L 13 An 366/96

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 2 An 817/95
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 13 An 366/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 8. Februar 1996 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat der Klägerin ihre zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Aufwendungen auch der Berufungsinstanz zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist, ob die Beklagte die Lehrzeit der Klägerin als Pflichtbeitragszeit vorzumerken hat.

Die 1948 geborene Klägerin absolvierte vom 1. August 1962 bis 31. Juli 1965 eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau bei der Firma L. J. in W. an der D. einem Lebensmittelgeschäft. Sie besuchte vom 7. September 1962 bis 18. Juli 1965 die Städtische Berufsschule für Mädchen in R. und schloß die Ausbildung mit der Kaufmannsgehilfenprüfung am 31. Juli 1965 erfolgreich ab. Beiträge zur Rentenversicherung wurden jedoch lediglich von August 1962 bis Oktober 1962 entrichtet.

Am 7. Juni 1994 beantragte die Klägerin, die Lehrzeit vom 1. August 1962 bis 31. Juli 1965 als Pflichtbeitragszeit anzuerkennen. Als Nachweis legte sie eine Zeugenerklärung von Frau M. B. vom 8. April 1991 vor sowie die Kopie des Kaufmanngehilfenbriefes vom 31. Juli 1965, eine Kopie des Entlassungszeugnisses der Städtischen Berufsschule für Mädchen in R. vom 18. Juli 1965 sowie eine Bescheinigung der AOK R. über Mitgliedschafts- und Arbeitsunfähigkeitszeiten vom 2. Januar 1989, aus der sich ergibt, daß eine Mitgliedschaftszeit lediglich vom 1. September 1962 bis 31. Oktober 1962 gemäß § 165 RVO bei der Firma J. in W. bestanden hat. Als Grundlohn bzw. Sachbezug ist ein Betrag von 3,– DM angegeben.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 20. Oktober 1994 ab und wies den hiergegen am 9. November 1994 erhobenen Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 14. Juni 1995 zurück. Zur Begründung führte sie aus, daß eine Anerkennung der Lehrzeit gemäß § 247 Abs. 2 a Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) nicht möglich sei, da diese Vorschrift nur in den Fällen anwendbar sei, in denen die Beitragszahlung wegen der seinerzeit bestehenden Rechtsauffassung der Sozialversicherungsträger unterblieben sei. Seien die Beiträge aus sonstigen Gründen nicht gezahlt worden, so könnten die dadurch verursachten Beitragslücken nicht geschlossen werden. Im vorliegenden Fall sei die fehlende Beitragszahlung jedoch nicht aufgrund der seinerzeit bestehenden Rechtsauffassung unterblieben.

Hiergegen hat die Klägerin am 17. Juli 1995 Klage bei dem Sozialgericht Kassel erhoben. Sie macht weiterhin geltend, es sei ihr nicht bekannt gewesen, daß ab November 1962 keine Beiträge mehr durch ihren damaligen Arbeitgeber abgeführt worden seien. Sie habe weiterhin die vorherige Nettoausbildungsvergütung in bar bezogen und zwar für das gesamte erste Jahr in monatlich gleichbleibender Höhe. Daß eine Beitragszahlung unterblieben sei, habe sie erst bei einer späteren Überprüfung ihres Rentenanspruches erfahren, nachdem sie im Jahre 1987 wieder berufstätig geworden sei.

Mit Urteil vom 8. Februar 1996 hat das Sozialgericht Kassel die angegriffenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, die Lehrzeit der Klägerin vom 1. November 1962 bis 30. Juni 1965 als Pflichtbeitragszeit anzuerkennen. Dies folge aus § 247 Abs. 2 a SGB VI, wonach Pflichtbeitragszeiten aufgrund einer versicherten Beschäftigung auch Zeiten seien; in denen in der Zeit vom 1. Juni 1945 bis 30. Juni 1965 Personen als Lehrling oder sonst zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt waren und grundsätzlich Versicherungspflicht bestanden habe, eine Zahlung von Pflichtbeiträgen für diesen Zeitraum jedoch nicht erfolgt sei. Warum die Beitragszahlung für die Klägerin während ihrer Lehrzeit ab dem 1. November 1962 unterblieben ist, sei nicht geklärt und deshalb sei auch nicht auszuschließen, daß sie zu dem Personenkreis gehört habe, für den eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung umstritten gewesen sei. Hierfür könnte sprechen, daß der Arbeitgeber die Klägerin zunächst bei der zuständigen Allgemeinen Ortskrankenkasse angemeldet und dann zum 31. Oktober 1962 wieder abgemeldet habe. Hätte unstreitig weiter Versicherungspflicht für die Klägerin bestanden, wäre der Arbeitgeber weiter zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen verpflichtet gewesen und die zuständige Allgemeine Ortskrankenkasse hätte die Abmeldung der Klägerin nicht entgegennehmen dürfen. Es sei ebenfalls nicht erwiesen, daß der Arbeitgeber die gesamten Sozialversicherungsbeiträge für die Klägerin hinterzogen habe. Für die Anwendung des § 247 Abs. 2 a SGB VI sei dies auch unerheblich, da der Gesetzeswortlaut hierauf nicht abstelle. Da diese Vorschrift lediglich den Zeitraum bis zum 30. Juni 1965 erfasse, habe die Lehrzeit der Klägerin auch nur bis zu diesem Zeitpunkt anerkannt werden können. Im übrigen sei unstreitig, daß die Klägerin während der vorgenannten Zeit eine Lehre als Einzelhandelskaufmann bzw. kauffrau absolviert habe, daß grundsätzlich Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung bestanden habe und das eine Zahlung von Pflichtbeiträgen für diese Zeit nicht erfolgt sei.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 26. Februar 1996 zugestellte Urteil des Sozialgerichts Kassel am 22. März 1996 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt. Zur Begründung macht sie geltend, daß die angegriffene Entscheidung weder im Ergebnis noch in der Begründung rechtlich zutreffend sei. Die Lehrzeit der Klägerin könne nicht als Pflichtbeitragszeit nach § 247 Abs. 2 a SGB VI anerkannt werden, weil diese Vorschrift nur auf solche Ausbildungszeiten angewandt werden könne, in denen zwar dem Grunde nach Versicherungspflicht bestanden habe, Pflichtbeiträge aber aufgrund der damaligen Rechtsprechung oder aus Gründen der unterschiedlichen Rechtsanwendung in den drei Westzonen nicht gezahlt worden seien. Bis zum Inkrafttreten des Ersten Rentenversicherungsänderungsgesetzes – RVÄndG – vom 9. Juni 1965 (BGBl. I, 476) am 1. Juli 1965 seien erfahrungsgemäß nicht in allen Fällen die erforderlichen Pflichtbeiträge durch die zuständigen Rentenversicherungsträger eingezogen worden. Aus der Tatsache, daß Pflichtbeiträge durch den Arbeitgeber zeitweilig abgeführt worden seien, dies dann jedoch ab November 1962 unterblieben sei, sei zu folgern, daß die fehlende Beitragsleistung nicht aufgrund der seinerzeit bestehenden Rechtsauffassung unterblieben sei, sondern aus sonstigen anderen Gründen. Dies könne zu keiner Anerkennung als Beitragszeit gemäß § 247 Abs. 2 a SGB VI führen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 8. Februar 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der die Klägerin betreffenden Rentenakten der Beklagten Bezug genommen. Der wesentliche Inhalt dieser Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 14. März 1997 in der Sache verhandeln und eine Entscheidung treffen, obwohl die Klägerin nicht erschienen ist und auch nicht vertreten worden ist. Denn alle Beteiligten sind rechtzeitig und ordnungsgemäß geladen und dabei darauf hingewiesen worden, daß auch im Falle ihrer Abwesenheit verhandelt und entschieden werden kann (§§ 110, 124 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

Das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 8. Februar 1996 ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 20. Oktober 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juni 1995 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Vormerkung der Zeit vom 1. November 1962 bis zum 30. Juni 1965 als Pflichtbeitragszeit.

Anspruchsgrundlage für die Vormerkung der geltend gemachten Zeit ist § 149 Abs. 5 SGB VI. Diese Vorschrift findet hier gemäß § 300 Abs. 1 SGB VI Anwendung, unabhängig davon, ob der Sachverhalt auf den der Anspruch gestützt wird, bereits vor diesem Zeitpunkt vorgelegen hat (vgl. z.B. BSG SozR 3-2200 § 58 Nr. 3).

Nach § 149 Abs. 5 SGB VI ist der Versicherungsträger verpflichtet, die im Versicherungsverlauf enthaltenen und nicht bereits festgestellten Daten, die länger als sechs Kalenderjahre zurückliegen, durch Bescheid festzustellen, nachdem er das Versicherungskonto geklärt oder der Versicherte innerhalb von sechs Kalendermonaten nach Versendung des Versicherungsverlaufs seinem Inhalt nicht widersprochen hat. Der danach zu erlassende Vormerkungsbescheid muß inhaltlich zutreffend sein. Die angegriffenen Bescheide der Beklagten sind jedoch zu beanstanden, da darin die Vormerkung der hier streitigen Zeit als Pflichtbeitragszeit abgelehnt wird.

Für die vorliegend noch streitbefangene Zeit vom 1. November 1962 bis 30. Juni 1965 sind unstreitig keine Pflichtbeiträge gezahlt worden. Eine Vormerkung dieser Zeit als Pflichtbeitragszeit kommt somit alleine nach § 247 Abs. 2 a SGB VI in Betracht. Danach sind Pflichtbeitragszeiten aufgrund einer versicherten Beschäftigung auch Zeiten, in denen in der Zeit vom 1. Juni 1945 bis 30. Juni 1965 Personen als Lehrling oder sonst zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt waren und grundsätzlich Versicherungspflicht bestanden hat, eine Zahlung von Pflichtbeiträgen für diese Zeiten jedoch nicht erfolgte. Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin für die streitige Zeit vor. Da die Klägerin unstreitig in der Zeit vom 1. August 1962 bis zum 31. Juli 1965 den Beruf des Einzelhandelskaufmanns bzw. der Einzelhandelskauffrau erlernte, unterlag sie gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 AVG in der Fassung des AnVNG als Lehrling grundsätzlich der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Dabei ist es unerheblich, ob ein Entgelt gezahlt wurde oder nicht, denn die Versicherungspflicht bestand unabhängig von der Zahlung eines Entgelts.

Die von der Beklagten vertretene Rechtsauffassung, nach der § 247 Abs. 2 a SGB VI nur bei bestimmten Personengruppen Anwendung finden soll, deren Versicherungspflicht erst während des im Gesetz genannten Zeitraums klargestellt worden ist, findet im Wortlaut der Vorschrift keinen Anhalt (vgl. hierzu und im Folgenden BSG Urteil vom 8. Februar 1996 – 13 RJ 45/94 –). Auch die Entstehungsgeschichte der Norm spricht nicht zwingend für die von der Beklagten geltend gemachte einschränkende Auslegung, die Gesetzesmaterialien stehen vielmehr einer dem Gesetzeswortlaut entsprechenden großzügigen Interpretation und einer pauschalen fiktiven Berücksichtigung von Lehrzeiten als Beitragszeiten nicht entgegen. Mit dem Bundessozialgericht (a.a.O.) ist der erkennende Senat der Auffassung, daß der Gesamtzusammenhang der Regelung darauf hinweist, daß hier eine großzügige Regelung getroffen werden sollte, um die zu Zeiten uneinheitlicher Rechtsanwendung und ungeklärter Versicherungspflicht verschiedenster Berufsausbildungsverhältnisse entstandenen Beitragslücken aller betroffenen Versicherten ohne Rücksicht auf die Gründe ihres jeweiligen Zustandekommens zu schließen. Deshalb kann vorliegend dahinstehen, ob die Versicherungspflicht der Klägerin in der gesetzlichen Rentenversicherung während des streitbefangenen Zeitraums nach seinerzeitiger Rechtslage noch als unklar anzusehen gewesen ist oder nicht. Es braucht daher auch nicht geklärt zu werden, wer zur Entrichtung der Pflichtbeiträge verpflichtet gewesen ist und wie im einzelnen die Verwaltungspraxis der Allgemeinen Ortskrankenkassen als Beitragseinzugsstelle bzw. der Rentenversicherungsträger damals gewesen ist.

Die Berufung der Beklagten konnte damit insgesamt keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird im Hinblick auf die Kritik, die das Urteil des Bundessozialgerichts vom 8. Februar 1996 (a.a.O.) erfahren hat (vgl. z.B. Grintsch, DRV 1996, 614 ff.) sowie im Hinblick auf die weiterhin entgegengesetzte Verwaltungspraxis der Rentenversicherungsträger nach § 160 Abs. 2 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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