das öffentliche Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Aufhebung eines rechtswidrigen Bescheides. Die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides sei aber aus öffentlichem Interesse geboten. Es sei zugunsten der Interessen des Klägers berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein im Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung liege. Hieraus allein ergebe sich jedoch noch nicht die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers in den Bestand des Bescheides. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung im Heimatstaat könne nicht zu einer Ausübung des Ermessens zugunsten des Klägers führen, weil deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Klägers haben könnten.

Gegen den am 11. Januar 1993 mit einfachem Brief abgesandten Bescheid hat für den Kläger die beeidigte Dolmetscherin und zugleich von ihm bevollmächtigte (Vollmacht und Beglaubigung vom 10. April 1993) Rechtsanwältin Frau V. V. den am 17. April 1993 eingegangenen Widerspruch erhoben. Darin wird u.a. geltend gemacht, daß sich seit Erlaß des Bewilligungsbescheides der Gesundheitszustand des Klägers in Folge der Verwundung aus dem 2. Weltkrieg wesentlich verschlechtert habe. Weiter hat der Kläger geltend gemacht, "als deutscher Soldat” für deutsche Offiziere am Bauplatz des Flughafens Z. tätig gewesen zu sein. Für evtl. Fehler der deutschen Behörden bei der Erteilung des Bewilligungsbescheides und für ihn nachteilige Folgen, könne er nicht verantwortlich gemacht werden, weshalb ihm Beschädigtenversorgung weiter zu gewähren sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 – an den Kläger selbst adressiert und unter Vermittlung der Deutschen Botschaft in Z. als Einschreibebrief-Rückschein ihm selbst übermittelt – wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte u.a. aus, es sei auch geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden könne. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden aber bei Beziehern von Sozialleistungen vielfach vorliegen und könnten deshalb nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.

Der Kläger hat den den ihm unter Vermittlung der Deutschen Botschaft in Z. übersandten Widerspruchsbescheid ausweislich des Rückscheines selbst am 6. August 1993 erhalten. Die hiergegen gerichtete Klage ist am 29. November 1993 beim Sozialgericht in Frankfurt am Main eingegangen. Nachfragen des Sozialgerichts bezüglich der Art und des Zeitpunkts der Zustellung sowie der Gründe für die späte Klageerhebung hat der Kläger nicht beantwortet.

Durch Urteil vom 27. Januar 1995 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und den angefochtenen Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993 sowie den Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, daß die Klage zulässig sei, weil der Widerspruchsbescheid an den Kläger nicht ordnungsgemäß zugestellt worden sei. Nach § 14 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) hätte der Widerspruchsbescheid förmlich und auf diplomatischem Wege unter Vermittlung der kroatischen Behörden an den Kläger zugestellt werden müssen. Die durch die Deutsche Botschaft in Zagreb bewirkte Übersendung mittels eingeschriebenem Brief mit Rückschein erfülle diese Formvoraussetzung nicht, weshalb die Klage auch nach dem Ablauf der dreimonatigen Klagefrist noch fristgerecht habe erhoben werden können. Weiter hat das Sozialgericht ausgeführt, die Rücknahme des Bewilligungsbescheides habe nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen dürfen. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt überhaupt rechtswidrig gewesen sei und ob der Aufhebungsbescheid nicht schon deshalb rechtswidrig sei, weil vor Erlaß dieses, in die Rechte des Klägers eingreifenden, Verwaltungsaktes keine Anhörung erfolgt sei. Jedenfalls habe der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht. Der Beklagte habe in seinen Entscheidungen nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Dies sei hinsichtlich des Rücknahmebescheides schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und das beklagte Land folglich mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Entscheidung gar nicht haben treffen können. Entsprechendes gelte auch für die Ausführungen zum Ermessen in der Begründung des Widerspruchsbescheids. Die Formulierungen dort deuteten darauf hin, daß das beklagte Land bei seiner Entscheidung gerade nicht die besonderen, individuellen Verhältnisse des konkreten Einzelfalles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte berücksichtigt habe, die für alle Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer in der ehemaligen SFRJ zutreffen würden. Der Mangel jeglicher Einzelfallbezogenheiten in den Ausführungen zeige sich an der Verwaltungspraxis des beklagten Landes, das in ca. 300 gleichgelagerten Fällen, wie gerichtsbekannt sei, nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts vom 20. Mai 1992 Verwaltungsverfahren zur Rücknahme bereits bewilligter Versorgungsrenten eingeleitet habe. Aufgrund von ca. 100 vergleichbaren, dem Sozialgericht vorliegenden Streitsachen, lasse sich der Schluß ziehen, daß in allen diesen Fällen weitgehend wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen worden seien. Aus der Tatsache, daß der Beklagte vor Erlaß der Bescheide keine Anhörung durchgeführt habe, sei auch zu schließen, daß er gar nicht die Absicht gehabt habe, individuelle Einzelfallentscheidungen zu treffen. Der Bescheid vom 11. Januar 1993 und der Widerspruchsbescheid vom 26. Juni 1993 seien deshalb wegen nicht ordnungsgemäßer Ausübung des Ermessens rechtswidrig und hätten aufgehoben werden müssen.

Gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 20. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 30. März 1995 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er vertritt die Ansicht, daß bei der Rücknahme-Entscheidung nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall überhaupt kein Ermessensspielraum bestehe, wie sich aus der Rechtsprechung des BSG (9/9 a-Senat, st. Rspr.) ergebe. Soweit sich das Sozialgericht für seine Auffassung, es sei Ermessen auszuüben (und nicht pflichtgemäß ausgeübt worden), auf Rechtsprechung anderer Senate des BSG berufe, sei diese Rechtsprechung im sozialen Entschädigungsrecht nicht heranzuziehen. Der Fall des Klägers stelle einen klassischen Regelfall dar, weshalb keinerlei Ermessen hätte ausgeübt werden müssen. Soweit daneben das Sozialgericht meine, die Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, ergebe sich aus den Texten des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides etwas anderes. Sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrenten als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen des Klägers seien in die Überlegungen mit einbezogen worden. Ermittlungen zu den aktuellen Einkommensverhältnissen seien nicht erforderlich gewesen, da zugunsten des Klägers dessen schwierigen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse als bekannt vorausgesetzt und gewürdigt worden seien. Auch soweit das Sozialgericht bemängelt habe, die Auswirkungen des Bürgerkrieges in den Teilrepubliken des früheren Jugoslawiens seien nicht berücksichtigt worden, könne ihm nicht gefolgt werden. Es gehe im Falle des Klägers um Spätauswirkungen des 2. Weltkrieges. Für Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert später in der ehemaligen SFRJ entbrannt sei, könne die Bundesrepublik Deutschland Verantwortung nicht übernehmen. Dieser Umstand habe bei der dem Beklagten obliegenden Ermessensausübung deshalb nicht zum Verzicht auf die Rücknahme des Bewilligungsbescheides führen dürfen.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. Januar 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält und wiederholt und vertieft sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren. Insbesondere beruft er sich darauf, daß sich sein Gesundheitszustand verschlechtert habe und er deshalb bei der zivilen Kriegsopferrente von der Invaliditätsstufe III in die Invaliditätsstufe IV eingestuft worden sei. Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und auf die Beschädigtenakte des Versorgungsamtes Fulda (Archiv-Nr. ), die dem Senat vorlagen und Gegenstand der Beratungen waren.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärten haben (§§ 124 Abs. 2 und 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz SGG –).

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden und an sich statthaft (§ 151 in Verbindung mit §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 27. Januar 1995 den Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 1993 und den Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 aufgehoben. Beide Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig. Die hiergegen gerichtete Klage war auch zulässig, was der Senat von Amts wegen zu überprüfen hat (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl., § 87 Rdz. 7).

Anders als das Sozialgericht geht der Senat jedoch davon aus, daß der Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 dem Kläger schon deshalb nicht wirksam zugestellt worden ist, weil die Zustellung an die Bevollmächtigte hätte erfolgen müssen. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, so ist gemäß § 73 Abs. 3 SGG die Zustellung an ihn zu richten und zu bewirken. Die zwingend vorgeschriebene Zustellung des Widerspruchsbescheides (§ 85 Abs. 3 SGG) hätte ausschließlich an die Bevollmächtigte des Klägers erfolgen dürfen. Soweit bei dem Beklagten Zweifel darüber bestanden haben sollten, ob Frau V. V. (nur) als Dolmetscherin oder aber tatsächlich, wie sich aus der Vollmachtsurkunde ergibt, als Bevollmächtigte tätig werden sollte, hätte es dem Beklagten oblegen, diese Zweifel durch eine Nachfrage auszuräumen. Bei einer nicht ordnungsgemäß bewirkten Zustellung beginnt die nach § 87 Abs. 1 Satz 2 SGG für Zustellungen in das Ausland geltende Klagefrist von 3 Monaten nicht zu laufen. Die am 29. November 1993 beim Sozialgericht Frankfurt am Main eingegangene Klage war deshalb fristgerecht erhoben worden.

Der Senat brauchte deshalb nicht abschließend zu entscheiden, ob, wie das Sozialgericht ausgeführt hat, die mittels eingeschriebenem Brief unter Vermittlung der Deutschen Botschaft in Zagreb gegen Rückschein erfolgte Zusendung des Widerspruchsbescheides rechtmäßig erfolgt ist (dagegen: BSG Urteil vom 31. Januar 1973 – 9 RV 706/71 = NJW 1973, 1064; App, Das Zustellungsverfahren der Sozialversicherungsträger und -behörden sowie der Sozialgerichte, SGb 1996, 366 ff., 371).

Das Sozialgericht ist im Ergebnis zutreffend von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen und hat der Klage auch mit zutreffenden Gründen stattgegeben.

Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat und der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2–4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2 von § 45 SGB X). Auf das Vertrauen kann sich der Begünstigte (nur dann) nicht berufen, soweit

1) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Satz 3 von § 45 Abs. 2 SGB X).

Der dem Kläger Versorgungsleistungen gewährende Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 27. Mai 1991 war rechtswidrig, weil der Kläger gleichzeitig Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat bezogen hat und hierauf grundsätzlich weiter Anspruch hat. Eine solche Doppelversorgung ist nach § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung hierzu entschieden, daß zivilen Kriegsopfern, welche für die im Krieg erlittenen Beschädigungen von ihren Heimatstaaten Leistungen erhalten, keine Versorgungsleistungen nach dem BVG (auch nicht gemäß § 8 BVG im Rahmen einer Ermessensentscheidung mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit) gewährt werden dürfen. Dies hatte das BSG zunächst für Kriegsopfer mit Heimatland Frankreich festgestellt, die dort ähnliche Versorgungsleistungen erhielten, wie sie das BVG vorsieht (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 9 RV 188/75 – SozR 2-3100 § 7 BVG Nr. 2). In mehreren weiteren Urteilen hat das BSG sodann entschieden, daß ein solcher Ausschluß von Leistungen nach dem BVG auch dann zu gelten habe, wenn die Versorgungsleistungen des Heimatlandes im Vergleich zur Versorgung nach deutschem Recht erheblich geringer sind (BSG, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 12/91 = SozR 3-3100 § 7 BVG Nrn. 1 und 2). Letzteren Entscheidungen lagen solche Fälle zugrunde, bei denen, wie hier, die Kläger Versorgungsleistungen als zivile Kriegsopfer in einem Teilstaat der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) erhielten (vgl. insbesondere BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Dieser Personenkreis hat auch nach dem Zerfall der früheren SFRJ nach dem Recht der nunmehr selbständigen Teilrepubliken – wie dem Senat aus zahlreichen gleichgearteten Fällen bekannt ist – grundsätzlich Anspruch auf eine Rente als ziviles Kriegsopfer. Jedenfalls die Republiken Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina haben insoweit die früher geltenden Rechtsnormen fortbestehen lassen bzw. die Rechtsregeln aus der Zeit des Bestehens der SFRJ übernommen oder aber in neues Recht umgestaltet.

Unerheblich ist dabei, ob diese Nachfolgestaaten der SFRJ – sowohl während des Bürgerkrieges in der früheren SFRJ als auch jetzt nach dessen Ende – tatsächlich die Geldleistungen erbringen, auf die ihre Bürger Anspruch haben. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es hierauf auch nicht an (vgl. BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Ausreichend ist vielmehr, daß die Geschädigten dem Grunde nach einen Anspruch gegenüber ihrem Heimatstaat haben. Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren selbst noch einen Zahlungsbeleg über eine Rente als ziviles Kriegsopfer – neben den Anerkennungsbescheiden aus dem Jahre 1975 bzw. 1979 – vorgelegt, wonach feststeht, daß er auch zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides des Versorgungsamtes Fulda vom 27. Mai 1991 noch eine Rente seines Heimatstaates erhielt. Da demnach eine Doppelversorgung hätte ausgeschlossen werden müssen, war der Bescheid des Versorgungsamtes vom 27. Mai 1991 rechtswidrig, weshalb der Beklagte grundsätzlich verpflichtet war, ein Verfahren zur Rücknahme dieses Bescheides nach § 45 SGB X einzuleiten.

Der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993 und der Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 sind nicht schon deshalb rechtswidrig, weil vor Erlaß des ersten Bescheides keine Anhörung erfolgt ist. Zwar ist nach § 24 Abs. 1 SGB X einem Betroffenen vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in seine Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Von dieser Notwendigkeit der vorherigen Anhörung konnte der Beklagte nicht nach § 24 Abs. 2 SGB X absehen, weil insbesondere kein Fall des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vorliegt, wonach die Anhörung unterbleiben kann, wenn "gleichartige Verwaltungsakte größerer Zahl” zu erlassen sind. Der Beklagte hat zwar, wie er selbst vorträgt, in ca. 300 ähnlichen Fällen Rücknahmebescheide erlassen. Gleichwohl liegen keine gleichartigen Verwaltungsakte im Sinne des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vor, weil die Verwaltungsakte nicht aufgrund weniger, typisierter Grundmerkmale formularmäßig ergehen konnten, sondern eingehende individuelle Ermittlungen notwendig waren (vgl. Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – Kommentar, K § 24 SGB X Rdz. 16). Bei Aufhebungsbescheiden, die nach § 45 SGB X ergehen, sind regelmäßig individuelle Ermittlungen und Abwägungen notwendig; dies ergibt sich schon aus dem Gesetzestext. Es kann dahinstehen, ob sich der Beklagte auf § 24 Abs. 2 Nr. 2 SGB X berufen kann, weil nicht festgestellt werden konnte und auch vom Beklagten nicht dargelegt worden ist, weswegen erst im Januar 1993 ein Verwaltungsverfahren zur Rücknahme der Bewilligungsbescheide eingeleitet wurde, obwohl die bereits zuvor bestehende Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 25. November 1976 – SozR 2-3100 § 7 Nr. 2 –) schon lange vorher hätte bekannt sein müssen und auch die klarstellenden Urteile zur Auslandsversorgung von Bürgern der früheren SFRJ bereits am 20. Mai 1992 ergangen waren. Der Beklagte, der selbst Verfahrensbeteiligter der am 20. Mai 1992 ergangenen Entscheidungen war, weil er für die Auslandsversorgung auf dem Staatsgebiet der früheren SFRJ zuständig ist, mußte von der Entscheidung vom 20. Mai 1992 und den sie tragenden Gründen bereits innerhalb kurzer Zeit informiert gewesen sein und hätte deshalb die Betroffenen wie auch vor Erlaß der Rücknahmebescheide anhören können. Jedoch ist der Mangel der unterbliebenen Anhörung gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden, weil dem Kläger im Widerspruchsverfahren Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern. Deshalb kann der Bescheid vom 11. Januar 1993 – in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 – insoweit nicht beanstandet werden.

Im Ergebnis zutreffend hat jedoch das Sozialgericht Frankfurt am Main in seinem Urteil vom 27. Januar 1995 festgestellt, daß der angefochtene Rücknahmebescheid wie auch der Widerspruchsbescheid rechtswidrig sind, weil der Beklagte das nach § 45 Abs. 1 SGB X ihm eingeräumte Ermessen nicht in rechtlich einwandfreier Form ausgeübt hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Grundsätzlich ist es dem Gericht verwehrt, Ermessensfragen zu prüfen, bevor die richterlich voll nachprüfbaren Voraussetzungen für das Vorliegen bzw. den Wegfall eines Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 1 in Verbindung mit den Abs. 2–4 SGB X erörtert worden sind (vgl. hierzu BSG, SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 20). In besonders gelagerten Einzelfällen kann es aber aus prozeßökonomischen Gründen geboten sein, die Sachgerechtigkeit der Ermessensausübung vorab zu prüfen (vgl. Grüner, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – SGB X –, Kommentar, § 45 Erläuterung III. 7). Solche prozeßökonomischen Gründe sind hier gegeben. Zwar kann im Hinblick auf die Daten des Erlasses des Erstanerkennungsbescheides (19. Juni 1991) davon ausgegangen werden, daß der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993, dessen Erhalt der Kläger im Widerspruchsschreiben vom 10./11. April 1993 bestätigt hat, noch in der dem Beklagten nach § 45 Abs. 3 SGB X eingeräumten Frist von zwei Jahren dem Kläger zugegangen ist.

Jede weitere Sachaufklärung aber ist schon allein dadurch erschwert, daß der Schriftverkehr mit dem Kläger ins fremdsprachige Ausland geführt werden muß und genaue Antragen und Auskünfte nur zu erhalten sind, wenn die entsprechenden Schriftstücke ins Kroatische übersetzt werden. Hieran ändert sich auch nichts Grundsätzliches deshalb, weil der Kläger selbst einen Dolmetscher bemüht hat. Auch die Anhörung des Klägers zu seinen individuellen Lebensumständen, die im Rahmen einer Prüfung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB X erforderlich ist, könnte nur über Dolmetscher erfolgen.

Nach § 45 Abs. 1 SGB X aber "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 – SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III. 7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgebliche Tatsachen (Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3-1300 § 50 Nr. 16 einerseits und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93).

Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG – wie dies vom Beklagten zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf "Null” eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9 a RVg 2/94 – BSGE 60, 147 ff.). Begründet wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht (KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung des Verfahrensrechts und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel. Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung des 9/9 a-Senat des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in § 45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel –, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senates des BSG noch ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf "Null” kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG, Urteil vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 – und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und – 345/95 –).

Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt, bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, Ermessen auszuüben. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnr. 25, 30). Von Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind, verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).

Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die eine sorgfältige und differenzierte Ermittlung erforderlich machten und – nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen. Der Kläger hatte den ersten Antrag 1989 in Mostar, BiH, gestellt. Er lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung in Zagreb/Kroatien in einer der Teilrepubliken der ehemaligen SFRJ, in der Krieg herrschte. Der Kläger war erneut, wie schon als Kind, von Kriegsereignissen betroffen. Dies rechtfertigt es zur Überzeugung des Senates, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Rücknahmebescheides und auch des Widerspruchsbescheides in Kroatien herrschenden Kriegsereignisse und die aufs äußerste angespannte und bedrohte wirtschaftliche Existenz des von Leistungen nach dem BVG – wenn auch rechtswidrig – Begünstigten zu berücksichtigen. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend hält, um zusätzliche, weitere Ermessenserwägungen anzustellen, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar dem Vorbringen des Klägers weiter nachgegangen, wonach sich dessen Gesundheitszustand seit Erlaß des Bescheides im Jahre 1991 weiter verschlechtert habe. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte weitere, besondere Härtegesichtspunkte nicht aufgeklärt hat und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar, Steinwedel a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich zu machen, sieht aber § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt – das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300 a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation, unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein rechtfertigen, von einer besonderen Härte auszugehen. Das Vorliegen solcher Gründe hat die Verwaltung im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O., § 45 SGB X, Erläuterungen III. 7). Ermessensentscheidungen – insbesondere dann, wenn Anlaß für die Einbeziehung von Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfall-Entscheidungen zu treffen, die auf jede Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993, in dem der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter, leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der im Kriegsgebiet der ehemaligen SFRJ lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Zwar ist für den Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten um ergänzende Textteile einzufügen, in denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides miteinbezogen werden können. Der Kläger war – wenn er sich auch nicht im unmittelbaren Kampfgebiet aufhielt – zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen. Er hat sich ausdrücklich darauf berufen, daß sich sein Gesundheitszustand seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre 1991 weiter verschlechtert hatte. Insoweit war erkennbar, daß der Kläger, der trotz der schwerwiegenden, bereits im Kindesalter erlittenen Beschädigung eine Beschäftigung ausgeübt hat, nunmehr gezwungen sein könnte, diese aufzugeben und Rente in Anspruch zu nehmen. Ein solcher Umstand hätte zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob dies die einzige richtige Entscheidung hätte sein können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt oder geprüft, noch seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die schriftliche Begründung der Bescheide aufgenommen hat.

Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, daß auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu diskutierenden Umstände kein Verzicht auf die Rücknahme erfolgen hätte können, wird zur Überzeugung des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtsprechung aber kann im gerichtlichen Klage- und Berufungsverfahren, das den angegriffenen Rücknahmebescheid und den Widerspruchsbescheid zum Gegenstand hat, die Ermessensprüfung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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