L 6 Ar 1212/89

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Ar 1212/89
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Das Verfahren wird ausgesetzt. Dem Europäischen Gerichtshof werden gemäß Art. 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957 (EWGV) zur Vorabentscheidung folgende Fragen vorgelegt:

1.) Ist Art. 177 Satz 3 EWGV dahingehend auszulegen, daß als einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidung selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann, nicht nur die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten, sondern jedes einzelstaatliche Gericht anzusehen und daher zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet ist, dessen konkrete Entscheidung nicht mehr oder nur noch (außerordentlich) angefochten werden kann, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahren vorliegt?

2.) Sind Art. 7 EWGV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft (VO (EWG) 1612/68) dahin auszulegen, daß bei einem Arbeitnehmer, dessen Ehegatte im Ausland wohnt und keinen Arbeitslohn bezieht, in die Lohnsteuerkarte keine ungünstigere Steuerklasse eingetragen werden darf, als bei einem Arbeitnehmer, dessen Ehefrau im Inland wohnt?

3.) Bei Verneinung der Frage zu 2): Ist Art. 68 Abs. 2 der Verordnung 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 über die Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auch Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, VO (EWG) 1408/71, dahingehend auszulegen, daß sich die Verpflichtung zur Berücksichtigung von in einem anderen Mitgliedsstaat wohnenden Familienangehörigen als ob sie im Gebiet des zuständigen Staates wohnen, auch auf Bemessungsfaktoren erstreckt, die die Leistungshöhe beeinflussen und sich ihrerseits danach richten, ob der Arbeitnehmer Familienangehörige hat und diese ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben?

Tatbestand:

I.

Die Beteiligten streiten über die Höhe des dem Kläger ab dem 12. August 1988 gezahlten Arbeitslosengeldes. Umstritten ist insbesondere, ob der Kläger zur Berechnung seines Arbeitslosengeldes statt in die Leistungsgruppe A (Lohnsteuerklasse I), in die Leistungsgruppe C (Lohnsteuerklasse III) einzustufen ist, obwohl er die steuerrechtlichen Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt, weil seine Ehefrau in Spanien lebt und deshalb im Inland nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (§ 38 b Satz 2 Nr. 3 a, aa Einkommenssteuergesetz (EStG) i.V.m. § 1 EStG).

Der 1938 geborene Kläger ist spanischer Staatsangehöriger und war vom 24. Juli 1968 bis 20. Juli 1988 bei der Firma und KG in als Gummiwerker beschäftigt. Er ist verheiratet und hat einen 1975 geborenen Sohn. Dieser und die Ehefrau des Klägers, die keiner Beschäftigung nachgeht, sondern Hausfrau ist, leben in Spanien. Auf der Lohnsteuerkarte des Klägers war für das Jahr 1988 ebenso wie auf den Steuerkarten für die Folgejahre daher die Steuerklasse I ohne Kinder eingetragen.

Nachdem sich der Kläger am 21. Juli 1988 bei der Beklagten arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt hatte, bewilligte ihm diese mit Bescheid vom 24. August 1988 Arbeitslosengeld ab dem 12. August 1988 unter Zugrundelegung eines Leistungssatzes von 68 v.H. und der Leistungsgruppe A, d.h. konkret für ein maßgebliches Arbeitsentgelt in Höhe von DM 730,– wöchentlich ein Arbeitslosengeld in Höhe von DM 309,– wöchentlich. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 1988 zurück.

Mit der hiergegen am 21. Oktober 1988 erhobenen Klage machte der Kläger weiterhin geltend, die Beklagte habe bei seiner Zuordnung zu den Leistungsgruppen des § 111 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) Art. 68 Abs. 2 VO (EWG) 1408/71 nicht beachtet und seine in Spanien lebende Ehefrau unberücksichtigt gelassen. Bei Berücksichtigung seiner in Spanien lebenden Ehefrau sei er der Leistungsgruppe C (Lohnsteuerklasse III) zuzuordnen und habe daher Anspruch auf das hiernach höhere Arbeitslosengeld.

Mit Urteil vom 27. September 1989 wies das Sozialgericht Kassel die Klage ab. Zur Begründung führte das Sozialgericht im wesentlichen aus, daß die Beklagte den Kläger zu Recht der Leistungsgruppe A zugeordnet habe, da auf dessen Lohnsteuerkarte für das Jahr 1988 die Steuerklasse I eingetragen gewesen sei. Diese Steuerklasse sei selbst dann maßgeblich, wenn sie unrichtig sei (Berufung auf BSG Urteil vom 12. Juli 1989 – 7 RAr 58/88 –). Aus Art. 68 Abs. 2 der VO (EWG) 1408/71 ergebe sich nichts anderes. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien nicht gegeben, weil sich die Höhe des Arbeitslosengeldes nicht nach der Zahl der Familienangehörigen richte. Keinesfalls könne aufgrund dieser Vorschrift eine andere als die eingetragene Lohnsteuerklasse fingiert werden.

Gegen dieses dem Kläger am 9. Oktober 1989 zugestellte Urteil richtet sich dessen am 2. November 1989 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung rügt der Kläger, daß es das Sozialgericht versäumt habe, das Verfahren auszusetzen und die entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gemäß Art. 177 EWGV zur Vorabentscheidung vorzulegen. Er verweist hierzu auf den Vorlagebeschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 5. Dezember 1989 – 11 RAr 135/88 –.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 27. September 1989 aufzuheben, die Bescheide vom 24. August 1988 vom 3. März 1989 und vom 11. Juli 1989 abzuändern sowie den Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 1988 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 12. August 1988 Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe C zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält die Berufung gemäß § 147 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für unzulässig, da der Kläger höheres Arbeitslosengeld begehre. Im übrigen verweist sie auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils.

Entscheidungsgründe:

II.

Nach innerstaatlichem Recht der Bundesrepublik ist die form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) Berufung gemäß § 147 SGG nicht statthaft. Nach dieser Vorschrift ist die Berufung nicht zulässig in Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe, soweit sie Beginn oder Höhe der Leistung betrifft. Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des dem Kläger gezahlten Arbeitslosengeldes im Streit, so daß es sich hierbei um einen Höhenstreit im Sinne des § 147 SGG handelt. Die Berufung ist daher hiernach unzulässig. Das Sozialgericht hat die Berufung auch nicht gemäß § 150 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Zulässig könnte die Berufung allenfalls nach § 150 Abs. 2 SGG sein, sofern ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wurde und auch tatsächlich vorliegt. Als Verfahrensmangel in diesem Sinne ist nur ein Verstoß gegen eine Vorschrift anzusehen, die das gerichtliche Verfahren regelt. Der Mangel kann sich demnach nicht auf den sachlichen Inhalt des Urteils beziehen, sondern allein auf das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil. Dabei ist wesentlich nur derjenige Mangel, auf dem das Urteil beruhen kann, bei dem also die Möglichkeit besteht, daß er das Urteil beeinflußt hat (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, Komm., 3. Aufl., § 150 Anm. 15 und 18).

Der Kläger hat vorliegend als wesentlichen Verfahrensmangel gerügt, daß es das erstinstanzliche Gericht unterlassen habe, das Verfahren auszusetzen und die entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 177 EWGV vorzulegen. Diese Verfahrensrüge greift durch, wenn die vorliegend entscheidungserhebliche Rechtsfrage eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof erforderlich macht und das erstinstanzliche Gericht als Gericht im Sinne von Art. 177 Satz 3 EWGV anzusehen ist, dessen Entscheidung selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann und daher zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet war. Der Europäische Gerichtshof hat hierzu in der CILFIT-Entscheidung (Urteil vom 6. Oktober 1982, Rs 283/81 = Slg. 1982, S. 3431 = NJW 1983, S. 1257 ff.) entschieden, daß eine Vorlagebedürftigkeit bzw. Vorlagepflicht dann besteht, wenn in einem Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt wird, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, daß die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, daß die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder daß die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft zu beurteilen.

An der Erforderlichkeit einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof besteht hiernach für den vorliegenden Fall kein Zweifel. Dies wird zum einen belegt durch den Vorlagebeschluß des Bundessozialgerichts vom 5. Dezember 1989 – 11 RAr 135/88 – und zum anderen durch die unterschiedlichen Meinungen in der Literatur zur Vereinbarkeit der Regelung des § 111 Abs. 1 AFG mit Vorschriften des Europäischen Gemeinschaftsrechts (vgl. hierzu Hennig/Kühl/Heuer, AFG, Komm., Art. 68 EWG (VO) 1408/71 Anm. 3 einerseits sowie Lörcher/Schumacher, in: Barwig/Lörcher/Schumacher (Hrsg), Soziale Sicherung und Auslandsaufenthalt, S. 203 ff.; Schuler, Das internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1988, S. 686, 691 andererseits). Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes hierzu liegt bislang nicht vor.

Darüber hinaus ist auch der Begriff des letztinstanzlichen Gerichts im Sinne von Art. 177 EWGV vom Europäischen Gerichtshof bislang noch nicht eindeutig geklärt worden und in der Literatur umstritten. Nach einer konkreten (funktionellen) Betrachtungsweise bezieht sich die Vorlagepflicht nach der konkreten Anfechtbarkeit der zu treffenden Entscheidung ohne Rücksicht auf die Stellung des Gerichts innerhalb der Gerichtshierarchie, nach einer abstrakten (institutionellen) Auffassung sind ausschließlich die obersten Gerichte in der Gerichtshierarchie vorlageverpflichtet (zum Meinungsstand vgl. z.B. Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1986, S. 44 ff.; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag, 1985, S. 70 ff. jeweils m.w.N.). Unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH vom 24. Mai 1977, Rs 107/76 = NJW 1977, S. 1585 neigt der Senat vorliegend dazu, eine Vorlagepflicht des Sozialgerichts deswegen anzunehmen, weil das Vordergericht die Berufung nicht gemäß § 150 Nr. 1 SGG zugelassen hat. In diesem Fall ist die Entscheidung des Sozialgerichts nicht mehr mit Rechtsmitteln anfechtbar im Sinne von Art. 177 S. 3 EWGV. Gegen die Nichtzulassung der Berufung durch das Sozialgericht gibt es kein Rechtsmittel, insbesondere besteht keine Möglichkeit für eine Nichtzulassungsbeschwerde wie gegen Urteile der Landessozialgerichte bei nicht zugelassener Revision gemäß § 160 a SGG (zur Nichtzulassungsbeschwerde als Rechtsmittel im Sinne von Art. 177 EWGV vgl. z.B. BVerwG Beschluss vom 15. Mai 1990, 1 B 65.90 = InfAuslR 1990, S. 293 f.; Mutke, Die unterbliebene Vorlage an den Europäischen Gerichtshof als Revisionsgrund im Verwaltungsprozeß, DVBl. 1987, S. 403, 405). Das Sozialgericht entscheidet abschließend (h.M.s. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 150 Anm. 9, 14). Die Möglichkeit, die Berufungsnichtzulassung im Falle der Willkürlichkeit zu überwinden, ist dabei ebenso wie die Berufungsmöglichkeit wegen Vorliegens eines wesentlichen Verfahrensmangels aufgrund ihrer spezifischen Begrenzungen als außerordentliches Rechtsmittel außer Betracht zu lassen.

Diese Auslegung des Art. 177 EWGV entspricht der vorrangigen Geltung des Europäischen Gemeinschaftsrechts gegenüber innerstaatlichem Recht und unterstützt diese verfahrensrechtlich. Hierdurch wird verhindert, daß dem Einzelnen wegen etwaiger fehlerhafter Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts ein endgültiger Schaden droht, ohne daß im Hinblick auf die Möglichkeit der Berufungszulassung durch die Sozialgerichte mit einer Überlastung des Europäischen Gerichtshofs zu rechnen wäre (im Ergebnis ebenso Lenz, aktuelle Probleme des EWG-Sozialrechts, SGb 1988, S. 1 ff., 2). Diese nach Auffassung des Senats gemäß Art. 177 Satz 3 EWGV im Falle der Nichtzulassung der Berufung für das Sozialgericht gebotene aber unterbliebene Vorlage an den Europäischen Gerichtshof würde einen Verfahrensfehler bedeuten, der im oben genannten Sinne wesentlich wäre, da eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die entscheidungserhebliche Rechtsfrage das Urteil des Sozialgerichts möglicherweise beeinflußt hätte.

Da der Begriff des letztinstanzlichen Gerichts vom Europäischen Gerichtshof – wie bereits erwähnt – noch nicht abschließend umschrieben und geklärt ist, war ihm (auch) diese Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

III.

Hinsichtlich der Fragen unter Ziffer 2 und 3 wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen in dem bereits genannten Vorlagebeschluß des Bundessozialgerichts vom 5. Dezember 1989 – 11 RAr 135/88 – verwiesen. Diesen Ausführungen schließt sich der erkennende Senat vollinhaltlich an.
Rechtskraft
Aus
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