L 4 R 1500/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 38/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 1500/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 20. Februar 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren noch streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung auf Dauer hat und ob die Rente unter Berücksichtigung des ungeminderten Zugangsfaktors von 1,0 zu berechnen oder ein Zugangsfaktor von 0,892 ("Abschlag" von 10,8 %) zu Grunde zu legen ist.

Die am 10. August 1962 geborene, verheiratete Klägerin erlernte von 1979 bis 1981 den Beruf einer Verkäuferin und war nach ihren eigenen Angaben anschließend bis 1984 als Fabrikarbeiterin, bis 1985 als Bäckereiverkäuferin sowie bis Juni 1989 als Lebensmittelverkäuferin bei verschiedenen Arbeitgebern versicherungspflichtig beschäftigt. Von 1992 bis 1998 übte sie stundenweise die Tätigkeit einer Raumpflegerin aus, nachdem im Juni 1988 ihre Tochter geboren wurde. Das Versorgungsamt F. hat einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 seit dem 06. Oktober 2003 (Bescheid vom 17. März 2004) und seit dem 25. Februar 2005 einen GdB von 50 festgestellt (Schwerbehindertenausweis vom 18. April 2005).

Am 28. Februar 2005 beantragte die Klägerin bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich als Beklagte bezeichnet) Rente wegen Erwerbsminderung. Sie gab an, an folgenden Gesundheitsstörungen seit September 1998 zu leiden: Multiple Sklerose, Depressionen, Angstzustände, Bandscheibe, Halswirbelsäulensyndrom, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen, Gehbehinderung, Gleichgewichtsstörungen, Kraftlosigkeit im linken Arm und Fingerverkrampfung. Ohne weitere medizinische Ermittlungen lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 24. März 2005 mit der Begründung ab, im maßgeblichen Fünfjahreszeitraum vom 28. Februar 2000 bis 27. Februar 2005 seien keine Monate mit Pflichtbeiträgen belegt. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei auch nicht aufgrund eines Tatbestands eingetreten, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt sei. Mit ihrem Widerspruch hiergegen machte die Klägerin geltend, sie habe seit Geburt ihrer Tochter im Juni 1988 nur noch stundenweise arbeiten können. Ende September 1998 habe sie sich einer vierten Unterleibsoperation unterziehen müssen. Hierdurch seien psychische Probleme entstanden und es habe sich herausgestellt, dass das zentrale Nervensystem entzündet sei, weshalb der Verdacht einer Multiplen Sklerose bestehe. Sie sei deshalb seit Ende September 1998 nicht mehr arbeitsfähig. Die Beklagte holte daraufhin Befundberichte ein. Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. teilte mit (Auskunft vom 17. Mai 2005), die Klägerin leide an einer entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems bei noch ungeklärter Genese und an einer reaktiven depressiven Verstimmung. Sie sei seit 1998 arbeitsunfähig. Im Übrigen verwies er auf beigefügte Arztbriefe (Bl. 50 bis 99 der Verwaltungsakte der Beklagten). Neurologin Dr. H. gab an (Auskunft vom 10. Juni 2005), die Klägerin leide an einer Somatisierungsstörung, wobei sie zuletzt am 05. Juni 2002 untersucht worden sei. Die Beklagte erhob daraufhin das Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Hi. vom 23. September 2005. Dieser gelangte zu folgenden Diagnosen: Ausgeprägte dissoziative Störung, vorbestehende depressive Entwicklungs- und Anpassungsstörung und fraglich entzündliche Grunderkrankung. Die Klägerin sei zutiefst davon überzeugt, schwer krank zu sein. Derzeit könne sie nur noch Tätigkeiten unter drei Stunden verrichten. Er empfahl eine Berentung auf höchstens drei Jahre. Nach Stellungnahme des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. St. vom 19. Oktober 2005, wonach eine quantitative Leistungsminderung nicht bestehe und eine Berentung für die Klägerin fatal sei, sowie nach Stellungnahme der beratenden Ärztin P. vom 24. Oktober 2005, wonach keine Erkrankung vorliege, die eine Leistungsminderung begründen könne, wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Klägerin zurück (Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2005). Die Klägerin sei noch in der Lage, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts unter den üblichen Bedingungen mindestens sechs Stunden täglich auszuüben. Der Eintritt einer Minderung der Erwerbsfähigkeit im Jahr 1998 habe nicht festgestellt werden können, sodass weiterhin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Hiergegen erhob die Klägerin am 03. Januar 2006 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG). Sie machte geltend, sie leide unter Angst und depressiven Reaktionen auch infolge der Verdachtsdiagnose einer Multiplen Sklerose. Des Weiteren bestünden urologische Beschwerden sowie kardiologische und weitere neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Im Übrigen sei bereits Dr. Hi. zu der Einschätzung gelangt, dass nur noch ein unter dreistündiges Leistungsvermögen vorliege. Auch bestehe Berufsschutz nach § 240 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VI). Zur weiteren Begründung legte die Klägerin eine ärztliche Bescheinigung des Dr. K. vom 27. April 2005, wonach die Klägerin an einer entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems leide und erwerbsunfähig sei, sowie zahlreiche Arztbriefe vor (Bl. 7 bis 37, 116 bis 150 der SG-Akte).

Das SG hörte die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen. Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. J. teilte mit (Auskunft vom 14. März 2006), er behandle die Klägerin seit 1998. Ihre Belastbarkeit sei starken Schwankungen unterworfen. Derzeit könne sie keine drei Stunden am Tag arbeiten. Dr. K. gab an (Auskunft vom 13. März 2006), er behandle die Klägerin seit September 1999. Im Laufe der Behandlung sei es immer wiederkehrend zu Verschlechterungen gekommen, die auf Cortison rückläufig gewesen seien. Zur Zeit könne die Klägerin weniger als drei Stunden täglich arbeiten. Kardiologe Dr. K. wies darauf hin (Auskunft vom 14. März 2006), dass die Klägerin lediglich im September 2002 stationär behandelt worden sei. Hierbei hätte sich ein Präexzitationssyndrom (zusätzliche muskuläre Verbindung zwischen linkem Vorhof und linker Kammer) gezeigt. Dies sei anlässlich der Hochfrequenzkatheterablationsbehandlung im September 2002 beseitigt worden. Die erhobenen Befunde ließen nicht erkennen, weshalb überhaupt eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bestehen solle. Dottore G von der H.-C.-Klinik für Psychiatrie in St. teilte mit (Auskunft vom 06. Juli 2007), die Klägerin sei vom 11. März bis 20. April 1999 stationär behandelt worden (wegen verschiedener Schmerzen in der Bauch- und Rückengegend, Taubheitsgefühl im linken Bein und Schwindel, dazu Angstzustände und Schlafstörungen). Während des stationären Aufenthaltes sei sie arbeitsunfähig gewesen.

Das SG erhob das Gutachten des Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. L. vom 28. März 2007. Dieser teilte mit, die Klägerin leide an einer chronifizierten, umfassend fixierten Somatisierungsstörung im Sinne einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und an einer traumatisierten, neurotischen Persönlichkeitsentwicklung mit dissoziativen und konversionsartigen Zügen sowie an eingeschränkten psychischen Fähigkeiten zur Verarbeitung seelischer und körperlicher Erkrankungen und lebenstypischer Belastungen. Obwohl die Klägerin wiederholt auf die seelische Dimension ihrer Erkrankung aufmerksam gemacht worden sei, beharre sie auf einer organischen Ursache ihrer Beschwerden. Die störungsbedingten Einschränkungen seien erheblich und dauerhaft und hätten in der Vergangenheit auch nicht gebessert werden können. Die Klägerin sei derzeit nicht mehr in der Lage, einer Tätigkeit auf dem allgemeinem Arbeitsmarkt nachzugehen. Allenfalls leichtere körperliche und geistige Fähigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts ohne besondere nervliche Beanspruchung und ohne Publikumsverkehr kämen in Betracht, wobei häufige und arbeitsunübliche Erholungspausen notwendig seien. Die Leistungsfähigkeit sei auf weniger als drei Stunden abgesunken. Diese Leistungseinschränkung bestehe seit Antragstellung. Die Art der Erkrankung lasse jedoch an eine mehrdimensionale sowie multimodale Therapie unter Einschluss von ambulanten und stationären Möglichkeiten mit psychiatrischen, psychosomatischen, psychologischen, psychoedukativen und sozialtherapeutischen Maßnahmen denken, in deren Verlauf auch ein psychosomatisches Heilverfahren möglich sei. Eine positive Veränderung im Gesundheitszustand der Klägerin könne somit nicht ausgeschlossen werden, weshalb eine weitere Begutachtung in ca. drei Jahren sinnvoll sei. Mit einer Besserung sei allerdings nicht innerhalb von einem Jahr zu rechnen. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 29. August 2007 teilte Dr. L. nach Vorlage weiterer Arztberichte (mit zusätzlichen Befundberichten) mit, dass er es für sehr wahrscheinlich halte, dass bereits Mitte 2000 das Leistungsvermögen gemindert gewesen sei.

Die Beklagte gab daraufhin ein (Teil-)Anerkenntnis ab, wonach die Klägerin Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit aufgrund eines Leistungsfalls vom 01. Juli 2000 ab 01. Februar 2005 bis 30. Juni 2009 habe, und erließ einen entsprechenden Bescheid vom 04. Oktober 2007, der den Hinweis enthielt, dass er nach § 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des anhängigen Verfahrens werde. Bei der Berechnung der Rentenhöhe berücksichtigte die Beklagte die Zeit vom 01. Juli 2000 bis 09.August 2022 (266 Monate) als Zurechnungszeit (Anlage 4 des Bescheids) und minderte den Zugangsfaktor von 1,0 um 0,108 auf 0,892, so dass sich verringerte persönliche Entgeltpunkte (EP) in Höhe von 22,1828 (24,868 x 0,892) ergaben (Anlage 6 des Bescheids).

Die Klägerin nahm das (Teil-)Anerkenntnis nicht zur Erledigung des Rechtsstreits an und begehrte, die Rente wegen voller Erwerbsminderung ohne Verminderung des Zugangsfaktors sowie über den 30. Juni 2009 hinaus unbefristet zu zahlen. Sie hielt die Verminderung des Zugangsfaktors aufgrund des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Mai 2006 - B 4 RA 22/05 R - (= BSGE 96, 209) für unzulässig. Aufgrund des medizinischen Verlaufs ihrer Erkrankung könne nicht von einer Besserung des gesundheitlichen Zustands ausgegangen werden.

Die Beklagte erwiderte, die Träger der Deutschen Rentenversicherung würden dem Urteil des 4. Senats des BSG vom 16. Mai 2005 (B 4 RA 22/05 R) über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht folgen. § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI ergänze die Regelung des § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI, indem er für eine bestimmte Fallgruppe den Versicherten so stelle, als ob noch keine Rente aus vom Versicherten erworbenen EP gewährt worden sei. Die vom BSG vorgenommene Auslegung führe hingegen zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber eine bereits getroffene Regelung (Satz 2) im nächsten Satz der Vorschrift nochmals klarstellend wiederhole. Würde § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Satz 3 SGB VI (in der Interpretation durch das BSG) tatsächlich die Minderung des Zugangsfaktors für Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres bezwecken, hätte es genügt, unter Nr. 2 des § 77 Abs. 3 Satz 3 SGB VI eine Formulierung analog jener in § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB VI einzufügen, um die Erhöhung des Zugangsfaktors für EP, die nicht (mehr) vorzeitig in Anspruch genommen würden, zu regeln. Für ihre (der Beklagten) Auffassung spreche auch die Entstehungsgeschichte der Norm. Des Weiteren spreche gegen die Rechtsauffassung des BSG auch das nur schwer nachvollziehbare Ergebnis, dass eine vor Vollendung des 60. Lebensjahres abschlagsfrei in Anspruch genommene Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für Zeiten des Bezugs ab Vollendung des 60. Lebensjahres zu mindern wäre. § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sei mithin als Berechnungsregel zu verstehen, welche Abschläge bei einem Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres zulasse und lediglich auf 10,8 % begrenze. Im Übrigen halte Dr. L. positive Veränderungen für nicht ausgeschlossen.

Mit Urteil vom 20. Februar 2008, welches dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 07. März 2008 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt wurde, wies das SG die Klage ab. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung auf Dauer. Dr. L. habe nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass die Erkrankung einer Behandlung zugänglich und eine Besserung der Leistungsfähigkeit nicht unwahrscheinlich sei. Ein Anspruch auf Gewährung einer mit einem ungeminderten Zugangsfaktor berechneten Rente wegen Erwerbsminderung bestehe nicht. Der Rechtsprechung des BSG vom 16. Mai 2005 (B 4 RA 22/05 R) werde nicht gefolgt. Der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass eine Kürzung der Rente durch Minderung des Zugangsfaktors auch für Rentenbezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres erfolge. Hierin liege auch kein Verstoß gegen Artikel (Art.) 14 des Grundgesetzes (GG).

Gegen das Urteil des SG hat die Klägerin am 27. März 2008 schriftlich Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Die Rente sei nicht zu befristen, da die Leistungseinschränkung schon seit Mitte 2000 vorliege, mithin nunmehr seit ca. acht Jahren. Trotz sämtlicher (auch klinisch stationärer) Maßnahmen habe sich an ihrem Leistungsvermögen bis zum heutigen Tag nichts geändert, sodass keine Aussicht auf eine Verbesserung des Gesundheitszustands bestehe. Im Hinblick auf die Absenkung des Zugangsfaktors verweise sie auf die zutreffende Rechtsprechung des BSG vom 16. Mai 2005 (B 4 RA 22/05 R). Die Verwaltung folge dieser Entscheidung zu Unrecht nicht.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 20. Februar 2008 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 24. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Dezember 2005, beide in der Fassung des Bescheids vom 04. Oktober 2007 abzuändern sowie die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 01. Februar 2005 eine höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung mit dem Zugangsfaktor 1,0 sowie ab 01. Juli 2009 weiterhin Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Berichterstatter hat Dr. K. und Dr. J. als sachverständige Zeugen schriftlich gehört. In seiner Auskunft vom 28. Mai 2008 hat Dr. K. angegeben, als Therapie verabreiche er der Klägerin hochdosiert Cortison im Sinne einer Stoßtherapie. Der Gesundheitszustand sei ondolierend, eine Besserung habe bislang nicht festgestellt werden können, eher eine Minderung der Belastbarkeit. Dr. J. hat in seiner Auskunft vom 02. Juni 2008 mitgeteilt, zur Zeit erfolge keine Therapie. Der Gesundheitszustand sei sehr wechselhaft. Auffallend seien Erschöpfungsphasen und neurologische Symptome, die zu einer Multiplen Sklerose passen könnten. Mit einer Besserung des Gesundheitszustands in Zukunft sei nicht zu rechnen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte, auf die Gerichtsakte erster Instanz sowie auf die Senatsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 und 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer.

1. Gegenstand des Rechtsstreits ist sowohl der Bescheid vom 24. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Dezember 2005 als auch der Bescheid vom 04. Oktober 2007. Der Bescheid vom 04. Oktober 2007, der nach Klageerhebung und nach dem - von der Klägerin nicht angenommenen (vgl. § 101 Abs. 2 SGG) - (Teil-)Anerkenntnis der Beklagten vom 26. September 2007 erlassen worden ist, hat den Bescheid vom 24. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Dezember 2005 teilweise abgeändert, so dass er nach § 96 Abs. 1 SGG bereits Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist.

2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer, mithin nicht wie von ihr begehrt ab dem 01. Juli 2009. Versicherte haben gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 01. Januar 2008 geändert durch Art. 1 Nr. 12 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Klägerin seit dem 01. Juli 2000 voll erwerbsgemindert ist und zu diesem Zeitpunkt auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

Die Klägerin hat aber keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer. Nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI in der seit 01. Januar 2001 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 29 des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 - EM-Reformgesetz - (BGBl. I, S. 1827) werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt auf längstens drei Jahre nach Rentenbeginn (Satz 1). Sie kann verlängert werden; dabei verbleibt es bei dem ursprünglichen Rentenbeginn (Satz 3). Verlängerungen erfolgen für längstens drei Jahre nach dem Ablauf der vorherigen Frist (Satz 4). Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen (Satz 5). Seit dem 01. Januar 2001 werden in bewusster und gewollter Abkehr vom alten Recht Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit regelmäßig mithin nur noch auf Zeit geleistet (vgl. BSG SozR 4-2600 § 102 Nr. 2).

Die in § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI formulierte Ausnahme vom Regelfall der Gewährung der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nur auf Zeit liegt bei der Klägerin nicht vor. Denn es ist nicht "unwahrscheinlich", dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit bei ihr behoben werden kann. "Unwahrscheinlich" im Sinne des § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI ist dahingehend zu verstehen, dass schwerwiegende medizinische Gründe gegen eine - rentenrechtlich relevante - Besserungsaussicht sprechen müssen, sodass ein Dauerzustand vorliegt. Von solchen Gründen kann jedoch erst dann ausgegangen werden, wenn alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und auch hiernach ein aufgehobenes Leistungsvermögen besteht. Hierbei sind alle Therapiemöglichkeiten nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu berücksichtigen (vgl. BSG SozR 4-2600 § 102 Nr. 2).

Nach den durchgeführten medizinischen Ermittlungen sind nicht sämtliche Therapiemöglichkeiten nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ausgeschöpft. Der Sachverständige Dr. L. wies in seinem Gutachten vom 28. März 2007 ausdrücklich darauf hin, dass eine positive Veränderung im Gesundheitszustand der Klägerin nicht ausgeschlossen werden könne. Nach seiner Einschätzung kommt vielmehr als Behandlungsoption eine mehrdimensionale und multimodale Therapie unter Einschluss von ambulanten und stationären Möglichkeiten mit psychiatrischen, psychosomatischen, psychologischen, psychoedukativen und sozialtherapeutischen Maßnahmen in Betracht, gegebenenfalls auch ein psychosomatisches Heilverfahren. Eine solche Therapie wurde bislang noch nicht durchgeführt. Dies entnimmt der Senat der Auskunft des Dr. J. vom 02. Juni 2008, der angegeben hat, dass (überhaupt) keine Therapie durchgeführt werde. Aus der Auskunft des Dr. K. vom 28. Mai 2008 ergibt sich, dass lediglich eine hochdosierte Cortison-Stoßtherapie durchgeführt wird, hingegen nicht die von Dr. L. vorgeschlagenen Therapiemöglichkeiten. Es ist daher weiterhin davon auszugehen, dass eine rentenrechtlich relevante Besserungsaussicht besteht.

Vor diesem Hintergrund hat die Beklagte die bewilligte Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu Recht bis zum 30. Juni 2009 befristet.

3. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Berücksichtigung eines höheren Zugangsfaktors, insbesondere nicht auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ohne Abschläge. Die Rechtsanwendung der Beklagten, den Zugangsfaktor bei Beginn einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres zu mindern, ist nach der Rechtsprechung des 5. Senats des BSG (Urteile vom 14. August 2008 - B 5 R 32/07 R , B 5 R 88/07 R, B 5 R 140/07 R, B 5 R 98/07 R -, vgl. Terminbericht des BSG Nr. 40/08) nicht zu beanstanden. An dieser Entscheidung war der 5. Senat des BSG nicht mehr gehindert, nachdem der 13. Senat des BSG am 26. Juni 2008 beschlossen hat, an der gegenteiligen Rechtsauffassung des 4. Senats des BSG (= BSGE 96, 209) nicht mehr festzuhalten.

Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich gemäß §§ 63 Abs. 6, 64 Nr. 1 bis 3 SGB VI, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen EP, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Der Zugangsfaktor ist ein Berechnungselement der persönlichen EP.

Nach § 77 Abs. 1 SGB VI in der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 21. Juli 2004 (BGBl I, S. 1791) richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang EP bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche EP zu berücksichtigen sind. Der Zugangsfaktor ist für EP, die noch nicht Grundlage von persönlichen EP einer Rente waren, gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. So liegt der Fall bei der Klägerin. Sie hat eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen; sie hat seit 1. Februar 2005 Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie das 42. Lebensjahr vollendet.

Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, so bestimmt § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die "Bestimmung des Zugangsfaktors" maßgebend ist. Davon abweichend regelt § 264c SGB VI (i.d.F. der Bekanntmachung vom 19. Februar 2002, BGBl I, S. 754; zur Neufassung ab dem 1. Januar 2008 s. Art. 1 Nr. 72 des RV Altersgrenzenanpassungsgesetzes), dass bei der Ermittlung des Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 60. Lebensjahres die Vollendung des in Anlage 23 zum SGB VI (in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung; zur Aufhebung der Anlage 23 ab dem 01. Januar 2008 s. Art. 1 Nr. 83 des RV Altersgrenzenanpassungsgesetzes) angegebenen Lebensalters maßgebend ist, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbs¬fähigkeit vor dem 01. Januar 2004 beginnt. Die Voraussetzungen dieser Übergangsvorschrift liegen bei der Klägerin nicht vor, da die Rente wegen voller Erwerbsminderung erst ab dem 01. Februar 2005, d.h. nach dem genannten Stichtag beginnt. Hierbei kommt es nicht darauf an, dass die Leistungsminderung bereits im Juli 2000 eingetreten ist. Denn die Klägerin hat die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung erst im Februar 2005 beantragt (vgl. zum "Rentenbeginn" im Sinne des Rentenzahlbeginns BSG, Beschluss vom 17. April 2007 - B 5 RJ 15/04 R-; BSG SozR 3 2600 § 71 Nr. 2).

Die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist nach Auffassung des Senats als Berechnungs¬regel zu verstehen, mit der Folge, dass bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres der Zugangsfaktor um maximal 0,108 (36 Kalendermonate x 0,003) zu mindern ist. Hierdurch ergibt sich in diesen Fällen ein Zugangsfaktor von 0,892. Diesen hat die Beklagte der Berechnung der Rente im Bescheid vom 04. Oktober 2007 zugrunde gelegt. Der Auffassung, wonach es sich bei § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI um eine Art Ausschlussregel handelt, welche den frühesten Beginn einer "vorzeitigen" Erwerbsminderungsrente auf die Voll¬endung des 60. Lebensjahres festlege, lässt sich nach Überzeugung des Senats weder aus Wortlaut und Systematik der Norm, noch aus deren Sinn und Zweck, dem systematischen Gesamtzusam¬menhang oder der Entstehungsgeschichte ableiten. Der Senat vermag sich insoweit nicht der entgegenstehenden Rechtsauffassung des 4. Senats des BSG (BSGE 96, 209) anzuschließen, sondern folgt der Rechtsauffassung des 5. Senats des BSG aus den in den Anfragebeschlüssen vom 29. Januar 2008 (B 5a R 88/07 R und B 5a R 98/07 R, veröffentlicht in www.sozialgerichtsbarkeit.de) dargelegten Gründen (ablehnend nun auch der 13. und 5. Senat des BSG, vgl. Urteile vom 14. August 2008 - B 5 R 32/07 R , B 5 R 88/07 R, B 5 R 140/07 R, B 5 R 98/07 R -, vgl. Terminbericht des BSG Nr. 40/08; ablehnend auch Bredt, NZS 2007, 192; von Koch/Kolakowski, SGb 2007, 71; Ruland, NJW 2007, 2086; Mey, RVaktuell 2007, 44; Plagemann in jurisPR SozR 20/2006 Anmerkung 4).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor. Die für Rentenstreitigkeiten nunmehr zuständigen Senate des BSG halten allesamt an der früheren Rechtsprechung des 4. Senats des BSG (a.a.O.) nicht mehr fest.
Rechtskraft
Aus
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