Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 98/82
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 743/87
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 11. Mai 1987 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin aus Anlaß eines vor ihrer Geburt liegenden Ereignisses aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigen ist.
Die Klägerin wurde 1967 als Tochter von und geboren. Der Vater ist als landwirtschaftlicher Unternehmer bei der Beklagten versichert.
Bereits im Jahre 1968 wurde bei der Klägerin eine frühkindliche Hirnschädigung festgestellt. In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der P.-Universität wurden außerdem eine Oligophrenie (Imbezillität) und ein autistisches Syndrom diagnostiziert. Wegen dieser Schädigungen erkannte das Versorgungsamt die Klägerin als Schwerbehinderte mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. an.
Im Juni 1981 beantragte die Klägerin durch ihre Eltern die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Antrag wurde damit begründet, daß ihre Leiden während der Schwangerschaft ihrer Mutter entstanden seien, als diese im dritten Schwangerschaftsmonat im Sommer 1966 wegen eines Hochwassers Rinder von der Weide geholt habe und dabei fast ertrunken sei. Anläßlich ihrer Vernehmung vor der Ortspolizeibehörde gab die Mutter der Klägerin an, sie sei am 22. Juli 1966 infolge eines starken Gewitters gezwungen gewesen, Jungvieh von der Weide zu holen. Anfangs habe sich das Wasser etwa in Knöchelhöhe befunden. In einer Zeit von ungefähr 15 Minuten sei das Wasser durch einen Wasserschwall auf eine Höhe von ca. 120 cm angestiegen. Sie habe durch die entstehende Panik einen Schock erlitten, der nach ihrer Ansicht Auswirkungen auf die Entwicklung der Leibesfrucht gehabt habe. Auch der Rentner bestätigte bei seiner polizeilichen Vernehmung, daß bei der Rettungsaktion das Wasser etwa 120 cm hoch gestanden habe.
Nachdem die Ermittlungen der Beklagten keine besonderen Vorkommnisse während der Schwangerschaft der Mutter der Klägerin erbracht hatten, beauftragte sie Prof. Dr. von Institut für Humangenetik der Universitätsklinik mit der Erstellung eines Zusammenhangsgutachtens. Im Gutachten vom 2. Februar 1982 führte Prof. Dr. im wesentlichen aus, es sei unwahrscheinlich, daß das angeschuldigte Ereignis geeignet sei, die in Gang befindliche Schwangerschaft der Mutter negativ zu beeinflussen. Das Auftreten des Hirnschadens sei mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder auf eine Schädigung unter der Geburt oder auf eine erbliche Stoffwechselstörung, vielleicht auch auf eine Chromosomenanomalie zurückzuführen. Möglicherweise handele es sich auch noch um eine Krankheit anderer Art, die nichts mit dem Unfall zu tun habe. Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 23. März 1982 eine Entschädigung der Klägerin aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Mit dem hiergegen am 29. März 1982 eingelegten Widerspruch machte die Klägerin im wesentlichen geltend, der Gutachter Prof. Dr. habe nicht berücksichtigt, daß durch den Aufenthalt im Wasser eine Unterkühlung stattgefunden habe, die zu erheblichen Durchblutungsstörungen geführt haben könne. In seiner daraufhin eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom 1. Juni 1982 führte Prof. Dr. aus, daß er eine Unterkühlung der Mutter der Klägerin durch das im Juli 1966 stattgefundene Ereignis für ausgeschlossen halte. Mit Widerspruchsbescheid vom 24. August 1982 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch als unbegründet zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 24. September 1982 Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) Marburg hat den Befundbericht des Facharztes für innere Krankheiten Dr. vom 15. Februar 1983 und – eine stationäre Behandlung der Mutter der Klägerin im Jahre 1963 betreffende – ärztliche Unterlagen des Zentrums für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in sowie Auskünfte des Deutschen Wetterdienstes vom 10. April 1984 und des Magistrats der Stadt vom 9. April 1984 eingeholt. Des weiteren hat das SG in einem Termin zur Beweisaufnahme am 27. April 1984 das Gelände, auf dem sich am 22. Juli 1966 der Vorfall ereignete, in Augenschein genommen und den früheren Ortsbürgermeister und früheren Ortsbeirat Gruß als Zeugen vernommen sowie den Dipl.-Ing. vom Wasserwirtschaftsamt als Sachverständigen gehört. Sodann hat das SG von Amts wegen das Gutachten des Chefarztes der Frauenklinik der Kliniken in Prof. Dr. vom 14. Oktober 1985 und – im Anschluß an die von der Beklagten vorgelegten Stellungnahmen des Prof. Dr. Direktor des Instituts für in , vom 23. April 1986 und ihres beratenden Arztes Prof. Dr. vom 22. September 1986 sowie das neuropädiatrische Gutachten des Leiters der Abteilung Neuropädiatrie des Medizinischen Zentrums für Kinderheilkunde der Universität vom 28. August 1986 – dessen ergänzende Stellungnahme vom 16. Februar 1987 eingeholt. Sodann hat es mit Urteil vom 11. Mai 1987 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, es sei zwar nach der durchgeführten Beweisaufnahme davon auszugehen, daß sich am 22. Juli 1966 ein Arbeitsunfall ereignet habe. Doch seien die Schädigungen der Klägerin nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf diesen Unfall zurückzuführen. Dies ergebe sich aus den überzeugenden Gutachten vom 2. Februar 1982 (Prof. ) und 28. August 1986. Auch Prof. Dr. sei zu dem Ergebnis gekommen, daß ein Zusammenhang zwischen den Schädigungen der Klägerin und dem Ereignis vom 22. Juli 1966 lediglich möglich, aber nicht eindeutig zu beweisen sei.
Gegen dieses ihr am 26. Mai 1987 zugestellte Urteil richtet sich die am 22. Juni 1987 eingegangene Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Ihrer Ansicht nach hat das SG die Ausführungen des Prof. Dr. nicht hinreichend gewürdigt. Es erscheine deshalb erforderlich, daß der Gutachter Gelegenheit erhalte, seine Meinung vor dem Gericht darzulegen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 11. Mai 1987 und den Bescheid der Beklagten vom 23. März 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 1982 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 22. Juli 1966 als Arbeitsunfall zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Unfallakte der Beklagten und der Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 145 und 151 Sozialgerichtsgesetz –SGG–), in der Sache jedoch unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, weil der Bescheid der Beklagten vom 23. März 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 1982 rechtlich nicht zu beanstanden ist. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Zwar stand sie am 22. Juli 1966, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren und damit nicht rechtsfähig war, auch als Leibesfrucht grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 555 a Reichsversicherungsordnung –RVO–). Ein Unfallereignis vermag jedoch nur dann Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu begründen, wenn es in ursächlichem Zusammenhang mit einer Gesundheitsstörung steht. Dabei muß nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung dieser Zusammenhang wenn auch nicht bewiesen, so aber doch wenigstens hinreichend wahrscheinlich sein. Die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs ist nur dann gegeben, wenn bei vernünftiger Abwägung aller für und gegen den Zusammenhang sprechenden Umstände die für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen so stark überwiegen, daß die dagegen gerichteten billigerweise für die Bildung und Rechtfertigung der richterlichen Überzeugung außer Betracht bleiben müssen (Bundessozialgericht –BSG– SozR § 542 RVO a.F. Nr. 20; Lauterbach-Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Auflage, Anm. 17 zu § 548). Demgegenüber reicht die bloße Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zur Anspruchsbegründung – wie das SG zutreffend ausgeführt hat – nicht aus.
Bei Beachtung dieser Grundsätze ist zur Überzeugung des Senats nicht die notwendige Wahrscheinlichkeit zwischen dem Ereignis vom 22. Juli 1966 und der geistigen Behinderung, an der die Klägerin aufgrund der frühkindlichen Hirnschädigung leidet, gegeben. Der Senat folgt den überzeugenden Ausführungen des Prof. in dem Gutachten vom 2. Februar 1982 und der ergänzenden Stellungnahme vom 1. Juni 1982 sowie dem Gutachten des Prof. vom 28. August 1986. Prof. hat darauf hingewiesen, daß ein ursächlicher Zusammenhang lediglich theoretisch denkbar wäre, wenn der Unfall vom 22. Juli 1966 zu einer erheblichen Durchblutungsstörung des drei Monate alten Feten mit wesentlichen Zelluntergängen im Gehirn geführt hätte. Nach den weiteren einleuchtenden Darlegungen des Arztes ist dies aber sehr unwahrscheinlich, weil die Mutter der Klägerin durch den Unfall keinen körperlichen Schaden, sondern allenfalls einen schweren Schrecken davongetragen hat. Die relative Geringfügigkeit des Unfallereignisses läßt sich auch aus der Tatsache schließen, daß vor 1981 bei der Erhebung der Vorgeschichte für die Klägerin offenbar niemals von der Mutter auf den Unfall während der Schwangerschaft hingewiesen worden war. Stets war davon die Rede, daß Schwangerschaft (abgesehen von einer leichten Zuckererhöhung) und Geburt normal verlaufen sind. Desgleichen spricht das normale EEG nach der Beurteilung des Prof. gegen einen derartigen Zelluntergang im Gehirn. Auch eine erhebliche Unterkühlung der Mutter, die nach Auffassung der Klägerin als Ursache ihrer Gesundheitsstörungen in Betracht zu ziehen ist, hat Prof. für unwahrscheinlich gehalten. Dem schließt sich der Senat in Anbetracht dessen, daß die Mutter der Klägerin im zeitlichen Zusammenhang mit dem hier streitigen Ereignis nach ihren eigenen Angaben keine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hat, an.
Prof. hat in seinem Gutachten vom 28. August 1986 ebenfalls einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Ereignis vom 22. Juli 1966 und der Hirnfunktionsstörung lediglich als möglich erachtet. Es gibt keinen sicheren Hinweis darauf, daß die damals in Gang befindliche Schwangerschaft durch die mit dem "Hochwassererlebnis” verbundene Schreckreaktion der Mutter negativ beeinflußt wurde. Falls die Hirnentwicklung in der 10. Embryonalwoche, als sich der Unfall ereignete, wegen Mangeldurchblutung gestört worden wäre, wäre zumindest auch eine Beeinträchtigung des Massenwachstums des Gehirns zu erwarten gewesen, was jedoch nicht der Fall war. Auch fehlen zusätzliche Anomalien, die auf eine Störung in der Frühschwangerschaft hindeuten. Schließlich spricht nach den auch insoweit keine Fehlbeurteilung erkennen lassenden Darlegungen des Prof. die Art der geistigen Behinderung gegen eine globale Schädigung des Gehirns, sondern eher für eine lokalisierte.
Das Gutachten des Sachverständigen Prof. vom 14. Oktober 1985 und seine ergänzende Stellungnahme vom 16. Februar 1987 führt zu keiner anderen Beurteilung. In dem genannten Gutachten ist der. Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, daß es sich bei den Leiden der Klägerin um eine während der Schwangerschaft akquirierte Störung handele, wenn andere Ursachen (eine chromosomale Abweichung oder eine angeborene/erworbene Stoffwechselerkrankung) nicht nachgewiesen werden könnten. Zutreffend hat das SG in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, daß der Sachverständige insoweit die Rechtsgrundsätze der gesetzlichen Unfallversicherung verkennt. Für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Unfallereignis und konkreten Gesundheitsstörungen reicht es nicht aus, daß andere denkbare Ursachen ausgeschlossen werden können (Urteil des erkennenden Senats vom 12. Juli 1989 – L-3/U-139/85). Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie in Bezug auf die vorliegende Erkrankung – bei einem erheblichen Teil aller vergleichbaren Fälle die konkrete Erkrankungsursache nicht feststellbar ist. Davon ist im Falle der Klägerin aber auszugehen. Prof. hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß trotz sorgfältiger Untersuchung bei etwa 40 % der geistig behinderten Menschen nicht angegeben werden kann, welches die Ursache der Behinderung ist. Dies gelte auch für die Klägerin. Im übrigen ergibt sich aus der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Prof. vom 16. Februar 1987, daß er der Beurteilung des Prof. dessen Gutachten er ausdrücklich als "sehr sorgfältig und wissenschaftlich exakt” bezeichnet hat, grundsätzlich beipflichtet. Er hat nämlich selbst eingeräumt, daß die Kenntnisse und Beobachtung frühester kindlicher Sauerstoffmangelzustände noch wenig erforscht und bekannt ist, weil es in deren Folge sehr häufig zur Fehlgeburt kommt. Wegen der mangelnden Befunde und exakten wissenschaftlichen Kenntnis der Auswirkung von bestimmten Noxen, die qualitativ ebenfalls nicht faßbar seien, sei es schwer, wissenschaftlich überzeugende und letztendlich mit hoher Wahrscheinlichkeit aussagekräftige Feststellungen zu machen. Es liege "im Bereich des Möglichen” daß durch das Schreckereignis der Krankheitszustand bei der Klägerin ausgelöst worden sei.
Schließlich ergibt sich auch aus der Stellungnahme des Prof. vom 23. April 1986 kein Ansatzpunkt für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs. Danach vermochte die im Institut für Humangenetik der Universität durchgeführte Chromosomenuntersuchung und auch die Aminosäurebestimmung im Serum eine ätiologische Erklärung der Entwicklungsstörung der Klägerin nicht zu geben. Auch die sonstige körperliche Untersuchung erlaubte keine Zuordnung zu einem bekannten Syndrom. Zwar hat Prof. ausgeführt, daß die bei der Klägerin an der rechten Hand vorliegende Vier-Finger-Furche mit Vorbehalt eher dafür spreche, daß ihre abweichende Entwicklung bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft und nicht erst peri- oder postnatal eingesetzt habe. Es sei jedoch zu beachten, daß es nicht sicher sei, daß zwischen dem Auftreten einer einseitigen Vier-Finger-Furche und der Entwicklungsstörung im vorliegenden Fall ein Zusammenhang bestehe; eine einseitige Vier-Finger-Furche werde bei 5 bis 10 % der Bevölkerung beschrieben. Zu Recht hat das SG hierzu ausgeführt, daß diese ärztlichen Darlegungen nicht so gravierend seien, daß sie die gegen einen ursächlichen Zusammenhang sprechenden Erwägungen verdrängen könnten.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, diejenige über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin aus Anlaß eines vor ihrer Geburt liegenden Ereignisses aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigen ist.
Die Klägerin wurde 1967 als Tochter von und geboren. Der Vater ist als landwirtschaftlicher Unternehmer bei der Beklagten versichert.
Bereits im Jahre 1968 wurde bei der Klägerin eine frühkindliche Hirnschädigung festgestellt. In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der P.-Universität wurden außerdem eine Oligophrenie (Imbezillität) und ein autistisches Syndrom diagnostiziert. Wegen dieser Schädigungen erkannte das Versorgungsamt die Klägerin als Schwerbehinderte mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. an.
Im Juni 1981 beantragte die Klägerin durch ihre Eltern die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Antrag wurde damit begründet, daß ihre Leiden während der Schwangerschaft ihrer Mutter entstanden seien, als diese im dritten Schwangerschaftsmonat im Sommer 1966 wegen eines Hochwassers Rinder von der Weide geholt habe und dabei fast ertrunken sei. Anläßlich ihrer Vernehmung vor der Ortspolizeibehörde gab die Mutter der Klägerin an, sie sei am 22. Juli 1966 infolge eines starken Gewitters gezwungen gewesen, Jungvieh von der Weide zu holen. Anfangs habe sich das Wasser etwa in Knöchelhöhe befunden. In einer Zeit von ungefähr 15 Minuten sei das Wasser durch einen Wasserschwall auf eine Höhe von ca. 120 cm angestiegen. Sie habe durch die entstehende Panik einen Schock erlitten, der nach ihrer Ansicht Auswirkungen auf die Entwicklung der Leibesfrucht gehabt habe. Auch der Rentner bestätigte bei seiner polizeilichen Vernehmung, daß bei der Rettungsaktion das Wasser etwa 120 cm hoch gestanden habe.
Nachdem die Ermittlungen der Beklagten keine besonderen Vorkommnisse während der Schwangerschaft der Mutter der Klägerin erbracht hatten, beauftragte sie Prof. Dr. von Institut für Humangenetik der Universitätsklinik mit der Erstellung eines Zusammenhangsgutachtens. Im Gutachten vom 2. Februar 1982 führte Prof. Dr. im wesentlichen aus, es sei unwahrscheinlich, daß das angeschuldigte Ereignis geeignet sei, die in Gang befindliche Schwangerschaft der Mutter negativ zu beeinflussen. Das Auftreten des Hirnschadens sei mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder auf eine Schädigung unter der Geburt oder auf eine erbliche Stoffwechselstörung, vielleicht auch auf eine Chromosomenanomalie zurückzuführen. Möglicherweise handele es sich auch noch um eine Krankheit anderer Art, die nichts mit dem Unfall zu tun habe. Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 23. März 1982 eine Entschädigung der Klägerin aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Mit dem hiergegen am 29. März 1982 eingelegten Widerspruch machte die Klägerin im wesentlichen geltend, der Gutachter Prof. Dr. habe nicht berücksichtigt, daß durch den Aufenthalt im Wasser eine Unterkühlung stattgefunden habe, die zu erheblichen Durchblutungsstörungen geführt haben könne. In seiner daraufhin eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom 1. Juni 1982 führte Prof. Dr. aus, daß er eine Unterkühlung der Mutter der Klägerin durch das im Juli 1966 stattgefundene Ereignis für ausgeschlossen halte. Mit Widerspruchsbescheid vom 24. August 1982 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch als unbegründet zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 24. September 1982 Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) Marburg hat den Befundbericht des Facharztes für innere Krankheiten Dr. vom 15. Februar 1983 und – eine stationäre Behandlung der Mutter der Klägerin im Jahre 1963 betreffende – ärztliche Unterlagen des Zentrums für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in sowie Auskünfte des Deutschen Wetterdienstes vom 10. April 1984 und des Magistrats der Stadt vom 9. April 1984 eingeholt. Des weiteren hat das SG in einem Termin zur Beweisaufnahme am 27. April 1984 das Gelände, auf dem sich am 22. Juli 1966 der Vorfall ereignete, in Augenschein genommen und den früheren Ortsbürgermeister und früheren Ortsbeirat Gruß als Zeugen vernommen sowie den Dipl.-Ing. vom Wasserwirtschaftsamt als Sachverständigen gehört. Sodann hat das SG von Amts wegen das Gutachten des Chefarztes der Frauenklinik der Kliniken in Prof. Dr. vom 14. Oktober 1985 und – im Anschluß an die von der Beklagten vorgelegten Stellungnahmen des Prof. Dr. Direktor des Instituts für in , vom 23. April 1986 und ihres beratenden Arztes Prof. Dr. vom 22. September 1986 sowie das neuropädiatrische Gutachten des Leiters der Abteilung Neuropädiatrie des Medizinischen Zentrums für Kinderheilkunde der Universität vom 28. August 1986 – dessen ergänzende Stellungnahme vom 16. Februar 1987 eingeholt. Sodann hat es mit Urteil vom 11. Mai 1987 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, es sei zwar nach der durchgeführten Beweisaufnahme davon auszugehen, daß sich am 22. Juli 1966 ein Arbeitsunfall ereignet habe. Doch seien die Schädigungen der Klägerin nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf diesen Unfall zurückzuführen. Dies ergebe sich aus den überzeugenden Gutachten vom 2. Februar 1982 (Prof. ) und 28. August 1986. Auch Prof. Dr. sei zu dem Ergebnis gekommen, daß ein Zusammenhang zwischen den Schädigungen der Klägerin und dem Ereignis vom 22. Juli 1966 lediglich möglich, aber nicht eindeutig zu beweisen sei.
Gegen dieses ihr am 26. Mai 1987 zugestellte Urteil richtet sich die am 22. Juni 1987 eingegangene Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Ihrer Ansicht nach hat das SG die Ausführungen des Prof. Dr. nicht hinreichend gewürdigt. Es erscheine deshalb erforderlich, daß der Gutachter Gelegenheit erhalte, seine Meinung vor dem Gericht darzulegen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 11. Mai 1987 und den Bescheid der Beklagten vom 23. März 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 1982 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 22. Juli 1966 als Arbeitsunfall zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Unfallakte der Beklagten und der Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 145 und 151 Sozialgerichtsgesetz –SGG–), in der Sache jedoch unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, weil der Bescheid der Beklagten vom 23. März 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 1982 rechtlich nicht zu beanstanden ist. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Zwar stand sie am 22. Juli 1966, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren und damit nicht rechtsfähig war, auch als Leibesfrucht grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 555 a Reichsversicherungsordnung –RVO–). Ein Unfallereignis vermag jedoch nur dann Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu begründen, wenn es in ursächlichem Zusammenhang mit einer Gesundheitsstörung steht. Dabei muß nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung dieser Zusammenhang wenn auch nicht bewiesen, so aber doch wenigstens hinreichend wahrscheinlich sein. Die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs ist nur dann gegeben, wenn bei vernünftiger Abwägung aller für und gegen den Zusammenhang sprechenden Umstände die für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen so stark überwiegen, daß die dagegen gerichteten billigerweise für die Bildung und Rechtfertigung der richterlichen Überzeugung außer Betracht bleiben müssen (Bundessozialgericht –BSG– SozR § 542 RVO a.F. Nr. 20; Lauterbach-Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Auflage, Anm. 17 zu § 548). Demgegenüber reicht die bloße Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zur Anspruchsbegründung – wie das SG zutreffend ausgeführt hat – nicht aus.
Bei Beachtung dieser Grundsätze ist zur Überzeugung des Senats nicht die notwendige Wahrscheinlichkeit zwischen dem Ereignis vom 22. Juli 1966 und der geistigen Behinderung, an der die Klägerin aufgrund der frühkindlichen Hirnschädigung leidet, gegeben. Der Senat folgt den überzeugenden Ausführungen des Prof. in dem Gutachten vom 2. Februar 1982 und der ergänzenden Stellungnahme vom 1. Juni 1982 sowie dem Gutachten des Prof. vom 28. August 1986. Prof. hat darauf hingewiesen, daß ein ursächlicher Zusammenhang lediglich theoretisch denkbar wäre, wenn der Unfall vom 22. Juli 1966 zu einer erheblichen Durchblutungsstörung des drei Monate alten Feten mit wesentlichen Zelluntergängen im Gehirn geführt hätte. Nach den weiteren einleuchtenden Darlegungen des Arztes ist dies aber sehr unwahrscheinlich, weil die Mutter der Klägerin durch den Unfall keinen körperlichen Schaden, sondern allenfalls einen schweren Schrecken davongetragen hat. Die relative Geringfügigkeit des Unfallereignisses läßt sich auch aus der Tatsache schließen, daß vor 1981 bei der Erhebung der Vorgeschichte für die Klägerin offenbar niemals von der Mutter auf den Unfall während der Schwangerschaft hingewiesen worden war. Stets war davon die Rede, daß Schwangerschaft (abgesehen von einer leichten Zuckererhöhung) und Geburt normal verlaufen sind. Desgleichen spricht das normale EEG nach der Beurteilung des Prof. gegen einen derartigen Zelluntergang im Gehirn. Auch eine erhebliche Unterkühlung der Mutter, die nach Auffassung der Klägerin als Ursache ihrer Gesundheitsstörungen in Betracht zu ziehen ist, hat Prof. für unwahrscheinlich gehalten. Dem schließt sich der Senat in Anbetracht dessen, daß die Mutter der Klägerin im zeitlichen Zusammenhang mit dem hier streitigen Ereignis nach ihren eigenen Angaben keine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hat, an.
Prof. hat in seinem Gutachten vom 28. August 1986 ebenfalls einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Ereignis vom 22. Juli 1966 und der Hirnfunktionsstörung lediglich als möglich erachtet. Es gibt keinen sicheren Hinweis darauf, daß die damals in Gang befindliche Schwangerschaft durch die mit dem "Hochwassererlebnis” verbundene Schreckreaktion der Mutter negativ beeinflußt wurde. Falls die Hirnentwicklung in der 10. Embryonalwoche, als sich der Unfall ereignete, wegen Mangeldurchblutung gestört worden wäre, wäre zumindest auch eine Beeinträchtigung des Massenwachstums des Gehirns zu erwarten gewesen, was jedoch nicht der Fall war. Auch fehlen zusätzliche Anomalien, die auf eine Störung in der Frühschwangerschaft hindeuten. Schließlich spricht nach den auch insoweit keine Fehlbeurteilung erkennen lassenden Darlegungen des Prof. die Art der geistigen Behinderung gegen eine globale Schädigung des Gehirns, sondern eher für eine lokalisierte.
Das Gutachten des Sachverständigen Prof. vom 14. Oktober 1985 und seine ergänzende Stellungnahme vom 16. Februar 1987 führt zu keiner anderen Beurteilung. In dem genannten Gutachten ist der. Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, daß es sich bei den Leiden der Klägerin um eine während der Schwangerschaft akquirierte Störung handele, wenn andere Ursachen (eine chromosomale Abweichung oder eine angeborene/erworbene Stoffwechselerkrankung) nicht nachgewiesen werden könnten. Zutreffend hat das SG in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, daß der Sachverständige insoweit die Rechtsgrundsätze der gesetzlichen Unfallversicherung verkennt. Für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Unfallereignis und konkreten Gesundheitsstörungen reicht es nicht aus, daß andere denkbare Ursachen ausgeschlossen werden können (Urteil des erkennenden Senats vom 12. Juli 1989 – L-3/U-139/85). Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie in Bezug auf die vorliegende Erkrankung – bei einem erheblichen Teil aller vergleichbaren Fälle die konkrete Erkrankungsursache nicht feststellbar ist. Davon ist im Falle der Klägerin aber auszugehen. Prof. hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß trotz sorgfältiger Untersuchung bei etwa 40 % der geistig behinderten Menschen nicht angegeben werden kann, welches die Ursache der Behinderung ist. Dies gelte auch für die Klägerin. Im übrigen ergibt sich aus der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Prof. vom 16. Februar 1987, daß er der Beurteilung des Prof. dessen Gutachten er ausdrücklich als "sehr sorgfältig und wissenschaftlich exakt” bezeichnet hat, grundsätzlich beipflichtet. Er hat nämlich selbst eingeräumt, daß die Kenntnisse und Beobachtung frühester kindlicher Sauerstoffmangelzustände noch wenig erforscht und bekannt ist, weil es in deren Folge sehr häufig zur Fehlgeburt kommt. Wegen der mangelnden Befunde und exakten wissenschaftlichen Kenntnis der Auswirkung von bestimmten Noxen, die qualitativ ebenfalls nicht faßbar seien, sei es schwer, wissenschaftlich überzeugende und letztendlich mit hoher Wahrscheinlichkeit aussagekräftige Feststellungen zu machen. Es liege "im Bereich des Möglichen” daß durch das Schreckereignis der Krankheitszustand bei der Klägerin ausgelöst worden sei.
Schließlich ergibt sich auch aus der Stellungnahme des Prof. vom 23. April 1986 kein Ansatzpunkt für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs. Danach vermochte die im Institut für Humangenetik der Universität durchgeführte Chromosomenuntersuchung und auch die Aminosäurebestimmung im Serum eine ätiologische Erklärung der Entwicklungsstörung der Klägerin nicht zu geben. Auch die sonstige körperliche Untersuchung erlaubte keine Zuordnung zu einem bekannten Syndrom. Zwar hat Prof. ausgeführt, daß die bei der Klägerin an der rechten Hand vorliegende Vier-Finger-Furche mit Vorbehalt eher dafür spreche, daß ihre abweichende Entwicklung bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft und nicht erst peri- oder postnatal eingesetzt habe. Es sei jedoch zu beachten, daß es nicht sicher sei, daß zwischen dem Auftreten einer einseitigen Vier-Finger-Furche und der Entwicklungsstörung im vorliegenden Fall ein Zusammenhang bestehe; eine einseitige Vier-Finger-Furche werde bei 5 bis 10 % der Bevölkerung beschrieben. Zu Recht hat das SG hierzu ausgeführt, daß diese ärztlichen Darlegungen nicht so gravierend seien, daß sie die gegen einen ursächlichen Zusammenhang sprechenden Erwägungen verdrängen könnten.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, diejenige über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
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