Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6C Vb 1058/91
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 339/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die bloße erneute Kontaktaufnahme eines Opfers einer Gewalttat zu dem vormaligen Täter stellt selbst dann, wenn letzterer das Opfer ca. zwei Jahre später tötet, keinen Versagensgrund i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG für Leistungen an die Hinterbliebenen dar.
2. Die Kontaktaufnahme und regelmäßige Treffen zwischen Täter und Opfer sind weder Ursache i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., noch führen sie dazu, daß die Leistungsgewährung als unbillig anzusehen wäre.
3. Dies gilt zumindest dann, wenn der Täter in einer psychiatrischen Haftanstalt einsaß, aus therapeutischen Gründen regelmäßig Urlaub gewährt bekam und durch die Klinik eine Kontaktaufnahme nicht unterbunden wurde, weil keine konkrete Gefährdungslage erkennbar war.
2. Die Kontaktaufnahme und regelmäßige Treffen zwischen Täter und Opfer sind weder Ursache i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., noch führen sie dazu, daß die Leistungsgewährung als unbillig anzusehen wäre.
3. Dies gilt zumindest dann, wenn der Täter in einer psychiatrischen Haftanstalt einsaß, aus therapeutischen Gründen regelmäßig Urlaub gewährt bekam und durch die Klinik eine Kontaktaufnahme nicht unterbunden wurde, weil keine konkrete Gefährdungslage erkennbar war.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 15. März 1994 sowie der Bescheid des Beklagten vom 6. Mai 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1991 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, an die Beigeladene ab dem 1. Februar 1991 Hinterbliebenenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte hat der Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Im übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten – Opferentschädigungsgesetz – OEG – an die Beigeladene.
Die Beigeladene ist die Tochter der 1953 geborenen und 1991 getöteten (Geschädigten). Die Geschädigte beantragte erstmals am 3. Juni 1987 Leistungen nach dem OEG.
Wie sich aus dem Urteil des Landgerichts Kassel (Az.: 429 Js 132134/87) vom 27. April 1988 ergibt, hatte der damalige Angeklagte (Schädiger/geboren 1956) die Geschädigte Anfang 1985 kennengelernt. Sie hatten sich Weihnachten 1986 verlobt, wohnten jedoch nicht zusammen.
... übernachtete öfter bei der Geschädigten. Zwischen den Verlobten, so heißt es weiter in dem Urteil, sei es häufiger zu Streitigkeiten gekommen. Der Schädiger sei gelegentlich aggressiv geworden, insbesondere wenn er Alkohol getrunken hatte. Im Jahre 1987 hatte er ihr bereits einmal die Kehle zugedrückt, bis sie kurzfristig ohnmächtig geworden sei. Ansonsten sei er ihr gegenüber nicht gewalttätig geworden. Nach dem Verlust einer Geldkassette bezichtigte die Geschädigte den Schädiger des Diebstahls an dieser Kassette. Am Morgen des 9. Juni 1987, so heißt es in dem oben genannten Urteil, nach dem Aufwachen, habe die Geschädigte dem Schädiger erneut Vorhaltungen wegen der verschwundenen Kassette gemacht. Sie habe ihn daran gehindert, ihre Wohnung zu verlassen. Sie habe die Wohnungstür von innen abgeschlossen, den Schlüssel in ihre Hosentasche gesteckt, ihm eine Ohrfeige versetzt und ihn des öfteren an den Haaren gezogen. habe darauf äußerlich ruhig reagiert, was die Geschädigte noch mehr gereizt habe. Der Streit habe sich über den ganzen Vormittag fortgesetzt. Als die Geschädigte gegen 13.30 Uhr wiederum schimpfend aus der Küche gekommen sei, habe plötzlich mit einem Hammer in der Hand, den er aus einem im Flur stehenden Eimer an sich genommen hatte, im Eingangsbereich der offenstehenden Wohnzimmertür gestanden. Während die Geschädigte ihn noch an dem Schlag habe hindern wollen, habe er ihr schon mit der stumpfen Seite des Hammers mehrfach – auch als sie bereits am Boden lag – auf den Kopf geschlagen. Die sechsjährige Tochter der Geschädigten habe dies alles mitbekommen und laut geschrien. Um die Schreie des Kindes zu unterbinden, habe alsdann mit dem Hammer auch auf das Kind eingeschlagen. Dieses sei nach mehreren Schlägen blutüberströmt bewußtlos auf dem Boden liegengeblieben. habe alsdann den Wohnungsschlüssel aus der Kleidung der Geschädigten genommen und die Wohnung verlassen. Die Geschädigte war durch diese Tat lebensgefährlich verletzt worden. Die Tochter erlitt zwei Impressionsfrakturen am Hinterkopf und eine Mehrfragmentfraktur mit Impressionen. Nach intensiver Behandlung in der Kinderklinik der Universität Göttingen wurde sie am 3. August 1987 in gutem Allgemeinzustand bei unauffälligen klinischen Befunden entlassen. Bei der Geschädigten stellte das Versorgungsamt Kassel mit Bescheid vom 27. April 1989 bindend folgende Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz fest: Schädelhirn-Verletzung mit Knochendefekt, hirnorganisches Psychosyndrom und Restlähmung der rechten Körperhälfte sowie der rechten Gesichtsseite. Den GdB setzte er mit 80 fest. Der Schädiger wurde durch Urteil des Landgerichts Kassel des tatmehrheitlich begangenen versuchten Totschlages in zwei Fällen für schuldig befunden. Die Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit wurden verneint. Allerdings wurde während der versuchten Tötung der späteren Geschädigten eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Schädigers angenommen. Während der Mißhandlung des Kindes wurde die Schuldfähigkeit als erheblich vermindert angesehen. Zugleich wird in dem Urteil zur Strafzumessung – die Gesamtfreiheitsstrafe wurde auf sechs Jahre festgesetzt sowie die Unterbringung im Psychiatrischen Krankenhaus angeordnet – ausgeführt: " Ohne eigene Schuld war der Angeklagte durch die ihm von der Frau zugefügte schwerste Kränkung des Vorwurfs des Hausdiebstahls zum Zorne gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden. Angesichts dieser erheblichen von ihm nicht verschuldeten Provokation des Opfers war nach Auffassung der Kammer zweifelsfrei ein minderschwerer Fall des Totschlagsversuchs gegeben.” Unter Berücksichtigung eines psychiatrischen Gutachtens stellte das Gericht zugleich fest, daß der Schädiger eine primär aggressionsgehemmte Persönlichkeit sei, die dazu neige, in als belastend empfundener Situation zunächst äußerlich scheinbar ruhig zu reagieren, dabei aber einen Affektstau zu entwickeln, der sich dann, begünstigt durch äußere Umstände, unerwartet entlade, wie im Fall der Gewaltanwendung an der Geschädigten und ihrer sechsjährigen Tochter. Diese wiederholt aufgetretene Verhaltensweise – der Schädiger hatte im Jahre 1981 angeblich aus Eifersucht seiner damaligen Ehefrau mehrfach mit der stumpfen Seite eines Beiles auf den Hinterkopf geschlagen – sei von Krankheitswert und müsse einer entsprechenden ärztlichen Behandlung in einem Psychiatrischen Krankenhaus zugeführt werden. Während vom gewöhnlichen Strafvollzug nach dem psychiatrischen Gutachten keine Einwirkungen auf den Schädiger zu erwarten seien, so könne in einem Psychiatrischen Krankenhaus mit hoher Erfolgsaussicht eine stationäre Therapie durchgeführt werden, mit dem Ziel, die bisher latente Disposition des Angeklagten, in extremen Belastungssituationen mit einer Affektstauentlastung zu reagieren, abzubauen.
Mit Bescheid vom 8. Dezember 1987 lehnte der Beklagte die Gewährung von Leistungen nach dem OEG ab. Zur Begründung führte er aus, daß die Geschädigte durch ihr provozierendes Verhalten eine wesentliche Bedingung für den späteren Schadenseintritt gesetzt habe. Aus diesem Grunde liege ein Versagensgrund nach § 2 Abs. 1 OEG vor, denn es sei unbillig, ihr eine Entschädigung für die Gesundheitsschädigung aufgrund des vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs zu gewähren. Den Widerspruch der Geschädigten vom 4. Januar 1988 wies er mit Widerspruchsbescheid vom 3. August 1988 zurück.
Am 28. Januar 1991 beantragte der Kläger für die Beigeladene Leistungen an die Hinterbliebene eines Opfers einer Gewalttat nach dem OEG. Der zuvor bereits erwähnte hatte am 6. Januar 1991 die Mutter der Beigeladenen, , in ihrer Wohnung durch einen Messerstich in den Rücken getötet.
Mit Urteil des Landgerichts Kassel vom 5. März 1992 (Az.: 101 Js 513/91) wurde der Schädiger wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 11 Jahren sowie der Unterbringung in einem Psychiatrischen Krankenhaus verurteilt. Zum Sachverhalt wird in diesem Urteil ausgeführt: "Nach der Tat vom 9. Juni 1987 hatte der Angeklagte den Kontakt zu Frau nicht abgebrochen. Bereits während der Untersuchungshaft hatte er Frau wöchentlich Briefe geschrieben. Das Briefeschreiben setzte er auch während der einstweiligen Unterbringung und sogar nach Rechtskraft des Urteils weiter fort. Obwohl ihm Frau (zunächst) nicht antwortete, schrieb er dieser (weiterhin). Am Abend des 11. September 1988 (erhielt er einen Telefonanruf von) Frau Der Angeklagte erklärte Frau bei diesem Gespräch u.a., daß ihm die Tat vom 9. Juni 1987 leid tue und er immer noch an sie denke. In der Folgezeit entwickelte sich ein reger brieflicher Kontakt zwischen dem Angeklagten und Frau. Das Psychiatrische Krankenhaus XY. und die Betreuer des Angeklagten hatten von diesen brieflichen und telefonischen Kontakten Kenntnis. Unternommen wurde hiergegen von Seiten der Klinik nichts. In der Zeit vom 27. Oktober bis 28. Oktober 1988 erhielt der Angeklagte zum ersten Mal Urlaub. (Von seiten der Klinik wurde ihm als) Auflage aufgegeben, Ausgänge nur in Begleitung eines erwachsenen Angehörigen zu unternehmen und jeglichen persönlichen Kontakt mit Frau in Eschwege zu unterlassen. Bereits am ersten (Urlaubs-)Tag rief der Angeklagte Frau an. Diese erklärte ihm, er solle sie in Eschwege besuchen. In der Wohnung traf er Frau und ihre Tochter an. Der Angeklagte (wurde) von Frau freundlich aufgenommen. Der telefonische und briefliche Kontakt des Angeklagten mit ging nach dem ersten Besuch unverändert fort. In der Folgezeit erhielt der Angeklagte bis Anfang Februar 1989 in jedem der folgenden Monate zwei Tage Urlaub. Jeweils mit den gleichen Auflagen versehen wurde er zu seinen Eltern entlassen. Bei jedem dieser Urlaube suchte der Angeklagte Frau auf. In der Zeit vom 24. März bis 28. März 1989 sollte der Angeklagte erstmals einen mehrtägigen Urlaub erhalten. (Im Rahmen eines Berichts der Psychiatrischen Klinik XY. an die zuständige Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Marburg) berichtete die Klinik über die bisher gewährten Urlaube und bemerkte hierzu, daß diese bislang allesamt positiv verlaufen seien und es zu keinerlei Unregelmäßigkeiten von selten des Angeklagten gekommen sei. Der Angeklagte habe sich bislang an alle mit ihm getroffenen Absprachen gehalten. Aus Sicht der Klinik sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu erwarten (, daß der Schädiger) den Urlaub zu erneuten fremdgefährdenden Handlungen mißbrauchen werde. – Nach Abklärung der weiteren Modalitäten – erteilte die Vollstreckungskammer mit Beschluss vom 6. März 1989 die Zustimmung zu dem beabsichtigten Urlaub. Wie schon bei den Urlaubsgewährungen zuvor besuchte der Angeklagte auch während dieses Urlaubs Frau Zu der der Klinik bekannten Kontaktaufnahme des Angeklagten zu wird ausgeführt: Bezeichnend für diese Beziehungsproblematik ist das unkritische Sich-Wieder-Einlassen auf eine Beziehung zu dem Opfer, diese wird seitens der Klinik mit großer Skepsis gesehen, aber nicht unterbunden. Persönliche Kontakte sind hier bisher jedoch verboten, da gemeinsame Gespräche, insbesondere in dieser Konstellation für unerläßlich gehalten werden, es zu diesen jedoch noch nicht gekommen ist. Abweichend von der Einschätzung der Klinik und deren Kenntnisstand (ging das) Interesse (des Schädigers) vielmehr dahin, den Kontakt zu Frau auszubauen und zu intensivieren. (Der Schädiger) nutzte (dann noch) 10 weitere Beurlaubungen in der Zeit zwischen April 1989 und August 1990 dazu, Frau – regelmäßig zu besuchen. Gemeinsam mit Frau schmiedete er auch Zukunftspläne. Alsdann trat im Leben eine Änderung ein, die schließlich in die Tat einmündete.” In dem Urteil des Landgerichts Kassel heißt es hierzu: traf (Anfang November 1990) den Zeugen. (Sie) kamen ins Gespräch und es ergab sich, daß Frau ihre früher für den Zeugen einmal empfundene Zuneigung wieder neu entdeckte, was schließlich zur Wiederaufnahme freundschaftlicher Beziehungen zwischen (ihr) und dem Zeugen führte. Schon nach kurzer Zeit wurden (sie) auch intim miteinander. Der Angeklagte wußte von dieser neuen Beziehung zunächst nichts. Er gewann allerdings noch im Laufe der ersten Novemberhälfte (des Jahres 1990) den Eindruck, daß in der Beziehung zwischen ihm und irgendetwas nicht stimme. Nach wie vor rief der Angeklagte täglich bei Frau an. Endlich brachte er auch die Sprache auf den Zeugen und stellte die Frage, "ob sie etwas mit dem habe”. Frau stritt zunächst ab. Bei einem späteren Telefongespräch räumte sie ihm gegenüber ein, der sei ein guter Freund. Am 18. Dezember 1990 trat der Angeklagte einen 22tägigen Urlaub an, der bis zum 8. Januar 1991 dauern sollte. Frau (nahm ihn) freundlich in ihrer Wohnung auf und (benahm) sich ihm gegenüber nicht anders als bei seinen Besuchen vor November 1990. Der Angeklagte war beruhigt. (Wegen diverser Telefongespräche wurden) die Zweifel und das Mißtrauen des Angeklagten (jedoch) wieder geweckt. In den nächsten Tagen fuhr er aber regelmäßig abends zu Frau , mit der er die Nacht verbrachte. Verunsichert und in tiefe Zweifel gestürzt wurde der Angeklagte dann aber wieder dadurch, daß die abendlichen, längeren Telefongespräche Frau weitergingen. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt zwischen dem 18. und dem 30. Dezember 1990 wurde der Streit zwischen dem Angeklagten und Frau so heftig, daß der Angeklagte gegen Frau die Hand erhob und ihr einen leichten Schlag ins Gesicht versetzte. Der Angeklagte war dabei über das widersprüchliche Verhalten ihm gegenüber "sauer und wütend”. Andererseits hatte er sich noch insoweit unter Kontrolle, Frau bewußt nur einen leichten Schlag ins Gesicht zu versetzen, da er wußte, wie empfindlich ihr Kopf nach den 1987 erlittenen Verletzungen war. Weihnachten und die Tage bis zum 30. Dezember 1990 hielt sich der Angeklagte wiederholt bei Frau in deren Wohnung auf. In den darauf folgenden Tagen vom 31. Dezember 1990 bis zum 5. Januar 1991 gelangte der Schädiger zu der Gewißheit, daß die Geschädigte mit ein intimes Verhältnis hatte. Seine Versuche hierüber mit der Geschädigten zu sprechen, mißlangen. "Zum Verlauf des Tattages – 6. Januar 1991 – heißt es in dem Urteil des Landgerichts Kassel. Daß ihn das Verhalten der Geschädigten, auf seine Fragen oder Bitten, was denn nun werden solle, immer wieder auszuweichen, verunsichert habe.” Bevor er sich am 6. Januar gegen 14.00 Uhr auf den Weg gemacht hatte, hatte er aus dem Zimmer seines Sohnes in der Wohnung seiner Eltern ein Fahrtenmesser an sich genommen. Dieses steckte der Angeklagte ohne die dazugehörige Scheide aus Hartplastik in die Innentasche seiner Jacke. Er hoffte, zu einer Aussprache mit zu kommen. Um so enttäuschter war er dann, als er in der Wohnung den Zeugen antraf. Irgendwann während dieser Zeit waren der Angeklagte und auch einmal gemeinsam auf dem Balkon. Ein richtiges Gespräch kam zwischen den beiden Männern bei dieser Gelegenheit aber nicht auf. Gegen 17.30 Uhr verließ die Küche, um auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen. Der Angeklagte und blieben in der Küche zurück. Der Angeklagte wollte nach den Feststellungen des Landgerichts Kassel noch einmal und letztmalig den Versuch unternehmen, von Frau eine Antwort auf die Frage ihrer zukünftigen Beziehung zueinander zu erhalten. " (Er) richtete an ” die Frage, "warum das zwischen (uns) ihnen alles so sein müsse und warum es nicht wieder so sein könne, wie früher”. gab dem Angeklagten keine Antwort. Mit dem Rücken dem Angeklagten zugewandt stand sie vor der Schranktür rechts neben dem Kücheneingang und räumte Geschirr in die Schränke. Der Angeklagte wiederholte seine Frage. Auch jetzt reagierte Frau nicht, räumte vielmehr weiter das Geschirr ein. Noch ein- oder zweimal erneuerte der Angeklagte seine Frage, ohne daß ihm eine Antwort gab oder sich ihm zuwandte In dem Angeklagten stieg nunmehr ein starkes Gefühl ohnmächtiger Wut, Enttäuschung, Eifersucht und Haß auf. Aus der Innentasche seiner Jacke nahm er das Fahrtenmesser in die rechte Hand. Er ging dann einen Schritt auf Frau zu, die nach wie vor mit dem Rücken zu ihm gewandt vor der Schrankzeile rechts der Küchentür stand. Ohne sein Vorhaben anzukündigen und für Frau völlig unerwartet stieß er dieser das Messer mit großer Wucht in den Rücken lebte noch kurze Zeit, verstarb aber schließlich noch vor dem Eintreffen des Notarztwagens an inneren Blutungen Das Landgericht stellte fest, daß zum Tatzeitpunkt die Schuldfähigkeit des Schädigers erheblich vermindert gewesen sei.
Mit Bescheid vom 6. Mai 1991 lehnte der Beklagte die Gewährung der beantragten Leistung ab. Zur Begründung führte er aus, daß die Geschädigte den zum Tode führenden Angriff wesentlich mit verursacht habe, so daß Leistungen nach § 2 Abs. 1 OEG zu verwehren seien. Den Widerspruch des Klägers vom 29. Mai 1991 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 1991 mit im wesentlichen gleichen Ausführungen zurück.
Auf die Klage vor dem Sozialgericht Kassel (SG) vom 6. November 1991 hat dieses die staatsanwaltschaftlichen Akten beigezogen. Der Kläger hat zwei Schreiben der Klinik für gerichtliche Psychiatrie XY. vom 23. März 1992 und 13. April 1992 vorgelegt, aus denen sich ergibt, daß von Seiten der Klinik mit der Geschädigten zu keinem Zeitpunkt ein persönlicher Kontakt hergestellt worden ist. Auch habe die Geschädigte sich zu keinem Zeitpunkt an die Klinik gewandt. Eine erneute langfristige Beziehung zur Geschädigten habe aus therapeutischer Sicht auf keinen Fall sinnvoll erschienen. Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 15. März 1994 hat das SG alsdann die Klage abgewiesen.
Gegen dieses dem Kläger am 5. April 1994 zugestellte Urteil hat er am 11. April 1994 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.
Der Senat hat durch Beschluss im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage vom 13. Juni 1995 die Tochter der Geschädigten, S. T., beigeladen.
Der Kläger vertritt die Auffassung, daß die Geschädigte weder mit den Kontakten zum Schädiger während seiner Beurlaubungen aus der Klinik XY., noch durch ihr eigenes Verhalten unmittelbar vor der Gewalttat einen Anlaß für diese Tat gegeben habe. Sie habe auch mit der Tat nicht "höchstwahrscheinlich” rechnen müssen. Die Beurlaubungen des Schädigers aus der Klinik XY. seien vielmehr geeignet gewesen, bei der Geschädigten den Eindruck zu erwecken, daß keine Gefahr mehr von dem Schädiger für sie ausgehe. Das Verbot der Kontaktaufnahme habe in erster Linie therapeutischen Zwecken und nicht dem Schutz der Geschädigten gedient. Mit Ausnahme einer Ohrfeige habe es während des gesamten Zeitraumes zwischen September 1988 und Januar 1991 keine gewalttätigen Auseinandersetzungen oder Mißhandlungen durch den Schädiger gegeben. Eine erkennbare Lebensgefahr habe am 6. Januar 1991 für sie nicht bestanden. Sie habe den Schädiger auch nicht durch eine abrupte Beendigung der Beziehung provoziert.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 15. März 1994 und den Bescheid des Beklagten vom 6. Mai 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1991 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, an die Beigeladene Hinterbliebenenversorgung nach in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene schließt sich dem Vortrag und dem Antrag des Klägers an.
Wegen der weiteren Einzelheiten sowie zum Vorbringen der Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, den Inhalt der vom Senat beigezogenen Gerichtsakte zum Az.: S- 6E(7)/V-901/88, der Gerichtsakten des Landgerichts Marburg zum Az.: 7STVK 224/95, der Verwaltungsakten des Beklagten zum Geschäftszeichen: 2301 – Alnr.:65/87 OEG und der Waisenakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG – i.V.m. § 7 Abs. 1 OEG).
Der Kläger ist auch aktiv legitimiert durch Prozeßstandschaft nach § 97 Sozialgesetzbuch 8. Buch – SGB 8 –. Danach kann der erstattungsberechtigte Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Feststellung einer Sozialleistung betreiben sowie Rechtsmittel einlegen. Diese Vorschrift ist inhaltlich der des § 91 a Bundessozialhilfegesetz – BSHG – nachgebildet. Damit tritt der erstattungsberechtigte Träger der öffentlichen Jungendhilfe an die Stelle des Berechtigten, um dessen Ansprüche auf Sozialleistungen durchzusetzen. Die materielle Berechtigung verbleibt beim Leistungsberechtigten. Der Träger verfolgt nur fremdes sachliches Recht im eigenen Namen. Dabei reicht die Feststellung des Anspruchs auch in die Zukunft hinein, im Gegensatz zum Erstattungsanspruch nach §§ 102 bis 105 SGB 10. Buch – SGB 10 –, der auf Zeiträume begrenzt ist, für die bereits Sozialleistungen gezahlt wurden (vgl. hierzu Schellhorn, Jirasek, Seipp, Kommentar zum BSHG, 14. Auflage, Neuwied, 1993, § 91 a, Randnr. 8). Dieses ist im vorliegenden Fall deswegen von Bedeutung, weil der Kläger ausweislich des vom Senat angeforderten Nachweises nur bis zum 31. Juli 1992 Leistungen der freiwilligen Erziehungshilfe erbracht hat, die Gewährung von Hinterbliebenenversorgung jedoch auch für die Zukunft begehrt. Seine Leistungen wurden vom Kläger aufgrund des Gesetzes über die Zuständigkeit auf den Gebieten der freiwilligen Erziehungshilfe und der Fürsorgeerziehung vom 16. Oktober 1965 (Gesetz und Verordnungsblatt I, 1965, Seite 232) i.V.m. Artikel 15 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vom 26. Juni 1990 und Artikel 1 § 85 Abs. 1 dieses Gesetzes erbracht. Insoweit ist er erstattungsberechtigt. Er ist nachrangig zur Leistung verpflichtet und die Leistungen auf Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG und die von ihm erbrachten Leistungen sind gleichartig. Beide sollen dazu dienen, die Lebensbedingungen der Waise zu verbessern. Auch handelt es sich bei den begehrten Leistungen nach dem OEG um Sozialleistungen im Sinne des § 24 Abs. 1 Nr. 4 SGB Allgemeiner Teil – SGB 1 –.
Die Berufung ist begründet. Das Urteil des SG vom 15. März 1994 kann keinen Bestand haben. Der Bescheid des Beklagten vom 6. Mai 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1991 ist rechtswidrig. Der Kläger und die Beigeladene werden dadurch in ihren Rechten verletzt. Die Beigeladene hat einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung nach in gesetzlicher Höhe entsprechend den Vorschriften des OEG.
Gemäß § 1 Abs. 1 OEG erhält, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtsmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Gemäß § 1 Abs. 8 OEG erhalten auch die Hinterbliebenen eines Geschädigten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 8 OEG liegen im vorliegenden Fall unstreitig vor. Nach den Feststellungen des Landgerichts Kassel im Urteil vom 5. März 1992 (Az.: 101 Js 513/91) ist die Geschädigte, die Mutter der Beigeladenen, durch einen vorsätzlichen rechtswidrigen Angriff des Schädigers am 6. Januar 1991 ums Leben gekommen. Diese Tat wurde als Totschlag vom Landgericht Kassel gewertet.
Im Gegensatz zur Auffassung des Vordergerichts sowie des Beklagten liegen nach Auswertung sämtlicher Aktenteile die Voraussetzungen der Versagung von Hinterbliebenenleistungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG jedoch nicht vor. Danach sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Dies gilt auch in dem Falle, in dem die Gewährung von Hinterbliebenenversorgung im Streit steht (vgl. Entscheidung des BSG vom 7. November 1979, Az.: 9 RVg 78, BSGE 49, 104 ff.). Im Recht der Opferentschädigung richtet sich die Beurteilung der Verursachung des eingetretenen Schadens im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG nach der versorgungsrechtlichen Kausalitätstheorie der wesentlich mitwirkenden Bedingung. Eine Ursache ist wesentlich, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges im Verhältnis zu den übrigen Umständen mindestens annähernd gleichwertig ist (vgl. Entscheidung des Bundessozialgerichts – BSG – vom 26. Juni 1985, Az.: 9 a RVg 6/84, BSGE 58 214, 215). Ein solches gleichwertiges Verhalten des Geschädigten ist dabei in der Regel nur dann als wesentlich bedeutsam für den Erfolg im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG zu beurteilen, wenn es ebenso wie der rechtswidrige Angriff des Schädigers von der Rechtsordnung mißbilligt wird. Eine derartige Gleichwertigkeit der Mißbilligung der Rechtsordnung für das Verhalten der Geschädigten im Verhältnis zum rechtswidrigen Angriff des Schädigers ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Der Entschluß des Schädigers, einen Gewaltangriff auf die Geschädigte zu verüben, hat hier überragende Bedeutung in der Reihe der Ursachen. Hierbei ist insbesondere von Bedeutung, daß weder die Kontaktaufnahme der Geschädigten zum Schädiger im Jahre 1988 nach der von dem Schädiger 1987 begangenen Tat, noch die später aufgenommene Beziehung zu als ein von der Rechtsordnung mißbilligtes Verhalten der Geschädigten angesehen werden können. Der Schädiger mag zwar das Verhalten der Geschädigten vor der Tat als Provokation aufgefaßt haben, objektiv war es, wie auch in dem Urteil des Landgerichts Kassel zutreffend ausgeführt wird, jedoch keine solche. Ihr Verhalten mag der Anlaß für die Tat des Schädigers gewesen sein, nicht jedoch die Ursache hierfür. Des weiteren steht ihr Verhalten in keinem Verhältnis zur Schwere der anschließenden Tat.
Aber auch ein Versagensgrund nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative OEG liegt nicht vor. Der dort gewählte Rechtsbegriff der "Unbilligkeit” ist ein unbestimmter, der durch die Rechtsprechung entsprechend dem Willen des Gesetzgebers mit Inhalt zu füllen ist. Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, die bei strenger Auslegung einer abstrakt oder allgemein festgelegten Rechtsnorm nicht genügend gewürdigt werden können. Dies bedeutet, daß nach dem Normzweck der unbestimmte Rechtsbegriff der Unbilligkeit wegen des Strafverfolgungsmonopols des Staates dahingehend ausgelegt werden muß, daß eine Versagung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative OEG nur dann in Betracht kommt, wenn eine staatliche Hilfe nach den Vorschriften des OEG als sinnwidrig und damit als ungerecht erscheinen muß. Unter Berücksichtigung des Wortlautes des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG und wegen der engen Verbindung der 1. Alternative – Mitverursachung – zu den "sonstigen Umständen” – 2. Alternative – müssen diese unter Berücksichtung der Einzelfallgestaltung eine Entschädigung mit einem solchen Gewicht als unbillig erscheinen lassen, daß dies dem in der 1. Alternative genannten Grund an Bedeutung annähernd gleichkommt (vgl. Entscheidung des BSG vom 26. Juni 1985 – Az.: 9 a RVg 6/84, BSGE 58, 214, 216). Dabei kann eine Unbilligkeit der Entschädigung insbesondere dann vorliegen, wenn der Verletzte in hohem Maße vernunftswidrig gehandelt und es in grob fahrlässiger Weise unterlassen hat, eine höchstwahrscheinlich zu erwartende Gefahr von sich abzuwenden. Das Verhalten des Opfers einerseits ist gegenüber den Umständen der Gewalttat, andererseits in Bezug auf den gesetzlichen Entschädigungszweck insoweit abzuwägen. Stellt sich aber nach diesem Grundgedanken allein die Frage, ob und wie weit der Geschädigte durch sein eigenes Verhalten zur Schädigung unmittelbar beigetragen hat, so kann dasselbe Verhalten nicht im Rahmen der 1. Alternative als unerhebliche Mitursache, also nicht wesentliche Bedingung, im Rahmen der 2. Alternative aber gleichwohl als so schwerwiegend gewertet werden, daß deswegen eine Entschädigung unbillig ist (vgl. Entscheidung des BSG vom 6. Dezember 1989, Az.: 9 RVg 2/89, BSGE 66, 115, 117). Das BSG hat hierzu in einer Entscheidung von Dezember 1989 (a.a.O.) ausdrücklich festgestellt, daß dieser Zusammenhang zwischen Kausalität und Unbilligkeit in der bisherigen Rechtsprechung nicht immer deutlich genug zum Ausdruck gekommen sei. Klarzustellen sei, daß das, was als Verursachung im Sinne der 1. Alternative des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht zur Leistungsversagung führe, nicht für sich allein, sondern nur aus sonstigen, zusätzlichen Gründen zur Bejahung der Unbilligkeit führen könne. In Betracht für die Unbilligkeit kommen mithin nur Gründe, die sich nicht mit dem unmittelbaren Tatbeitrag decken. Dazu gehört etwa das weitere Umfeld der Tat, insbesondere das Milieu, in dem sie geschehen ist. Der Gesetzgeber hat vor allem Personenkreise, die sich allgemein rechtsfeindlich verhalten, insbesondere Angehörige Krimineller Vereinigungen, von Entschädigungen ausschließen wollen. Auch aus der Vorgeschichte einer Gewalttat kann sich ein verwerfliches Verhalten des späteren Opfers ergeben, das zwar nicht als unmittelbar ursächlich zu werten ist, gleichwohl eine Entschädigung unbillig erscheinen lassen kann (vgl. Entscheidung des BSG vom 6. Dezember 1989, a.a.O., Seite 119).
Im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten kann aus der Vorgeschichte der Gewalttat jedoch kein verwerfbares Verhalten der Geschädigten entnommen werden, das die Entschädigung als unbillig erscheinen läßt. Dies gilt insbesondere unter dem Gesichtspunkt, daß eine ständige Lebensbeziehung zwischen Opfer und Täter für sich allein einen Leistungsausschluß noch nicht rechtfertigt (vgl. Entscheidung des BSG vom 3. Oktober 1984, Az.: 9 a RVg 6/83, BSGE 57, 168, 169). Dies gilt selbst dann, wenn man nach der älteren Rechtsprechung des BSG noch annehmen wollte, daß dann, wenn der Geschädigte einer ständigen Gefahr zum Opfer gefallen ist, aus der er sich bei einem Mindestmaß an Selbstverantwortung hätte selbst befreien können, an Unbilligkeit zu denken wäre. Zu Recht hat der 5. Senat des Hessischen Landessozialgerichts in einer Entscheidung vom 25. März 1993 (Az.: L-5/Vg-615/90) hierzu ausgeführt, daß eine Versagung in einem solchen Fall nur dann in Betracht kommt, wein dem Opfer selbst ein vorwerfbares rechtsfeindliches Verhalten als Ursache oder zumindest Mitursache für den zu beurteilenden tätlichen Angriff vorgehalten werden kann. Ein derartiges Verhalten vermochte der Senat im vorliegenden Fall nicht zu erblicken. Zweifelsohne, wie zuvor bereits ausgeführt, wäre ohne die Kontaktaufnahme durch die Geschädigte im September 1988 der Gesamtrahmen für die Tat möglicherweise nicht hergestellt worden. Aus dem Strafurteil des Landgerichts Kassel ergibt sich nämlich, daß der Schädiger zum Zeitpunkt des Anrufs der Geschädigten in der Psychiatrischen Klinik XY. bereits die Hoffnung auf einen Kontakt zu ihr aufgegeben hatte. Seine Briefe waren nämlich bis dahin von ihr unbeantwortet geblieben. Erst der Anruf hat ihn in der damaligen Situation dazu bewegt, den Kontakt zur Geschädigten zu intensivieren. Allein das Wiederherstellen des Kontaktes zum Schädiger nach der Tat vom 9. Juni 1987 kann jedoch nach den Feststellungen des Senates nicht als vernunftswidrig angesehen werden. Grundsätzlich, dies ist vom Kläger zutreffend vorgetragen worden, untersagt die Rechtsordnung einen Kontakt zwischen Geschädigtem und ehemaligem Schädiger nicht. Dies gilt auch im vorliegenden Fall, denn dem Schädiger ist zwar durch die Psychiatrische Klinik XY. mit Beginn des ersten Kurzurlaubs zur Auflage gemacht worden, sich nicht mit dem Opfer der Tat vom 9. Juni 1987 zu treffen. Aus den vom Kläger eingereichten Schreiben der Psychiatrischen Klinik XY. vom 23. März 1992 und 13. April 1992 ergibt sich jedoch, daß der Kontakt zwischen dem Schädiger und der Geschädigten lediglich aus therapeutischer Sicht nicht als sinnvoll angesehen wurde. Wäre aus Sicht der Therapeuten in der Psychiatrischen Klinik eine Gefahr vom späteren Schädiger ausgegangen, so hätte dieser im übrigen überhaupt nicht beurlaubt werden dürfen. Ausdrücklich hat auch der Dipl.-Psych. in dem Schreiben der Psychiatrischen Klinik XY. vom 13. April 1992 darauf hingewiesen, daß von Seiten der Klinik niemals Kontakt zur Geschädigten aufgenommen worden ist, diese also auch von Seiten der Klinik nicht von der Auflage an den Schädiger, sie nicht zu treffen, nicht in Kenntnis gesetzt worden ist. Ob die Geschädigte selbst hiervon Kenntnis hatte, läßt sich nicht mehr mit letzter Sicherheit feststellen. Es ist angesichts des rein therapeutischen Zwecks des Kontaktaufnahmeverbotes auch nicht von entscheidungserheblicher Bedeutung.
Im Gegensatz zum Vordergericht ist der Senat der Auffassung, daß das Verhalten der Geschädigten, wiederum einen Kontakt zum Schädiger aufzunehmen, auch nicht deswegen als grob vernunftswidrig angesehen werden kann, weil sie aufgrund der Tat vom 9. Juni 1987 und auch dem vorangegangenen Verwaltungsverfahren sowie dem Strafurteil wußte, daß er bereits zuvor gegen eine Frau gewalttätig geworden war. Auch aus der Sicht eines objektiven Betrachters konnte die Geschädigte durch die sehr früh nach der Einweisung des Schädigers in die Psychiatrische Klinik beginnenden Beurlaubungen davon ausgehen, daß dort viel Vertrauen in den Schädiger gesetzt werde, so daß keine Gefahr mehr von ihm ausginge. Bestärkt werden konnte die Geschädigte in dieser Auffassung noch dadurch, daß, wie sich aus dem Tatbestand des Urteils des Landgerichts Kassels ergibt, der erste persönliche Kontakt zwischen ihr und dem Schädiger harmonisch und ohne Auseinandersetzungen verlief. Auch war der Schädiger dem Alkohol nicht mehr so zugewandt, wie dies vor der Tat im Juni 1987 noch der Fall war. Dem Strafurteil ist des weiteren zu entnehmen, daß im Zeitraum zwischen September 1988 und der Tat im Januar 1991 es im wesentlichen mit Ausnahme einer Ohrfeige, nicht zu tätlichen Auseinandersetzungen und größeren Streitigkeiten zwischen der Geschädigten und dem Schädiger gekommen ist. Der Schädiger hat hierzu vor dem Landgericht Kassel selbst ausgesagt, daß es sich bei dieser Ohrfeige um einen sehr verhaltenen Schlag gehandelt habe, weil er gewußt habe, daß ihr Kopf nach der Tat vom 9. Juni 1987 sehr empfindlich gewesen sei. Anders als in dem vom BSG mit Urteil vom 3. Oktober 1984 entschiedenen Fall, in dem die Geschädigte in einer Lebensgemeinschaft ausharrte, die mit einer dauernden Gefahrenlage verbunden war und in der sie stets mit Mißhandlungen rechnen mußte (a.a.O., Seite 168, 169), konnte und mußte die Geschädigte im vorliegenden Fall nicht von einer ständigen Gewaltbereitschaft des Schädigers ihr gegenüber ausgehen. Gerade am Tag der Tat konnte sie sich zudem bereits deswegen in Sicherheit wiegen, weil der G. Sch. ebenfalls in der Wohnung anwesend war, sie also bei einem tätlichen Angriff durch den Schädiger Hilfe erwarten konnte. Zudem war sie, wie sich aus dem Strafurteil des Landgerichts Kassel ergibt, auch in keiner Form auf einen Angriff des Schädigers vorbereitet. Sie hatte ihm nämlich während der Tat den Rücken zugewandt.
Der Beginn einer weiteren Beziehung zu G. Sch. und die "Nichtaussprache” mit dem Schädiger kann darüber hinaus nicht als grob vernunftswidriges Verhalten angesehen werden. Dies liegt in der Schwankungsbreite "normalen menschlichen Verhaltens” und kann im übrigen ohnehin nicht im Verhältnis zur Schwere der Tat einer wesentlich mitwirkenden Bedingung vergleichbar sein.
Der vom Vordergericht aufgeworfene Gesichtspunkt, daß die Geschädigte auch ihre Tochter A. in Gefahr gebracht habe, kann unter keinem Gesichtspunkt den Tatbestand der Unbilligkeit erfüllen. Zum einen ist sie selbst und nicht eines ihrer Kinder erneut Opfer des Schädigers geworden. Zum anderen mußte sie unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen auch nicht damit rechnen, daß der Schädiger gegenüber einer ihrer Kinder gewalttätig werden würde. Von Gewalttätigkeiten des Schädigers gegenüber ihren Kindern außerhalb der im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit begangenen Körperverletzung bzw. des versuchten Totschlages an der Tochter A., ist aus den Akten nichts weiteres bekannt. Die Tat an der Tochter A. muß danach im Zusammenhang mit der Schädigung der Geschädigten am 9. Juni 1987 gesehen werden. Daß ihre Tochter Angst vor dem Schädiger hatte und der Sohn M. sie gebeten hatte, den erneuten Kontakt mit dem Schädiger abzubrechen, kann für die Abwägung ebenfalls keine Rolle spielen. Selbst wenn diese Bitte einen Überlegungsprozeß bei der Geschädigten hätte auslösen sollen, so kann es ihr nicht als vorwerfbar im Sinne einer groben Unvernunft angelastet werden, daß sie den Kontakt mit dem Schädiger nicht abgebrochen hat. Dabei darf insbesondere nicht außer Betracht gelassen werden, daß die Beziehung zwischen der Geschädigten und dem Schädiger zwischen 1988 und Januar 1991, also über zwei Jahre hinweg relativ gewaltfrei und bis zum Dezember 1990 aus Sicht des Schädigers auch harmonisch verlaufen ist. Die Geschädigte durfte sich angesichts dessen auch aus der Sicht eines objektiven Betrachters im Verhältnis zum Schädiger in relativer Sicherheit wiegen.
Der Senat konnte sich im vorliegenden Fall auf den Erlaß eines Grundurteils nach § 130 SGG beschränken. Durch den Tod der Mutter der Beigeladenen hat die Beigeladene einen Rechtsanspruch auf die Gewährung einer Hinterbliebenenrente, deren Höhe der Beklagte ohne weitere, den Rechtsanspruch begründende, Ermittlungen, etwa hinsichtlich der Höhe der MdE, bestimmen kann und muß.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben sind.
Der Beklagte hat der Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Im übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten – Opferentschädigungsgesetz – OEG – an die Beigeladene.
Die Beigeladene ist die Tochter der 1953 geborenen und 1991 getöteten (Geschädigten). Die Geschädigte beantragte erstmals am 3. Juni 1987 Leistungen nach dem OEG.
Wie sich aus dem Urteil des Landgerichts Kassel (Az.: 429 Js 132134/87) vom 27. April 1988 ergibt, hatte der damalige Angeklagte (Schädiger/geboren 1956) die Geschädigte Anfang 1985 kennengelernt. Sie hatten sich Weihnachten 1986 verlobt, wohnten jedoch nicht zusammen.
... übernachtete öfter bei der Geschädigten. Zwischen den Verlobten, so heißt es weiter in dem Urteil, sei es häufiger zu Streitigkeiten gekommen. Der Schädiger sei gelegentlich aggressiv geworden, insbesondere wenn er Alkohol getrunken hatte. Im Jahre 1987 hatte er ihr bereits einmal die Kehle zugedrückt, bis sie kurzfristig ohnmächtig geworden sei. Ansonsten sei er ihr gegenüber nicht gewalttätig geworden. Nach dem Verlust einer Geldkassette bezichtigte die Geschädigte den Schädiger des Diebstahls an dieser Kassette. Am Morgen des 9. Juni 1987, so heißt es in dem oben genannten Urteil, nach dem Aufwachen, habe die Geschädigte dem Schädiger erneut Vorhaltungen wegen der verschwundenen Kassette gemacht. Sie habe ihn daran gehindert, ihre Wohnung zu verlassen. Sie habe die Wohnungstür von innen abgeschlossen, den Schlüssel in ihre Hosentasche gesteckt, ihm eine Ohrfeige versetzt und ihn des öfteren an den Haaren gezogen. habe darauf äußerlich ruhig reagiert, was die Geschädigte noch mehr gereizt habe. Der Streit habe sich über den ganzen Vormittag fortgesetzt. Als die Geschädigte gegen 13.30 Uhr wiederum schimpfend aus der Küche gekommen sei, habe plötzlich mit einem Hammer in der Hand, den er aus einem im Flur stehenden Eimer an sich genommen hatte, im Eingangsbereich der offenstehenden Wohnzimmertür gestanden. Während die Geschädigte ihn noch an dem Schlag habe hindern wollen, habe er ihr schon mit der stumpfen Seite des Hammers mehrfach – auch als sie bereits am Boden lag – auf den Kopf geschlagen. Die sechsjährige Tochter der Geschädigten habe dies alles mitbekommen und laut geschrien. Um die Schreie des Kindes zu unterbinden, habe alsdann mit dem Hammer auch auf das Kind eingeschlagen. Dieses sei nach mehreren Schlägen blutüberströmt bewußtlos auf dem Boden liegengeblieben. habe alsdann den Wohnungsschlüssel aus der Kleidung der Geschädigten genommen und die Wohnung verlassen. Die Geschädigte war durch diese Tat lebensgefährlich verletzt worden. Die Tochter erlitt zwei Impressionsfrakturen am Hinterkopf und eine Mehrfragmentfraktur mit Impressionen. Nach intensiver Behandlung in der Kinderklinik der Universität Göttingen wurde sie am 3. August 1987 in gutem Allgemeinzustand bei unauffälligen klinischen Befunden entlassen. Bei der Geschädigten stellte das Versorgungsamt Kassel mit Bescheid vom 27. April 1989 bindend folgende Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz fest: Schädelhirn-Verletzung mit Knochendefekt, hirnorganisches Psychosyndrom und Restlähmung der rechten Körperhälfte sowie der rechten Gesichtsseite. Den GdB setzte er mit 80 fest. Der Schädiger wurde durch Urteil des Landgerichts Kassel des tatmehrheitlich begangenen versuchten Totschlages in zwei Fällen für schuldig befunden. Die Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit wurden verneint. Allerdings wurde während der versuchten Tötung der späteren Geschädigten eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Schädigers angenommen. Während der Mißhandlung des Kindes wurde die Schuldfähigkeit als erheblich vermindert angesehen. Zugleich wird in dem Urteil zur Strafzumessung – die Gesamtfreiheitsstrafe wurde auf sechs Jahre festgesetzt sowie die Unterbringung im Psychiatrischen Krankenhaus angeordnet – ausgeführt: " Ohne eigene Schuld war der Angeklagte durch die ihm von der Frau zugefügte schwerste Kränkung des Vorwurfs des Hausdiebstahls zum Zorne gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden. Angesichts dieser erheblichen von ihm nicht verschuldeten Provokation des Opfers war nach Auffassung der Kammer zweifelsfrei ein minderschwerer Fall des Totschlagsversuchs gegeben.” Unter Berücksichtigung eines psychiatrischen Gutachtens stellte das Gericht zugleich fest, daß der Schädiger eine primär aggressionsgehemmte Persönlichkeit sei, die dazu neige, in als belastend empfundener Situation zunächst äußerlich scheinbar ruhig zu reagieren, dabei aber einen Affektstau zu entwickeln, der sich dann, begünstigt durch äußere Umstände, unerwartet entlade, wie im Fall der Gewaltanwendung an der Geschädigten und ihrer sechsjährigen Tochter. Diese wiederholt aufgetretene Verhaltensweise – der Schädiger hatte im Jahre 1981 angeblich aus Eifersucht seiner damaligen Ehefrau mehrfach mit der stumpfen Seite eines Beiles auf den Hinterkopf geschlagen – sei von Krankheitswert und müsse einer entsprechenden ärztlichen Behandlung in einem Psychiatrischen Krankenhaus zugeführt werden. Während vom gewöhnlichen Strafvollzug nach dem psychiatrischen Gutachten keine Einwirkungen auf den Schädiger zu erwarten seien, so könne in einem Psychiatrischen Krankenhaus mit hoher Erfolgsaussicht eine stationäre Therapie durchgeführt werden, mit dem Ziel, die bisher latente Disposition des Angeklagten, in extremen Belastungssituationen mit einer Affektstauentlastung zu reagieren, abzubauen.
Mit Bescheid vom 8. Dezember 1987 lehnte der Beklagte die Gewährung von Leistungen nach dem OEG ab. Zur Begründung führte er aus, daß die Geschädigte durch ihr provozierendes Verhalten eine wesentliche Bedingung für den späteren Schadenseintritt gesetzt habe. Aus diesem Grunde liege ein Versagensgrund nach § 2 Abs. 1 OEG vor, denn es sei unbillig, ihr eine Entschädigung für die Gesundheitsschädigung aufgrund des vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs zu gewähren. Den Widerspruch der Geschädigten vom 4. Januar 1988 wies er mit Widerspruchsbescheid vom 3. August 1988 zurück.
Am 28. Januar 1991 beantragte der Kläger für die Beigeladene Leistungen an die Hinterbliebene eines Opfers einer Gewalttat nach dem OEG. Der zuvor bereits erwähnte hatte am 6. Januar 1991 die Mutter der Beigeladenen, , in ihrer Wohnung durch einen Messerstich in den Rücken getötet.
Mit Urteil des Landgerichts Kassel vom 5. März 1992 (Az.: 101 Js 513/91) wurde der Schädiger wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 11 Jahren sowie der Unterbringung in einem Psychiatrischen Krankenhaus verurteilt. Zum Sachverhalt wird in diesem Urteil ausgeführt: "Nach der Tat vom 9. Juni 1987 hatte der Angeklagte den Kontakt zu Frau nicht abgebrochen. Bereits während der Untersuchungshaft hatte er Frau wöchentlich Briefe geschrieben. Das Briefeschreiben setzte er auch während der einstweiligen Unterbringung und sogar nach Rechtskraft des Urteils weiter fort. Obwohl ihm Frau (zunächst) nicht antwortete, schrieb er dieser (weiterhin). Am Abend des 11. September 1988 (erhielt er einen Telefonanruf von) Frau Der Angeklagte erklärte Frau bei diesem Gespräch u.a., daß ihm die Tat vom 9. Juni 1987 leid tue und er immer noch an sie denke. In der Folgezeit entwickelte sich ein reger brieflicher Kontakt zwischen dem Angeklagten und Frau. Das Psychiatrische Krankenhaus XY. und die Betreuer des Angeklagten hatten von diesen brieflichen und telefonischen Kontakten Kenntnis. Unternommen wurde hiergegen von Seiten der Klinik nichts. In der Zeit vom 27. Oktober bis 28. Oktober 1988 erhielt der Angeklagte zum ersten Mal Urlaub. (Von seiten der Klinik wurde ihm als) Auflage aufgegeben, Ausgänge nur in Begleitung eines erwachsenen Angehörigen zu unternehmen und jeglichen persönlichen Kontakt mit Frau in Eschwege zu unterlassen. Bereits am ersten (Urlaubs-)Tag rief der Angeklagte Frau an. Diese erklärte ihm, er solle sie in Eschwege besuchen. In der Wohnung traf er Frau und ihre Tochter an. Der Angeklagte (wurde) von Frau freundlich aufgenommen. Der telefonische und briefliche Kontakt des Angeklagten mit ging nach dem ersten Besuch unverändert fort. In der Folgezeit erhielt der Angeklagte bis Anfang Februar 1989 in jedem der folgenden Monate zwei Tage Urlaub. Jeweils mit den gleichen Auflagen versehen wurde er zu seinen Eltern entlassen. Bei jedem dieser Urlaube suchte der Angeklagte Frau auf. In der Zeit vom 24. März bis 28. März 1989 sollte der Angeklagte erstmals einen mehrtägigen Urlaub erhalten. (Im Rahmen eines Berichts der Psychiatrischen Klinik XY. an die zuständige Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Marburg) berichtete die Klinik über die bisher gewährten Urlaube und bemerkte hierzu, daß diese bislang allesamt positiv verlaufen seien und es zu keinerlei Unregelmäßigkeiten von selten des Angeklagten gekommen sei. Der Angeklagte habe sich bislang an alle mit ihm getroffenen Absprachen gehalten. Aus Sicht der Klinik sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu erwarten (, daß der Schädiger) den Urlaub zu erneuten fremdgefährdenden Handlungen mißbrauchen werde. – Nach Abklärung der weiteren Modalitäten – erteilte die Vollstreckungskammer mit Beschluss vom 6. März 1989 die Zustimmung zu dem beabsichtigten Urlaub. Wie schon bei den Urlaubsgewährungen zuvor besuchte der Angeklagte auch während dieses Urlaubs Frau Zu der der Klinik bekannten Kontaktaufnahme des Angeklagten zu wird ausgeführt: Bezeichnend für diese Beziehungsproblematik ist das unkritische Sich-Wieder-Einlassen auf eine Beziehung zu dem Opfer, diese wird seitens der Klinik mit großer Skepsis gesehen, aber nicht unterbunden. Persönliche Kontakte sind hier bisher jedoch verboten, da gemeinsame Gespräche, insbesondere in dieser Konstellation für unerläßlich gehalten werden, es zu diesen jedoch noch nicht gekommen ist. Abweichend von der Einschätzung der Klinik und deren Kenntnisstand (ging das) Interesse (des Schädigers) vielmehr dahin, den Kontakt zu Frau auszubauen und zu intensivieren. (Der Schädiger) nutzte (dann noch) 10 weitere Beurlaubungen in der Zeit zwischen April 1989 und August 1990 dazu, Frau – regelmäßig zu besuchen. Gemeinsam mit Frau schmiedete er auch Zukunftspläne. Alsdann trat im Leben eine Änderung ein, die schließlich in die Tat einmündete.” In dem Urteil des Landgerichts Kassel heißt es hierzu: traf (Anfang November 1990) den Zeugen. (Sie) kamen ins Gespräch und es ergab sich, daß Frau ihre früher für den Zeugen einmal empfundene Zuneigung wieder neu entdeckte, was schließlich zur Wiederaufnahme freundschaftlicher Beziehungen zwischen (ihr) und dem Zeugen führte. Schon nach kurzer Zeit wurden (sie) auch intim miteinander. Der Angeklagte wußte von dieser neuen Beziehung zunächst nichts. Er gewann allerdings noch im Laufe der ersten Novemberhälfte (des Jahres 1990) den Eindruck, daß in der Beziehung zwischen ihm und irgendetwas nicht stimme. Nach wie vor rief der Angeklagte täglich bei Frau an. Endlich brachte er auch die Sprache auf den Zeugen und stellte die Frage, "ob sie etwas mit dem habe”. Frau stritt zunächst ab. Bei einem späteren Telefongespräch räumte sie ihm gegenüber ein, der sei ein guter Freund. Am 18. Dezember 1990 trat der Angeklagte einen 22tägigen Urlaub an, der bis zum 8. Januar 1991 dauern sollte. Frau (nahm ihn) freundlich in ihrer Wohnung auf und (benahm) sich ihm gegenüber nicht anders als bei seinen Besuchen vor November 1990. Der Angeklagte war beruhigt. (Wegen diverser Telefongespräche wurden) die Zweifel und das Mißtrauen des Angeklagten (jedoch) wieder geweckt. In den nächsten Tagen fuhr er aber regelmäßig abends zu Frau , mit der er die Nacht verbrachte. Verunsichert und in tiefe Zweifel gestürzt wurde der Angeklagte dann aber wieder dadurch, daß die abendlichen, längeren Telefongespräche Frau weitergingen. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt zwischen dem 18. und dem 30. Dezember 1990 wurde der Streit zwischen dem Angeklagten und Frau so heftig, daß der Angeklagte gegen Frau die Hand erhob und ihr einen leichten Schlag ins Gesicht versetzte. Der Angeklagte war dabei über das widersprüchliche Verhalten ihm gegenüber "sauer und wütend”. Andererseits hatte er sich noch insoweit unter Kontrolle, Frau bewußt nur einen leichten Schlag ins Gesicht zu versetzen, da er wußte, wie empfindlich ihr Kopf nach den 1987 erlittenen Verletzungen war. Weihnachten und die Tage bis zum 30. Dezember 1990 hielt sich der Angeklagte wiederholt bei Frau in deren Wohnung auf. In den darauf folgenden Tagen vom 31. Dezember 1990 bis zum 5. Januar 1991 gelangte der Schädiger zu der Gewißheit, daß die Geschädigte mit ein intimes Verhältnis hatte. Seine Versuche hierüber mit der Geschädigten zu sprechen, mißlangen. "Zum Verlauf des Tattages – 6. Januar 1991 – heißt es in dem Urteil des Landgerichts Kassel. Daß ihn das Verhalten der Geschädigten, auf seine Fragen oder Bitten, was denn nun werden solle, immer wieder auszuweichen, verunsichert habe.” Bevor er sich am 6. Januar gegen 14.00 Uhr auf den Weg gemacht hatte, hatte er aus dem Zimmer seines Sohnes in der Wohnung seiner Eltern ein Fahrtenmesser an sich genommen. Dieses steckte der Angeklagte ohne die dazugehörige Scheide aus Hartplastik in die Innentasche seiner Jacke. Er hoffte, zu einer Aussprache mit zu kommen. Um so enttäuschter war er dann, als er in der Wohnung den Zeugen antraf. Irgendwann während dieser Zeit waren der Angeklagte und auch einmal gemeinsam auf dem Balkon. Ein richtiges Gespräch kam zwischen den beiden Männern bei dieser Gelegenheit aber nicht auf. Gegen 17.30 Uhr verließ die Küche, um auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen. Der Angeklagte und blieben in der Küche zurück. Der Angeklagte wollte nach den Feststellungen des Landgerichts Kassel noch einmal und letztmalig den Versuch unternehmen, von Frau eine Antwort auf die Frage ihrer zukünftigen Beziehung zueinander zu erhalten. " (Er) richtete an ” die Frage, "warum das zwischen (uns) ihnen alles so sein müsse und warum es nicht wieder so sein könne, wie früher”. gab dem Angeklagten keine Antwort. Mit dem Rücken dem Angeklagten zugewandt stand sie vor der Schranktür rechts neben dem Kücheneingang und räumte Geschirr in die Schränke. Der Angeklagte wiederholte seine Frage. Auch jetzt reagierte Frau nicht, räumte vielmehr weiter das Geschirr ein. Noch ein- oder zweimal erneuerte der Angeklagte seine Frage, ohne daß ihm eine Antwort gab oder sich ihm zuwandte In dem Angeklagten stieg nunmehr ein starkes Gefühl ohnmächtiger Wut, Enttäuschung, Eifersucht und Haß auf. Aus der Innentasche seiner Jacke nahm er das Fahrtenmesser in die rechte Hand. Er ging dann einen Schritt auf Frau zu, die nach wie vor mit dem Rücken zu ihm gewandt vor der Schrankzeile rechts der Küchentür stand. Ohne sein Vorhaben anzukündigen und für Frau völlig unerwartet stieß er dieser das Messer mit großer Wucht in den Rücken lebte noch kurze Zeit, verstarb aber schließlich noch vor dem Eintreffen des Notarztwagens an inneren Blutungen Das Landgericht stellte fest, daß zum Tatzeitpunkt die Schuldfähigkeit des Schädigers erheblich vermindert gewesen sei.
Mit Bescheid vom 6. Mai 1991 lehnte der Beklagte die Gewährung der beantragten Leistung ab. Zur Begründung führte er aus, daß die Geschädigte den zum Tode führenden Angriff wesentlich mit verursacht habe, so daß Leistungen nach § 2 Abs. 1 OEG zu verwehren seien. Den Widerspruch des Klägers vom 29. Mai 1991 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 1991 mit im wesentlichen gleichen Ausführungen zurück.
Auf die Klage vor dem Sozialgericht Kassel (SG) vom 6. November 1991 hat dieses die staatsanwaltschaftlichen Akten beigezogen. Der Kläger hat zwei Schreiben der Klinik für gerichtliche Psychiatrie XY. vom 23. März 1992 und 13. April 1992 vorgelegt, aus denen sich ergibt, daß von Seiten der Klinik mit der Geschädigten zu keinem Zeitpunkt ein persönlicher Kontakt hergestellt worden ist. Auch habe die Geschädigte sich zu keinem Zeitpunkt an die Klinik gewandt. Eine erneute langfristige Beziehung zur Geschädigten habe aus therapeutischer Sicht auf keinen Fall sinnvoll erschienen. Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 15. März 1994 hat das SG alsdann die Klage abgewiesen.
Gegen dieses dem Kläger am 5. April 1994 zugestellte Urteil hat er am 11. April 1994 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.
Der Senat hat durch Beschluss im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage vom 13. Juni 1995 die Tochter der Geschädigten, S. T., beigeladen.
Der Kläger vertritt die Auffassung, daß die Geschädigte weder mit den Kontakten zum Schädiger während seiner Beurlaubungen aus der Klinik XY., noch durch ihr eigenes Verhalten unmittelbar vor der Gewalttat einen Anlaß für diese Tat gegeben habe. Sie habe auch mit der Tat nicht "höchstwahrscheinlich” rechnen müssen. Die Beurlaubungen des Schädigers aus der Klinik XY. seien vielmehr geeignet gewesen, bei der Geschädigten den Eindruck zu erwecken, daß keine Gefahr mehr von dem Schädiger für sie ausgehe. Das Verbot der Kontaktaufnahme habe in erster Linie therapeutischen Zwecken und nicht dem Schutz der Geschädigten gedient. Mit Ausnahme einer Ohrfeige habe es während des gesamten Zeitraumes zwischen September 1988 und Januar 1991 keine gewalttätigen Auseinandersetzungen oder Mißhandlungen durch den Schädiger gegeben. Eine erkennbare Lebensgefahr habe am 6. Januar 1991 für sie nicht bestanden. Sie habe den Schädiger auch nicht durch eine abrupte Beendigung der Beziehung provoziert.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 15. März 1994 und den Bescheid des Beklagten vom 6. Mai 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1991 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, an die Beigeladene Hinterbliebenenversorgung nach in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene schließt sich dem Vortrag und dem Antrag des Klägers an.
Wegen der weiteren Einzelheiten sowie zum Vorbringen der Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, den Inhalt der vom Senat beigezogenen Gerichtsakte zum Az.: S- 6E(7)/V-901/88, der Gerichtsakten des Landgerichts Marburg zum Az.: 7STVK 224/95, der Verwaltungsakten des Beklagten zum Geschäftszeichen: 2301 – Alnr.:65/87 OEG und der Waisenakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG – i.V.m. § 7 Abs. 1 OEG).
Der Kläger ist auch aktiv legitimiert durch Prozeßstandschaft nach § 97 Sozialgesetzbuch 8. Buch – SGB 8 –. Danach kann der erstattungsberechtigte Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Feststellung einer Sozialleistung betreiben sowie Rechtsmittel einlegen. Diese Vorschrift ist inhaltlich der des § 91 a Bundessozialhilfegesetz – BSHG – nachgebildet. Damit tritt der erstattungsberechtigte Träger der öffentlichen Jungendhilfe an die Stelle des Berechtigten, um dessen Ansprüche auf Sozialleistungen durchzusetzen. Die materielle Berechtigung verbleibt beim Leistungsberechtigten. Der Träger verfolgt nur fremdes sachliches Recht im eigenen Namen. Dabei reicht die Feststellung des Anspruchs auch in die Zukunft hinein, im Gegensatz zum Erstattungsanspruch nach §§ 102 bis 105 SGB 10. Buch – SGB 10 –, der auf Zeiträume begrenzt ist, für die bereits Sozialleistungen gezahlt wurden (vgl. hierzu Schellhorn, Jirasek, Seipp, Kommentar zum BSHG, 14. Auflage, Neuwied, 1993, § 91 a, Randnr. 8). Dieses ist im vorliegenden Fall deswegen von Bedeutung, weil der Kläger ausweislich des vom Senat angeforderten Nachweises nur bis zum 31. Juli 1992 Leistungen der freiwilligen Erziehungshilfe erbracht hat, die Gewährung von Hinterbliebenenversorgung jedoch auch für die Zukunft begehrt. Seine Leistungen wurden vom Kläger aufgrund des Gesetzes über die Zuständigkeit auf den Gebieten der freiwilligen Erziehungshilfe und der Fürsorgeerziehung vom 16. Oktober 1965 (Gesetz und Verordnungsblatt I, 1965, Seite 232) i.V.m. Artikel 15 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vom 26. Juni 1990 und Artikel 1 § 85 Abs. 1 dieses Gesetzes erbracht. Insoweit ist er erstattungsberechtigt. Er ist nachrangig zur Leistung verpflichtet und die Leistungen auf Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG und die von ihm erbrachten Leistungen sind gleichartig. Beide sollen dazu dienen, die Lebensbedingungen der Waise zu verbessern. Auch handelt es sich bei den begehrten Leistungen nach dem OEG um Sozialleistungen im Sinne des § 24 Abs. 1 Nr. 4 SGB Allgemeiner Teil – SGB 1 –.
Die Berufung ist begründet. Das Urteil des SG vom 15. März 1994 kann keinen Bestand haben. Der Bescheid des Beklagten vom 6. Mai 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1991 ist rechtswidrig. Der Kläger und die Beigeladene werden dadurch in ihren Rechten verletzt. Die Beigeladene hat einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung nach in gesetzlicher Höhe entsprechend den Vorschriften des OEG.
Gemäß § 1 Abs. 1 OEG erhält, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtsmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Gemäß § 1 Abs. 8 OEG erhalten auch die Hinterbliebenen eines Geschädigten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 8 OEG liegen im vorliegenden Fall unstreitig vor. Nach den Feststellungen des Landgerichts Kassel im Urteil vom 5. März 1992 (Az.: 101 Js 513/91) ist die Geschädigte, die Mutter der Beigeladenen, durch einen vorsätzlichen rechtswidrigen Angriff des Schädigers am 6. Januar 1991 ums Leben gekommen. Diese Tat wurde als Totschlag vom Landgericht Kassel gewertet.
Im Gegensatz zur Auffassung des Vordergerichts sowie des Beklagten liegen nach Auswertung sämtlicher Aktenteile die Voraussetzungen der Versagung von Hinterbliebenenleistungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG jedoch nicht vor. Danach sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Dies gilt auch in dem Falle, in dem die Gewährung von Hinterbliebenenversorgung im Streit steht (vgl. Entscheidung des BSG vom 7. November 1979, Az.: 9 RVg 78, BSGE 49, 104 ff.). Im Recht der Opferentschädigung richtet sich die Beurteilung der Verursachung des eingetretenen Schadens im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG nach der versorgungsrechtlichen Kausalitätstheorie der wesentlich mitwirkenden Bedingung. Eine Ursache ist wesentlich, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges im Verhältnis zu den übrigen Umständen mindestens annähernd gleichwertig ist (vgl. Entscheidung des Bundessozialgerichts – BSG – vom 26. Juni 1985, Az.: 9 a RVg 6/84, BSGE 58 214, 215). Ein solches gleichwertiges Verhalten des Geschädigten ist dabei in der Regel nur dann als wesentlich bedeutsam für den Erfolg im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG zu beurteilen, wenn es ebenso wie der rechtswidrige Angriff des Schädigers von der Rechtsordnung mißbilligt wird. Eine derartige Gleichwertigkeit der Mißbilligung der Rechtsordnung für das Verhalten der Geschädigten im Verhältnis zum rechtswidrigen Angriff des Schädigers ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Der Entschluß des Schädigers, einen Gewaltangriff auf die Geschädigte zu verüben, hat hier überragende Bedeutung in der Reihe der Ursachen. Hierbei ist insbesondere von Bedeutung, daß weder die Kontaktaufnahme der Geschädigten zum Schädiger im Jahre 1988 nach der von dem Schädiger 1987 begangenen Tat, noch die später aufgenommene Beziehung zu als ein von der Rechtsordnung mißbilligtes Verhalten der Geschädigten angesehen werden können. Der Schädiger mag zwar das Verhalten der Geschädigten vor der Tat als Provokation aufgefaßt haben, objektiv war es, wie auch in dem Urteil des Landgerichts Kassel zutreffend ausgeführt wird, jedoch keine solche. Ihr Verhalten mag der Anlaß für die Tat des Schädigers gewesen sein, nicht jedoch die Ursache hierfür. Des weiteren steht ihr Verhalten in keinem Verhältnis zur Schwere der anschließenden Tat.
Aber auch ein Versagensgrund nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative OEG liegt nicht vor. Der dort gewählte Rechtsbegriff der "Unbilligkeit” ist ein unbestimmter, der durch die Rechtsprechung entsprechend dem Willen des Gesetzgebers mit Inhalt zu füllen ist. Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, die bei strenger Auslegung einer abstrakt oder allgemein festgelegten Rechtsnorm nicht genügend gewürdigt werden können. Dies bedeutet, daß nach dem Normzweck der unbestimmte Rechtsbegriff der Unbilligkeit wegen des Strafverfolgungsmonopols des Staates dahingehend ausgelegt werden muß, daß eine Versagung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative OEG nur dann in Betracht kommt, wenn eine staatliche Hilfe nach den Vorschriften des OEG als sinnwidrig und damit als ungerecht erscheinen muß. Unter Berücksichtigung des Wortlautes des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG und wegen der engen Verbindung der 1. Alternative – Mitverursachung – zu den "sonstigen Umständen” – 2. Alternative – müssen diese unter Berücksichtung der Einzelfallgestaltung eine Entschädigung mit einem solchen Gewicht als unbillig erscheinen lassen, daß dies dem in der 1. Alternative genannten Grund an Bedeutung annähernd gleichkommt (vgl. Entscheidung des BSG vom 26. Juni 1985 – Az.: 9 a RVg 6/84, BSGE 58, 214, 216). Dabei kann eine Unbilligkeit der Entschädigung insbesondere dann vorliegen, wenn der Verletzte in hohem Maße vernunftswidrig gehandelt und es in grob fahrlässiger Weise unterlassen hat, eine höchstwahrscheinlich zu erwartende Gefahr von sich abzuwenden. Das Verhalten des Opfers einerseits ist gegenüber den Umständen der Gewalttat, andererseits in Bezug auf den gesetzlichen Entschädigungszweck insoweit abzuwägen. Stellt sich aber nach diesem Grundgedanken allein die Frage, ob und wie weit der Geschädigte durch sein eigenes Verhalten zur Schädigung unmittelbar beigetragen hat, so kann dasselbe Verhalten nicht im Rahmen der 1. Alternative als unerhebliche Mitursache, also nicht wesentliche Bedingung, im Rahmen der 2. Alternative aber gleichwohl als so schwerwiegend gewertet werden, daß deswegen eine Entschädigung unbillig ist (vgl. Entscheidung des BSG vom 6. Dezember 1989, Az.: 9 RVg 2/89, BSGE 66, 115, 117). Das BSG hat hierzu in einer Entscheidung von Dezember 1989 (a.a.O.) ausdrücklich festgestellt, daß dieser Zusammenhang zwischen Kausalität und Unbilligkeit in der bisherigen Rechtsprechung nicht immer deutlich genug zum Ausdruck gekommen sei. Klarzustellen sei, daß das, was als Verursachung im Sinne der 1. Alternative des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht zur Leistungsversagung führe, nicht für sich allein, sondern nur aus sonstigen, zusätzlichen Gründen zur Bejahung der Unbilligkeit führen könne. In Betracht für die Unbilligkeit kommen mithin nur Gründe, die sich nicht mit dem unmittelbaren Tatbeitrag decken. Dazu gehört etwa das weitere Umfeld der Tat, insbesondere das Milieu, in dem sie geschehen ist. Der Gesetzgeber hat vor allem Personenkreise, die sich allgemein rechtsfeindlich verhalten, insbesondere Angehörige Krimineller Vereinigungen, von Entschädigungen ausschließen wollen. Auch aus der Vorgeschichte einer Gewalttat kann sich ein verwerfliches Verhalten des späteren Opfers ergeben, das zwar nicht als unmittelbar ursächlich zu werten ist, gleichwohl eine Entschädigung unbillig erscheinen lassen kann (vgl. Entscheidung des BSG vom 6. Dezember 1989, a.a.O., Seite 119).
Im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten kann aus der Vorgeschichte der Gewalttat jedoch kein verwerfbares Verhalten der Geschädigten entnommen werden, das die Entschädigung als unbillig erscheinen läßt. Dies gilt insbesondere unter dem Gesichtspunkt, daß eine ständige Lebensbeziehung zwischen Opfer und Täter für sich allein einen Leistungsausschluß noch nicht rechtfertigt (vgl. Entscheidung des BSG vom 3. Oktober 1984, Az.: 9 a RVg 6/83, BSGE 57, 168, 169). Dies gilt selbst dann, wenn man nach der älteren Rechtsprechung des BSG noch annehmen wollte, daß dann, wenn der Geschädigte einer ständigen Gefahr zum Opfer gefallen ist, aus der er sich bei einem Mindestmaß an Selbstverantwortung hätte selbst befreien können, an Unbilligkeit zu denken wäre. Zu Recht hat der 5. Senat des Hessischen Landessozialgerichts in einer Entscheidung vom 25. März 1993 (Az.: L-5/Vg-615/90) hierzu ausgeführt, daß eine Versagung in einem solchen Fall nur dann in Betracht kommt, wein dem Opfer selbst ein vorwerfbares rechtsfeindliches Verhalten als Ursache oder zumindest Mitursache für den zu beurteilenden tätlichen Angriff vorgehalten werden kann. Ein derartiges Verhalten vermochte der Senat im vorliegenden Fall nicht zu erblicken. Zweifelsohne, wie zuvor bereits ausgeführt, wäre ohne die Kontaktaufnahme durch die Geschädigte im September 1988 der Gesamtrahmen für die Tat möglicherweise nicht hergestellt worden. Aus dem Strafurteil des Landgerichts Kassel ergibt sich nämlich, daß der Schädiger zum Zeitpunkt des Anrufs der Geschädigten in der Psychiatrischen Klinik XY. bereits die Hoffnung auf einen Kontakt zu ihr aufgegeben hatte. Seine Briefe waren nämlich bis dahin von ihr unbeantwortet geblieben. Erst der Anruf hat ihn in der damaligen Situation dazu bewegt, den Kontakt zur Geschädigten zu intensivieren. Allein das Wiederherstellen des Kontaktes zum Schädiger nach der Tat vom 9. Juni 1987 kann jedoch nach den Feststellungen des Senates nicht als vernunftswidrig angesehen werden. Grundsätzlich, dies ist vom Kläger zutreffend vorgetragen worden, untersagt die Rechtsordnung einen Kontakt zwischen Geschädigtem und ehemaligem Schädiger nicht. Dies gilt auch im vorliegenden Fall, denn dem Schädiger ist zwar durch die Psychiatrische Klinik XY. mit Beginn des ersten Kurzurlaubs zur Auflage gemacht worden, sich nicht mit dem Opfer der Tat vom 9. Juni 1987 zu treffen. Aus den vom Kläger eingereichten Schreiben der Psychiatrischen Klinik XY. vom 23. März 1992 und 13. April 1992 ergibt sich jedoch, daß der Kontakt zwischen dem Schädiger und der Geschädigten lediglich aus therapeutischer Sicht nicht als sinnvoll angesehen wurde. Wäre aus Sicht der Therapeuten in der Psychiatrischen Klinik eine Gefahr vom späteren Schädiger ausgegangen, so hätte dieser im übrigen überhaupt nicht beurlaubt werden dürfen. Ausdrücklich hat auch der Dipl.-Psych. in dem Schreiben der Psychiatrischen Klinik XY. vom 13. April 1992 darauf hingewiesen, daß von Seiten der Klinik niemals Kontakt zur Geschädigten aufgenommen worden ist, diese also auch von Seiten der Klinik nicht von der Auflage an den Schädiger, sie nicht zu treffen, nicht in Kenntnis gesetzt worden ist. Ob die Geschädigte selbst hiervon Kenntnis hatte, läßt sich nicht mehr mit letzter Sicherheit feststellen. Es ist angesichts des rein therapeutischen Zwecks des Kontaktaufnahmeverbotes auch nicht von entscheidungserheblicher Bedeutung.
Im Gegensatz zum Vordergericht ist der Senat der Auffassung, daß das Verhalten der Geschädigten, wiederum einen Kontakt zum Schädiger aufzunehmen, auch nicht deswegen als grob vernunftswidrig angesehen werden kann, weil sie aufgrund der Tat vom 9. Juni 1987 und auch dem vorangegangenen Verwaltungsverfahren sowie dem Strafurteil wußte, daß er bereits zuvor gegen eine Frau gewalttätig geworden war. Auch aus der Sicht eines objektiven Betrachters konnte die Geschädigte durch die sehr früh nach der Einweisung des Schädigers in die Psychiatrische Klinik beginnenden Beurlaubungen davon ausgehen, daß dort viel Vertrauen in den Schädiger gesetzt werde, so daß keine Gefahr mehr von ihm ausginge. Bestärkt werden konnte die Geschädigte in dieser Auffassung noch dadurch, daß, wie sich aus dem Tatbestand des Urteils des Landgerichts Kassels ergibt, der erste persönliche Kontakt zwischen ihr und dem Schädiger harmonisch und ohne Auseinandersetzungen verlief. Auch war der Schädiger dem Alkohol nicht mehr so zugewandt, wie dies vor der Tat im Juni 1987 noch der Fall war. Dem Strafurteil ist des weiteren zu entnehmen, daß im Zeitraum zwischen September 1988 und der Tat im Januar 1991 es im wesentlichen mit Ausnahme einer Ohrfeige, nicht zu tätlichen Auseinandersetzungen und größeren Streitigkeiten zwischen der Geschädigten und dem Schädiger gekommen ist. Der Schädiger hat hierzu vor dem Landgericht Kassel selbst ausgesagt, daß es sich bei dieser Ohrfeige um einen sehr verhaltenen Schlag gehandelt habe, weil er gewußt habe, daß ihr Kopf nach der Tat vom 9. Juni 1987 sehr empfindlich gewesen sei. Anders als in dem vom BSG mit Urteil vom 3. Oktober 1984 entschiedenen Fall, in dem die Geschädigte in einer Lebensgemeinschaft ausharrte, die mit einer dauernden Gefahrenlage verbunden war und in der sie stets mit Mißhandlungen rechnen mußte (a.a.O., Seite 168, 169), konnte und mußte die Geschädigte im vorliegenden Fall nicht von einer ständigen Gewaltbereitschaft des Schädigers ihr gegenüber ausgehen. Gerade am Tag der Tat konnte sie sich zudem bereits deswegen in Sicherheit wiegen, weil der G. Sch. ebenfalls in der Wohnung anwesend war, sie also bei einem tätlichen Angriff durch den Schädiger Hilfe erwarten konnte. Zudem war sie, wie sich aus dem Strafurteil des Landgerichts Kassel ergibt, auch in keiner Form auf einen Angriff des Schädigers vorbereitet. Sie hatte ihm nämlich während der Tat den Rücken zugewandt.
Der Beginn einer weiteren Beziehung zu G. Sch. und die "Nichtaussprache” mit dem Schädiger kann darüber hinaus nicht als grob vernunftswidriges Verhalten angesehen werden. Dies liegt in der Schwankungsbreite "normalen menschlichen Verhaltens” und kann im übrigen ohnehin nicht im Verhältnis zur Schwere der Tat einer wesentlich mitwirkenden Bedingung vergleichbar sein.
Der vom Vordergericht aufgeworfene Gesichtspunkt, daß die Geschädigte auch ihre Tochter A. in Gefahr gebracht habe, kann unter keinem Gesichtspunkt den Tatbestand der Unbilligkeit erfüllen. Zum einen ist sie selbst und nicht eines ihrer Kinder erneut Opfer des Schädigers geworden. Zum anderen mußte sie unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen auch nicht damit rechnen, daß der Schädiger gegenüber einer ihrer Kinder gewalttätig werden würde. Von Gewalttätigkeiten des Schädigers gegenüber ihren Kindern außerhalb der im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit begangenen Körperverletzung bzw. des versuchten Totschlages an der Tochter A., ist aus den Akten nichts weiteres bekannt. Die Tat an der Tochter A. muß danach im Zusammenhang mit der Schädigung der Geschädigten am 9. Juni 1987 gesehen werden. Daß ihre Tochter Angst vor dem Schädiger hatte und der Sohn M. sie gebeten hatte, den erneuten Kontakt mit dem Schädiger abzubrechen, kann für die Abwägung ebenfalls keine Rolle spielen. Selbst wenn diese Bitte einen Überlegungsprozeß bei der Geschädigten hätte auslösen sollen, so kann es ihr nicht als vorwerfbar im Sinne einer groben Unvernunft angelastet werden, daß sie den Kontakt mit dem Schädiger nicht abgebrochen hat. Dabei darf insbesondere nicht außer Betracht gelassen werden, daß die Beziehung zwischen der Geschädigten und dem Schädiger zwischen 1988 und Januar 1991, also über zwei Jahre hinweg relativ gewaltfrei und bis zum Dezember 1990 aus Sicht des Schädigers auch harmonisch verlaufen ist. Die Geschädigte durfte sich angesichts dessen auch aus der Sicht eines objektiven Betrachters im Verhältnis zum Schädiger in relativer Sicherheit wiegen.
Der Senat konnte sich im vorliegenden Fall auf den Erlaß eines Grundurteils nach § 130 SGG beschränken. Durch den Tod der Mutter der Beigeladenen hat die Beigeladene einen Rechtsanspruch auf die Gewährung einer Hinterbliebenenrente, deren Höhe der Beklagte ohne weitere, den Rechtsanspruch begründende, Ermittlungen, etwa hinsichtlich der Höhe der MdE, bestimmen kann und muß.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben sind.
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