L 3 U 1451/84

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 4 U 223/82
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 1451/84
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 29. August 1984 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob bei dem 1923 geborenen und 1974 verstorbenen Versicherten K. G. (G.) die zum Tode führende Bronchialkarzinomerkrankung als Berufskrankheit oder wie eine Berufskrankheit zu entschädigen ist und der Klägerin als Witwe des G. Hinterbliebenenleistungen zustehen.

Die Klägerin stellte am 4. Juli 1981 Antrag auf Hinterbliebenenrente. Zur Begründung führte sie aus, G. sei laut ärztlicher Bescheinigung von Dr. Sch. vom 11. Dezember 1974 an Bronchialkrebs gestorben, weil er Asbestarbeiten bei der Herstellung von Dächern verrichtet habe. Auf Anfrage der Beklagten teilte die Klägerin mit, G. habe von 1937 bis 1941 und von 1946 bis 1948 als Dachdecker im elterlichen Betrieb gearbeitet. Von 1949 an sei er selbständig gewesen und habe unter anderem Wellasbestdächer hergestellt. An die genauen Arbeitsorte könne sie sich jedoch nicht mehr erinnern. Für die Art der durchgeführten Arbeiten könne sie nur noch die Zeugen V. P. und K. benennen. Der Zeuge K. teilte mit, daß er mit G. zusammen von 1954 bis 1965 alle Arbeiten, die im Dachdeckerhandwerk angefallen seien, verrichtet habe. Dabei sei Schiefereternit, Welleternit und Platteneternit verarbeitet worden. G. habe selbst bei den anfallenden Arbeiten mit Hand angelegt. Der Zeuge P. gab die Auskunft, daß er mit G. von 1951 bis 1971 zusammengearbeitet habe. Im übrigen machte er dieselben Angaben wie der Zeuge K. was auch für den Zeugen V. gilt, der mit G. 35 Jahre zusammengearbeitet hat. Oberarzt Dr. S. (Stadtkrankenhaus O. – Medizinische Klinik II) führte in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 4. November 1981 aus, G. sei von August bis September 1974 stationär behandelt worden. Aus den zur Verfügung stehenden Aufzeichnungen über die von G. seinerzeit gemachten Angaben zur Krankenvorgeschichte hätten sich keine Hinweise auf Arbeiten mit Asbest ergeben. Es sei leider trotz intensiven Bemühens nicht gelungen, noch Röntgenaufnahmen von G. aufzufinden. Aus den noch zur Verfügung stehenden Befundberichten über die Röntgenaufnahmen seien Veränderungen am Lungengefüge, die sich röntgenologisch bei Asbeststaublungenerkrankungen darzustellen pflegten, nicht beschrieben worden. Auffallend sei lediglich ein kleinapfelgroßer Rundherd im Bereich des posterioren Oberlappensegmentes rechts, bei dem von vornherein der Verdacht auf ein Karzinom bestanden habe, was anschließend auch durch die Punktion dieses Herdes und die nachfolgende histologische Auswertung bestätigt worden sei. Da anamnestische Hinweise auf Umgang mit Asbest nicht vorgelegen hätten, seien auch Sputum-Untersuchungen unterblieben. In seiner Stellungnahme vom 31. März 1982 vertrat die Landesgewerbeärztin Dr. P. die Auffassung, in der Auswertung der ihr vorliegenden Röntgenthoraxaufnahmen aus dem Jahre 1974 sei zu erkennen, daß bei G. ein Bronchialkarzinom vorgelegen habe, an dessen Folgen er verstorben sei. Sichere Hinweise für das gleichzeitige Vorkommen einer Asbestose lägen nicht vor. Auch finde sich kein Anhalt für ein durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfelles. Die histologische Untersuchung eines Lungenpunktates habe keine Zeichen für eine Asbestose ergeben. Eine Berufskrankheit habe demgemäß zu Lebzeiten bei G. nicht bestanden.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 26. Juli 1982 lehnte die Beklagte Hinterbliebenenleistungen gegenüber der Klägerin ab mit der Begründung, daß G. zwar an einem Bronchialkarzinom verstorben sei, sich jedoch aus den ärztlichen Unterlagen keine Anzeichen für das Vorliegen einer Asbestose ergeben hätten. Es habe somit zu dessen Lebzeiten keine entschädigungspflichtige Berufskrankheit nach Nrn. 4103, 4104 oder 4105 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vorgelegen.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 20. August 1982 beim Sozialgericht (SG) Frankfurt am Main Klage erhoben. Nachdem weitere Röntgenaufnahmen von G. aus den Jahren 1970 und 1974 vorgelegt worden waren, äußerte sich die Landesgewerbeärztin am 1. Dezember 1982 dahingehend, daß zwar auf den Röntgenaufnahmen das diagnostizierte Bronchialkarzinom zu sehen sei, sichere Hinweise für das gleichzeitige Vorliegen einer Asbeststaublungenerkrankung jedoch nicht vorlägen, so daß eine Berufskrankheit nicht begründet werden könne. Falls weiterhin Zweifel bestünden, empfehle sie, ein Gutachten bei Prof. Dr. U. einzuholen. In dem daraufhin am 31. März 1983 erstatteten Gutachten kamen Prof. Dr. U. und Prof. Dr. R. im wesentlichen zu dem Ergebnis, G. habe an keiner Berufserkrankung im Sinne des § 551 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) gelitten. Da Asbestinhalationsfolgen an Lunge, Pleura und Zwerchfell nicht hätten gefunden werden können, lasse sich die Asbestinhalation am Arbeitsplatz nicht als wesentliche Ursache des Bronchialkarzinoms gegenüber anderen konkurrierenden außerberuflichen Lungenkrebs erzeugenden Noxen abgrenzen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse in dieser Frage lägen nicht vor, so daß auch eine Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO nicht in Frage komme. Nachdem weitere Röntgenaufnahmen aus dem Stadtkrankenhaus Offenbach aus dem Jahre 1974 vorgelegt worden waren, nahmen Prof. Dr. U. und Prof. Dr. R. unter dem 14. Juni 1983 ergänzend dahingehend Stellung, daß auch diese Röntgenbilder keine Hinweise auf das Vorliegen einer Asbeststaublungenerkrankung ermöglichten, so daß sich an der rechtlichen Beurteilung, wie sie im Gutachten niedergelegt sei, nichts ändere. Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erstattete Prof. Dr. W. (Leiter des Instituts und der Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der Justus-Liebig-Universität G.) nach Lage der Akten das Gutachten vom 14. Februar 1982. Der Sachverständige führte aus, daß das bei G. zum Tode führende Bronchialkarzinom mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die beruflichen Einwirkungen von Asbeststaub, Teer und Bitumen wesentlich mit verursacht worden sei. Da jedoch weder röntgenologisch noch histologisch eine Asbestose (Lungenfibrose) oder ein Mesotheliom vorgelegen habe, seien die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen einer Berufskrankheit nach Nrn. 4103, 4104 oder 4105 der Anlage 1 zur BKVO nicht wahrscheinlich zu machen. Dagegen sei eine Quasi-Berufskrankheit anzuerkennen, da es sich bei dem zum Tode geführt habenden Leiden von G. um eine Erkrankung handele, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht werde (im Sinne einer wesentlichen Teilursache), denen bestimmte Personengruppen (hier: Dachdecker) durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt seien. Diese Erkenntnisse seien bereits im Jahre 1974 bekannt gewesen und auch international anerkannt worden, so daß davon auszugehen sei, daß das Bronchialkarzinom von G. mit Sicherheit wesentlich durch Asbest verursacht worden sei und daher wie eine Berufskrankheit entschädigt werden müsse. Hierzu hat auf Veranlassung der Beklagten Prof. Dr. V. in dem Gutachten nach Aktenlage vom 16. Mai 1984 wie folgt Stellung genommen: Aufgrund der herrschenden medizinischen Lehrmeinung, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung anzuwenden sei, könne ohne histologisch nachgewiesene Minimalasbestose eine erhöhte Frequenz von Bronchialkarzinomen unter Asbeststaubexponierten nicht nachgewiesen werden. Arbeitsmedizinisch-wissenschaftliche Untersuchungen hätten nämlich ergeben, daß unter den ausgewählten Kollektiven Asbeststaubexponierter keine Gruppe existiert habe, in der bei sorgfältiger pathologisch-anatomischer Untersuchung die Lunge frei von einer Asbestose gewesen sei und dennoch dieses Kollektiv eine erhöhte Bronchialkarzinomfrequenz aufgewiesen habe. Tatsache sei auch, daß sich der Gesetzgeber aktuell nicht zu einer Änderung der BKVO habe entschließen können. Aus persönlicher Erfahrung sei bekannt, daß die Bemühungen von Prof. Dr. W. um eine Änderung der Anerkennungskriterien der genannten BK-Nummern bei der Diskussion um den Textentwurf mehrheitlich keine Resonanz gefunden hätten. Aus demselben Grunde scheide auch eine Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO aus.

Durch Urteil vom 29. August 1984 hat das SG die Klage abgewiesen. In den Gründen hat es ausgeführt, ein ursächlicher Zusammenhang des Bronchialkarzinoms, an dem G. verstorben sei, mit der beruflichen Tätigkeit sei nicht zu bejahen. Lediglich die Möglichkeit, daß es durch die Arbeit mit asbesthaltigen Stoffen zur Entwicklung des Bronchialkarzinoms gekommen sei, genüge nicht, um den Zusammenhang bejahen zu können. Entgegen dem Gutachten von Prof. Dr. W. fehle es an objektiven Befunden, die eine Veränderung des Lungengewebes durch Asbeststaub belegten. Im übrigen handele es sich um keine "neuen Erkenntnisse” im Sinne von § 551 Abs. 2 RVO, wie Prof. Dr. V. in seiner gutachtlichen Stellungnahme überzeugend nachgewiesen habe. Die Auffassung von Prof. Dr. W. stelle insoweit nicht die herrschende wissenschaftliche Lehrmeinung dar.

Gegen dieses dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 11. Oktober 1984 zugestellte Urteil, hat dieser am 17. Oktober 1984 beim SG Frankfurt am Main Berufung eingelegt.

Wegen des Anspruchs gemäß § 551 Abs. 2 RVO ist das Vorverfahren im Berufungsverfahren nachgeholt worden. Mit Widerspruchsbescheid vom 9. Mai 1985 hat die Beklagte den in der Klageschrift enthaltenen Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung wird ausgeführt, da nach übereinstimmender Beurteilung aller Gutachter eine Asbestose in der Lunge von G. nicht habe gefunden werden können, scheide eine Anerkennung nach Nr. 4104 der Anlage 1 zur BKVO aus. Aber auch eine Anwendung von § 551 Abs. 2 RVO komme nicht in Frage, weil es schon an der Ursächlichkeit zwischen der beruflich bedingten Einwirkung und dem Bronchialkarzinom fehle. Die hier unterstellte schädigende Einwirkung auf die Lunge von G. könne hinweggedacht werden, ohne daß das Bronchialkarzinom mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entfalle. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit für den hier zu betrachtenden Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Bronchialkarzinom lasse sich nicht allein aus der allgemein bekannten Kanzerogenwirkung des Asbests und der lang andauernden Exposition von G. begründen. Auch wenn durch solche Faktoren das Risiko, an Bronchialkarzinom zu erkranken, um ein Mehrfaches gegenüber der Normalbevölkerung erhöht sei, bedeute dies nicht, daß derjenige, auf dessen Lunge Asbest eingewirkt habe, wegen dieser Umstände mit Wahrscheinlichkeit auch erkranken müsse. Von diesem Personenkreis bleibe immer noch eine überwiegend große Anzahl von Personen vom Bronchialkarzinom verschont. Durch die Risikofaktoren "Gefährlichkeit” des Asbests und "Exposition” sei lediglich die für die Anspruchsgewährung nicht ausreichende Beweisstufe der "Möglichkeit” einer Bronchialkarzinomerkrankung zu begründen.

In einer vom Gericht auf Veranlassung der Klägerin angeforderten ergänzenden Stellungnahme vom 12. August 1986 hat Prof. Dr. W. unter Würdigung der Stellungnahme von Prof. Dr. V. das Gutachten vom 24. Februar 1982 voll inhaltlich bestätigt und abschließend ausgeführt, daß für das bei G. zum Tode führende Lungenkrebsleiden die Tatsache einer über 25-jährigen Einatmung des beim Menschen gesichert u.a. Lungenkrebs erzeugenden Arbeitsstoffes Asbest nach allen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und unter Anwendung der Theorie der wesentlich mitwirkenden Bedingung (wesentliche Teilursächlichkeit) nicht hinweggedacht werden könne, ohne daß der am 28. September 1974 eingetretene Tod entfalle. Die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen zur Anwendung der Öffnungsklausel des § 551 Abs. 2 RVO lägen vor.

Auf Veranlassung der Beklagten hat sich Prof. Dr. L. Arzt für Innere Krankheiten und Ordinarius für Arbeitsmedizin in H., am 23. Juni 1987 wie folgt geäußert: Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts müsse dargestellt werden, daß neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse über den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Bronchialkarzinomerkrankung und einer beruflichen Tätigkeit der von G. verrichteten Art vorlägen. Maßgebend sei dabei nicht die Meinung eines einzelnen Wissenschaftlers, sondern die "mehrheitlich” herrschende Auffassung der Fachwissenschaftler. Die Frage der ursächlichen und teilursächlichen Bedeutung einer berufsbedingten Asbeststaubbelastung der Bronchialkarzinome ohne gleichzeitigen Nachweis einer Asbestose (zumindest Minimalasbestose) sei in der Sektion "Arbeitsmedizin” des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) mehrfach, gerade auch nach Erlaß der letzten BKVO (8. Dezember 1976), beraten worden. In Kenntnis der einschlägigen Wissenschaftsliteratur einschließlich der von Prof. Dr. W. vorgelegten "Berufkrebs-Studie Asbest” seien die im Ausschuß vertretenen Fachwissenschaftler mit weit überwiegender Mehrheit aber nicht dem Anliegen von Prof. Dr. W., Anerkennung eines Bronchialkarzinoms ohne Asbestose nach beruflicher Asbeststaubexposition, gefolgt. Dabei sei man der Auffassung gewesen, daß es wissenschaftlich außerhalb jeden Zweifels stehe, daß das einschlägige wissenschaftliche Schrifttum einschließlich der "Berufskrebsstudie Asbest” von Prof. Dr. W. bislang nicht den Beweis erbracht habe, daß Bronchialkarzinome ohne gleichzeitige Asbestose (zumindest Minimalasbestose) bei beruflicher Asbeststaubbelastung häufiger aufträten als bei der übrigen Bevölkerung. Da die generelle Entschädigungswürdigkeit im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO für ein Bronchialkarzinom ohne Asbestose nach dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht zu belegen sei, erübrige sich eine Überprüfung der Frage einer Entschädigungspflicht im Einzelfall. Somit entfielen auch weitere Überlegungen zur konkreten Erkrankungssache des G.

Auf Anfrage des Senats hat der BMA am 18. April 1988 und am 8. Juli 1988 mitgeteilt: Der Verordnungsgeber habe mit der Ausweitung der Nr. 4104 der Anlage 1 zur BKVO deutlich gemacht, daß er sich mit der Problematik "Lungenkrebs nach Asbestexposition” befaßt habe. Das Hinzufügen einer weiteren Begleiterkrankung ("durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura”) zeige, daß der Verordnungsgeber es nach wie vor für notwendig halte, bei Lungenkrebserkrankungen durch Asbeststaub an "Brückensymptomen” als Entschädigungsvoraussetzungen festzuhalten. Hieraus müsse gefolgert werden, daß nach Auffassung des Verordnungsgebers derzeit medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse noch nicht in ausreichendem Maße dafür vorlägen, ein Lungenkrebs nach Asbestexposition auch ohne Begleitasbestose der Lunge oder der Pleura als Berufskrankheit zu bezeichnen. Der Rechtsprechung des BSG folgend könne daher unter Bezug auf den bei Erlaß der Änderungsverordnung gegebenen Wissensstand eine solche Erkrankung auch nicht wie eine Berufskrankheit nach § 551 Abs. 2 RVO entschädigt werden.

Die Klägerin ist der Auffassung, das Gutachten von Prof. Dr. W. beweise das tatsächliche Vorliegen der Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO zur Entschädigung des Lungenkarzinoms und des Todes von G. wie eine Berufskrankheit. Danach sei die Krebserkrankung von G. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf seine berufliche Tätigkeit als Dachdecker zurückzuführen. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO seien erfüllt, da Prof. Dr. W. im einzelnen nachgewiesen und dokumentiert habe, wie sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse gerade in den letzten 10 Jahren seit dem Erlaß der BKVO vom 8. Dezember 1976 entwickelt hätten und sich hier eine herrschende Meinung dahingehend gebildet habe, daß eine derartige Asbest-Exposition zum Tode führe, ohne daß eine Berufskrankheit im Sinne der Ziffern 4103, 4104 oder 4105 der Anlage 1 zur BKVO vorliege. Dies entspreche im übrigen auch der Nr. 28 der IAO-Berufskrankheitenliste, wonach eine Asbeststauberkrankung in die Berufskrankheitenliste aufgenommen worden sei, und zwar auch dann, wenn eine Asbestose nicht vorangegangen sei.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 29. August 1984 und den Bescheid der Beklagten vom 26. Juli 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 1985 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, aufgrund der Gutachten der Prof. Dr. U., V. und L. sei davon auszugehen, daß im vorliegenden Falle eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit nach § 551 Abs. 1 oder Abs. 2 RVO nicht vorliege. Die höchstrichterliche Rechtsprechung stelle ausdrücklich fest, daß die "neuen Erkenntnisse” durch die herrschende Auffassung der Fachwissenschaftler hinreichend gefestigt sein müßten. Vereinzelte Meinungen Sachverständiger reichten nicht aus. Wie die Gutachten von Prof. Dr. V. und Prof. Dr. L. belegten, lägen keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse über die karzinogene Wirkung von Asbestfeinstaub auch ohne Asbestose vor. Die Auffassung von Prof. Dr. W. könne somit nicht als gefestigt angesehen werden.

Wegen der Einzelheiten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und BK-Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; sie ist frist- und formgerecht eingelegt und trotz der in den §§ 144 Abs. 1 und Abs. 2, 145 Nr. 2 SGG geregelten Ausschließungsgründe gemäß § 150 Nr. 3 SGG statthaft.

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Zu Recht hat das SG die zulässige Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 26. Juli 1982 in der Gestalt des im Berufungsverfahren nachgeholten Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 1985 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Senat konnte sich aufgrund einer Würdigung der vorliegenden Unterlagen nicht davon überzeugen, daß die zum Tode des G. führende Bronchialkarzinomerkrankung als Berufskrankheit oder wie eine Berufskrankheit zu entschädigen ist und der Klägerin als der Witwe des Versicherten G. Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zustehen (§§ 589 ff. RVO).

Nach § 551 Abs. 1 RVO sind Berufskrankheiten die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet und die ein Versicherter bei den in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Die Bundesregierung ist durch § 551 Abs. 1 Satz 3 RVO ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht worden sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.

Im vorliegenden Fall scheidet eine Entschädigung des Bronchialkarzinoms von G. gemäß § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. der BKVO aus, weil zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles (1974) in der damals gültig gewesenen 7. BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl. I S. 721, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. März 1988 – BGBl. I S. 400) in der Anlage 1 zur BKVO die Bronchialkrebserkrankung infolge des Umgangs mit Asbeststäuben nicht als Berufskrankheit bezeichnet ist. Darüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.

Die Bronchialkarzinomerkrankung von G. kann auch nicht nach der Vorschrift des § 551 Abs. 2 RVO "wie” eine Berufskrankheit entschädigt werden. Nach § 551 Abs. 2 RVO sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist und die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind. Zu diesen Voraussetzungen gehören nicht nur der ursächliche Zusammenhang der Krankheit mit der Tätigkeit, für die nach den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO Versicherungsschutz besteht (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO), sondern darüber hinaus die Zugehörigkeit des Versicherten zu einer bestimmten Personengruppe, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist, die Krankheiten solcher Art verursachen und das Vorliegen neuer Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung der bestimmten Personengruppen (§ 551 Abs. 1 Satz 3 RVO; vgl. BSG SozR 2200 § 551 Nr. 18). Nicht jede Krankheit, die durch eine berufliche Tätigkeit verursacht worden ist, soll im Einzelfall wie eine Berufskrankheit entschädigt werden, sonst bedürfte es nicht der Bezeichnung bestimmter Krankheiten als Berufskrankheiten (§ 551 Abs. 1 RVO) in der BKVO (s. BSG SozR a.a.O.). Es sollen vielmehr nur solche Krankheiten wie eine Berufskrankheit entschädigt werden, die in die Liste nicht aufgenommen worden sind, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen in ihrer beruflichen-versicherten Tätigkeit bei der letzten Fassung der BKVO mit der Liste der Berufskrankheiten (Anlage 1) noch nicht vorlagen oder trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten (BSG SozR a.a.O.).

Daher genügt es nicht, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen der Einwirkung schädigender Stoffe und der Krankheit im Einzelfall aufgrund der Beweiswürdigung bejaht wird, es muß auch die generelle Geeignetheit der Einwirkung der betreffenden Stoffe auf die Verursachung der Krankheit in der medizinischen Wissenschaft allgemein anerkannt (s. BSG SozR a.a.O.), d.h. durch die herrschende Auffassung der Fachwissenschaftler hinreichend gefestigt sein; vereinzelte Meinungen auch Sachverständiger reichen nicht aus (s. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl., S. 492 p). Neu i.S. des § 551 Abs. 2 RVO sind Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft, wenn sie erst nach dem Erlaß der letzten BKVO gewonnen worden sind oder zu diesem Zeitpunkt zwar im Ansatz vorhanden waren, sich aber erst später zur Berufskrankheitenreife verdichtet haben (s. BSGE 21, 296, 298; 44, 90, 93; Brackmann a.a.O., Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 19 zu § 551, jeweils m.w.N.), bzw. wenn sie bei der letzten Ergänzung der Anlage 1 zur BKVO noch nicht in ausreichendem Maße vorgelegen haben und ungeprüft geblieben sind (BSG SozR a.a.O.).

Zwar geht der erkennende Senat in Übereinstimmung mit den Gutachten von Prof. Dr. U. und Prof. Dr. W. davon aus, daß G. während seiner beruflichen Tätigkeit als Dachdecker über einen Zeitraum von mehr als 32 Jahren unter Einwirkung von asbesthaltigem Feinstoff bei der Be- und Verarbeitung von Asbestzement sowie unter Einwirkung von heißen Teer- und Bitumendämpfen bei Dichtungsarbeiten gearbeitet hat, so daß die haftungsbegründende Kausalität zu bejahen ist.

Nach Auffassung des Senats scheitert die Entschädigung des Bronchialkarzinoms von G. gemäß § 551 Abs. 2 RVO jedoch daran, daß nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann, daß die Asbestexposition Ursache dieser Erkrankung gewesen ist. Es liegen insoweit keine neuen Erkenntnisse im Sinne der vorgenannten Vorschrift vor, nach denen – bezogen auf den streitigen Krankheitsfall – die Entschädigung wie eine Berufskrankheit möglich wäre. Dies gilt insbesondere für die Frage der Entstehung von Lungenkrebs durch Asbesteinwirkung ohne Asbestose. Die medizinischen Erkenntnisse, insbesondere die Forschungsarbeiten von Prof. Dr. W. ("Berufskrebs-Studie Asbest”), wurden vom Verordnungsgeber anläßlich der Neufassung der Anlage 1 zur BKVO durch die Verordnung vom 22. März 1988 als nicht ausreichend angesehen, wie Prof. Dr. U. und Prof. Dr. R. in dem Gutachten vom 31. März 1983 und Prof. Dr. L. in seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 23. Juni 1987 im einzelnen ausgeführt haben. Auch der BMA hat in einer Stellungnahme vom 8. Juli 1988 ausgeführt, daß sich der Verordnungsgeber mit der Problematik "Lungenkrebs nach Asbestexposition” befaßt hat. Die vorliegenden Forschungsarbeiten haben nach der Auskunft des BMA vom 8. Juli 1988 insoweit "nur” zur Aufnahme der Nr. 4104 in die Berufskrankheitenliste geführt, die die Anerkennung als Berufskrankheit auf "durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura” beschränkt. Hieraus ergibt sich auch, daß der Verordnungsgeber es nach wie vor für notwendig hält, bei Lungenkrebserkrankungen durch Asbeststaub an "Brückensymptomen” als Entschädigungsvoraussetzungen festzuhalten. Der Senat mußte daher auch unter Würdigung der Ausführungen der Professoren U. R. und L., wonach Prof. Dr. W. mit seinem Anliegen, die Anerkennungswürdigkeit eines Bronchialkrazinoms ohne Asbestose nach beruflicher Asbeststaubexposition zu erreichen, mit weit überwiegender Mehrheit im sogenannten Berufskrankheitenausschuß des BMA, in dem die einschlägigen Fachwissenschaftler vertreten sind, gescheitert ist, davon ausgehen, daß das einschlägige wissenschaftliche Schrifttum bislang nicht den Beweis erbracht hat, daß Bronchialkarzinome ohne gleichzeitige Asbestose (zumindest Minimalasbestose) bei beruflicher Asbeststaubbelastung häufiger auftreten als bei der übrigen Bevölkerung, so daß zwar von der Möglichkeit einer beruflichen Verursachung oder Mitverursachung, nicht jedoch mit einer für das Sozialrecht hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden kann.

Eine Entschädigungswürdigkeit im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO für ein Bronchialkarzinom ohne Asbestose ist nach dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht zu belegen (vgl. auch das Urteil des BSG vom 6. April 1989 – 2 RU 55/88). Im Hinblick auf dieses Urteil, die Stellungnahme des BMA vom 8. Juli 1988 und auf die kurze Zeitspanne seit Erlaß der Änderungs-Verordnung vom März 1988 bis heute bedarf es keiner erneuten Anfrage beim BMA, ob neue Erkenntnisse vorliegen.

Eine Entschädigung des Bronchialkrebsleidens als Berufskrankheit oder "wie” eine Berufskrankheit nach § 551 Abs. 2 RVO ist daher nicht möglich.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG, diejenige über die Nichtzulassung der Revision aus § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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