L 12 J 553/88

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 8 J 515/84
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 12 J 553/88
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 31. März 1988 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rücknahme eines Verwaltungsaktes über Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente wegen einer Änderung der Verhältnisse.

Der 1929 geborene Kläger ist gelernter Elektriker und hat in diesem Beruf bis Oktober 1970 gearbeitet. Er hatte 1969 einen Arbeitsunfall mit Verletzung der linken Hand erlitten und deshalb am 13. November 1970 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit beantragt. Im Gutachten der Sozialärztlichen Dienststelle vom 28. Dezember 1970 (Dr. ist ausgeführt, daß eine deutliche Schwäche der linken Hand mit mangelhaftem Faustschluß und Bewegungsstörungen bestehe. Der linkshändige Kläger könne seinen Beruf als Betriebselektriker nicht mehr ausüben. In einem Gutachten des Privatdozenten Dr. , Neurochirurgische Universitätsklinik , vom 15. März 1971 ist ausgeführt, daß eine Wiedereinsatzfähigkeit als Elektriker nur bei einer erfolgreichen Nachoperation denkbar sei. Mit Bescheid vom 22. März 1972 bewilligte die Beklagte Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Oktober 1970.

Mit Schreiben vom 8. Mai 1972 fragte der Kläger bei der Beklagten an, wie viel er zu der Berufsunfähigkeitsrente hinzuverdienen dürfe und wie es sich verhalte, wenn er eine Beschäftigung annehme, bei der er mehr als bisher verdiene. Die Beklagte teilte mit Schreiben vom 14. September 1972 mit, daß es weder eine ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung des Rentenempfängers gebe, die Weiterbeschäftigung oder erneute Aufnahme einer Beschäftigung dem Rentenversicherungsträger anzuzeigen noch einen gesetzlich fixierten Richtsatz, wie viel ein Empfänger von Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit hinzuverdienen dürfe. Ob eine Entziehung der Rente infrage komme, hänge von dem Einzelfall ab.

Der Kläger nahm am 1. September 1972 eine Tätigkeit als Hausmeister bei der Sparkasse auf, die nach der Vergütungsgruppe VII des Bundesangestelltentarifvertrags (BAT) entlohnt wurde. Facharbeiterkenntnisse waren Einstellungsvoraussetzung. Der Kläger teilte die Beschäftigungsaufnahme der Beklagten nicht mit. Im Jahre 1976 übersandte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) einen ärztlichen Entlassungsbericht aus einem Heilverfahren vom 25. Mai 1976, den die Beklagte am 4. August 1976 ihrer ärztlichen Gutachtenprüfstelle vorlegte. Aus dem Entlassungsbericht ging hervor, daß der Kläger als Hausmeister bei einer Sparkasse tätig war.

Eine weitere Nachprüfung der medizinischen Situation fand im Jahre 1979 statt. Der medizinische Sachverständige sah in seiner Stellungnahme vom 20. Dezember 1979 keine Änderung des gesundheitlichen Zustandes und hielt auch eine Wiedervorlage nicht für nötig. Am 4. Februar 1982 teilte der Kläger auf einem von der Beklagten übersandten Anhörungsbogen mit, daß er seit September 1972 als Hausmeister bei der Sparkasse mit einem Monatsgehalt von 1.912,57 DM arbeite. Am 5. und am 23. August 1983 gingen bei der Beklagten Antworten auf Antragen an den Arbeitgeber und die DAK über das Beschäftigungsverhältnis des Klägers ein.

Nach entsprechender Anhörung (Schreiben vom 9. März 1984) entzog die Beklagte mit Bescheid vom 30. März 1984 die Berufsunfähigkeitsrente mit Ende Mai 1984 wegen Änderung der Verhältnisse. Den Widerspruch vom 16. April 1984 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. November 1984 zurück, weil seit Aufnahme der Beschäftigung als Bankangestellter am 1. September 1972 eine Berufsunfähigkeit nicht mehr bestehe. Der Kläger sei als gelernter Facharbeiter zumutbar auf diese tatsächlich ausgeübte Tätigkeit zu verweisen.

Dagegen hat der Kläger am 22. November 1984 Klage vor dem Sozialgericht Kassel erhoben. Das Gericht hat Befundberichte und medizinische Unterlagen bei den behandelnden Ärzten beigezogen und Beweis erhoben und ein schriftliches medizinisches Gutachten bei dem Arzt für Orthopädie Dr. , vom 5. Februar 1987 eingeholt. Darin ist ausgeführt, daß sich die Befundsituation seit den 70er Jahren nicht wesentlich geändert habe. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 9. November 1987 heißt es, daß zwar eine Teil-Reinnervation der vom Nervus ulnaris versorgten Muskeln eingetreten sei, daraus ergebe sich jedoch ein Gebrauchsgewinn um 5 %, maximal 10 %, so daß man nicht von einer wesentlichen, sondern lediglich von einer tendenziellen Besserung sprechen könne, da nach wie vor feinmotorisch anspruchsvolle und kraftaufwendige Tätigkeiten mit einem solchen nervengeschädigten Arm nicht in genügender Weise, insbesondere nicht als Elektriker mit den hier notwendigen Verdrahtungs- und Schaltarbeiten wettbewerbsmäßig ausgeübt werden könnten.

Mit Urteil vom 31. März 1988 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben, weil eine Rücknahme des Bewilligungsbescheides nach § 48 SGB 10 in Verbindung mit § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB 10 nur innerhalb einer Frist von 10 Jahren nach Änderung der Verhältnisse am 1. September 1972 möglich gewesen sei.

Gegen das ihr am 2. Mai 1988 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 10. Mai 1988 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Sie ist der Ansicht, die 10-Jahresfrist nach § 48 Abs. 4 in Verbindung mit § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB 10 gelte nur für eine Aufhebung von Verwaltungsakten für die Vergangenheit. Für die Zukunft könnten sie ohne zeitliche Begrenzung immer aufgehoben werden, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen vorlägen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 31. März 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger, der seit 1. April 1989 Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 AVG durch die BfA bezieht, hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen Einzelheiten der Beweiserhebung und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz –SGG–) ist sachlich unbegründet, weil das Sozialgericht zutreffend entschieden hat, daß die Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 22. März 1972 nicht wegen Änderung der Verhältnisse ab 1. September 1972 am 30. März 1984 aufheben durfte.

Nach § 48 SGB 10 ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. In Abs. 4 der Vorschrift werden unter anderem § 45 Abs. 3 Satz 3 und Abs. 4 SGB 10 für entsprechend anwendbar erklärt.

Eine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand des Klägers ist seit der Rentenbewilligung im Jahre 1972 nicht eingetreten. Dies ergibt sich nicht nur aus den weiteren Ermittlungen der Beklagten, sondern auch aus dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Dr. Eine geringfügige tendenzielle Besserung, die von Dr. festgestellt worden ist, hat keinen Einfluß auf die berufliche Einsetzbarkeit des Klägers und kann deshalb nicht als wesentliche Änderung angesehen werden.

Die Aufnahme einer Tätigkeit als Hausmeister mit einer Entlohnung nach Lohngruppe VII BAT am 1. September 1972 stellt jedoch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse dar. Die zumutbare Verweisbarkeit im Rahmen des § 1246 Abs. 2 RVO bestimmt sich nach dem sog. Vier-Stufen-Schema (ständige Rechtsprechung, u.a. BSGE 43, 243). Danach kann ein Versicherter auf jeden Beruf verwiesen werden, der dem qualitativen Wert des bisherigen Berufes unter Inkaufnahme eines zumutbaren beruflichen Abstiegs angemessen entspricht. Angemessen ist der Abstieg auch dann, wenn er sich um eine Stufe in dem Schema Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion – Facharbeiter – angelernter Arbeiter – ungelernter Arbeiter bewegt. Für den Kläger waren wegen der fehlenden Einsetzbarkeit seiner linken Hand nach seinem Unfall keine Tätigkeiten im erlernten oder in verwandten Berufen, auch nicht auf der Ebene einer angelernten Arbeit, ersichtlich. Für andere, zumindest angelernte Arbeiten fehlte die notwendige Vorbildung. Die danach tatsächlich aufgenommene Tätigkeit als Hausmeister entsprach dann aber sowohl hinsichtlich der Lohnhöhe als auch der beruflichen Qualität einem zumutbaren Verweisungsberuf. Die Anspruchsvoraussetzungen für eine Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit waren damit weggefallen.

Eine Aufhebung des Bewilligungsbescheides im Jahre 1984 war jedoch nicht mehr möglich. § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB 10 verweist auf § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB 10, der eine Aufhebung auch für die Zukunft ausschließt, wenn seit Eintritt der wesentlichen Änderung der Verhältnisse ein Zeitraum von mehr als 10 Jahren vergangen ist.

Die Verweisungsvorschrift in § 48 Abs. 4 SGB 10 ist mißverständlich und bietet einige Auslegungsschwierigkeiten. Zunächst enthält sie ein redaktionelles Versehen. Der Gesetzgeber hat nicht auf Satz 1 des § 45 Abs. 4 SGB 10 verweisen wollen. Die in § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB 10 in Bezug genommenen Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 2 SGB 10 hat der Gesetzgeber nicht in die Regelung des § 48 SGB 10 übernehmen, sondern in seinem Abs. 1 Satz 1 eine abschließende und selbständige Regelung darüber treffen wollen, welche Umstände die Aufhebung des Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit rechtfertigen könnten (BSG, Urteil vom 24. März 1983 in SozR 5870 § 2 BKGG Nr. 30). Weiterhin macht die Verweisungsanordnung des § 48 Abs. 4 SGB 10 nicht hinlänglich deutlich, daß allein die Rechtsfolgen der entsprechenden Fristenbestimmungen in § 45 SGB 10 angewendet werden sollen, nicht jedoch die Tatbestandsvoraussetzungen. Diese sind abschließend in § 48 Abs. 1 SGB 10 geregelt, eine Übertragung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB 10 wäre schon deshalb systemwidrig, weil die Ausgangsvoraussetzungen bei einem ursprünglich rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt und einem erst durch Änderungen nachträglich aufhebbaren Verwaltungsakt unterschiedlich sind (vgl. LSG Niedersachsen, Urteil vom 16. März 1989 – L-6/U-332/88 – in Breithaupt 1989, S. 729 ff.; LSG Mainz, Urteil vom 9. Mai 1989 – L-4/V-107/88; Grüner, Verwaltungsverfahren (SGB 10) § 48 2. m.w.N.).

Die Ansicht der Beklagten, die 10-Jahresfrist bezöge sich für § 48 SGB 10 nur auf eine Aufhebung für die Vergangenheit, nicht aber für die Zukunft, teilt der Senat nicht. Es gibt keinen sachlichen Grund dafür, warum bei einem nachträglich rechtswidrigen Bescheid zu keiner Zeit eine endgültige Bestandskraft eintreten soll, während Verwaltungsakte bei anfänglicher Rechtswidrigkeit bis auf extreme Ausnahmen grundsätzlich spätestens nach 10 Jahren bestandskräftig werden (LSG Niedersachsen, a.a.O.). Es bedürfte dazu schon einer ausdrücklichen und eindeutigen Anordnung des Gesetzes. Sie ist aus dem Wortlaut jedoch nicht zu entnehmen, die entgegenstehende Ansicht des Verbandskommentars zur RVO (§ 48 SGB 10, Rdnr. 22) ist nicht erläutert und begründet. Die Begründung der Beklagten im Schriftsatz vom 18. Juli 1988 vermag nicht zu überzeugen. Dort wird über die Verweisungskette §§ 48 Abs. 4 Satz 1, 45 Abs. 4 Satz 1, 45 Abs. 3 Satz 3 Ziffer 1 und 45 Abs. 2 Satz 2 Ziffer 2 und 3 SGB 10 geschlossen, daß die 10-Jahresfrist nur gilt, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird. Wie dargestellt, ist aber in § 48 Abs. 4 SGB 10 weder auf § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB 10 noch auf die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 3 Satz 3 verwiesen.

Die 10-Jahresfrist beginnt anstelle der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes in § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB 10 bei entsprechender Anwendung in § 48 SGB 10 zum Zeitpunkt der Änderung (Pickel, SGB 10, § 48 6.). Sie endete am 1. September 1982. Der Kläger, der sich vor Aufnahme der Hausmeistertätigkeit die Rechtslage hat erläutern lassen, hatte bis zur Gewährung des Altersruhegeldes Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1248 Abs. 8 RVO).

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

Die Entscheidung über die Zulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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