Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 12 Kg 1215/92
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Kg 916/93
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Abschiebung eines Asylantragstellers kann auch dann auf „unbestimmte Zeit” ausgeschlossen sein, wenn die dem Abschiebestopp zugrundeliegenden Erlasse für bestimmte Personenkreise nach § 54 AuslG nur befristet gelten, die Möglichkeit ihrer Verlängerung aber nicht von vorneherein ausschließen
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 24. Juni 1993 aufgehoben. Unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Juli 1992 und des Widerspruchsbescheides vom 14. Oktober 1992 wird die Beklagte verurteilt, dem Kläger für seine Kinder Sa., S., M. und N. in der Zeit von Juni 1992 bis einschließlich Juni 1993 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Kindergeld in der Zeit von Juni 1992 bis Juni 1993 streitig.
Der 1963 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er hat vier Töchter, nämlich Sa. (geb.1987), S. (geb. 1988), M. (geb. 1992) und N. (geb. 1993).
Der Kläger reiste am 7. November 1989 aus Afghanistan in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Einreise seiner Ehefrau sowie der Kinder Sa. und S. erfolgte am 26. Dezember 1990. Die Kinder M. und N. sind in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Während des streitbefangenen Zeitraums stand der Kläger ohne Unterbrechungen in einem Versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis.
Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland stellte der Kläger einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte diesen Antrag ab. Die hiergegen erhobene Klage wurde vom Kläger mit Schriftsatz vom 9. Juli 1993 zurückgenommen, nachdem ihm zuvor auf der Grundlage des Erlasses des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten vom 28. Juni 1993 (Altfallregelung für Asylbewerberinnen und Asylbewerber u.a. aus Afghanistan = StAnz 29/1993, S. 1774) die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis in Aussicht gestellt worden war. Diese Aufenthaltsbefugnis wurde dem Kläger am 12. Juli 1993 vom Landrat des Lahn-Dill-Kreises erteilt.
Am 16. Juli 1992 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Kindergeld. Er berief sich dabei auf die vom Hessischen Ministerium des Innern und für Europaangelegenheiten ergangenen Erlasse über die Aussetzung der Abschiebung von afghanischen Staatsangehörigen vom 30. Dezember 1991 bzw. 20. Januar 1992 (StAnz 5/1992, S. 322) sowie vom 1. Juli 1992 und vom 28. Dezember 1992, die auf der Grundlage des § 54 Abs. 2 Ausländergesetz (AuslG) beginnend mit dem 1. Januar 1992 sukzessive einen jeweils auf sechs Monate befristeten Abschiebungsstopp für afghanische Staatsangehörige vorsahen.
Durch Bescheid vom 31. Juli 1992 wurde dieser Antrag mit der Begründung abgelehnt, der Kläger gehöre nicht zu dem Personenkreis, bei dem unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abgesehen werde. Der Kläger habe deshalb weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet, so daß er einen Anspruch auf Kindergeld nicht geltend machen könne.
Der Kläger legte dagegen Widerspruch ein. Im Widerspruchsverfahren bestätigte der Landrat des Lahn-Dill-Kreises mit Schreiben vom 16. September 1992, daß der weitere Aufenthalt des Klägers aufgrund der bestehenden Erlaßlage auch im Falle einer rechtskräftigen Ablehnung seines Asylantrages bis zum 31. Dezember 1992 geduldet werde.
Durch Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1992 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Im Widerspruchsbescheid wurde ausgeführt, die vom Landrat des Lahn-Dill-Kreises erteilte Auskunft könne einen Anspruch auf Kindergeld nicht begründen. Denn nach § 1 Abs. 3 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) bestehe ein Anspruch für Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhielten, nur dann, wenn ihre Abschiebung auf unbestimmte Zeit unzulässig sei oder wenn sie aufgrund landesrechtlicher Vorschriften auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden dürften. Dies sei beim Kläger nicht der Fall. Nach der derzeitigen Erlaßlage bestehe für den Kläger vielmehr lediglich ein Abschiebeschutz bis zum 31. Dezember 1992.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Gießen durch Urteil vom 24. Juni 1993 abgewiesen. Das Sozialgericht hat die Auffassung vertreten, die durch das 12. Gesetz zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes vom 30. Juni 1989 eingeführte Regelung des § 1 Abs. 3 BKGG stelle eine Festschreibung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Hinweis u.a. auf Urteil vom 23. Februar 1988 – 10 RKg 20/86) dar. Danach werde eine Prognose des Inhalts verlangt, daß aufgrund der ausländerrechtlichen Vorschriften damit gerechnet werden müsse, daß der Asylbewerber auch nach endgültiger Ablehnung des Asylantrages auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland bleiben dürfe. Vorliegend greife § 54 Ausländergesetz ein, wonach die oberste Landesbehörde unter bestimmten Bedingungen anordnen könne, daß die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten für die Dauer von längstens sechs Monaten ausgesetzt werde. Eine entsprechende Anordnung sei für afghanische Staatsangehörige durch Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten am 30. Dezember 1991 getroffen worden. Diese Regelung sei bis zum 30. Juni 1993 verlängert worden. Die Ausländerbehörde habe auf Anfrage des Gerichts am 25. März 1993 jedoch lediglich mitgeteilt, ob dieser Erlaß über den 30. Juni 1993 hinaus verlängert werde, sei nicht abzusehen. Damit stehe fest, daß eine Aussetzung der Abschiebung auf unbestimmte Zeit nicht anzunehmen sei, denn zu der Wahrscheinlichkeit einer Abschiebung im Falle der Ablehnung des Asylantrages habe sich die Ausländerbehörde gerade nicht geäußert. Da ferner ungewiß sei, ob der Erlaß erneut verlängert werde, könne auch nicht von einem dauerhaften Abschiebestopp ausgegangen werden, der eine entsprechende Prognose begründen könnte. Eine zweimalige Verlängerung des Abschiebestopps von jeweils einem halben Jahr reiche für die Annahme des Ausschlusses der Abschiebung auf unbestimmte Zeit i.S.v. § 1 Abs. 3 BKGG noch nicht aus. Entgegen der Ansicht des Klägers könne die zu treffende Prognose nicht allein darauf gestützt werden, daß in dem Herkunftsland Gefahr für Leib und Leben bestehe und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Zwar sei dies allgemein bekannt. Die Prognose müsse sich indes, wie aus dem eindeutigen Wortlaut des § 1 Abs. 3 BKGG zu entnehmen sei, aus den Feststellungen der im Rahmen des Ausländerrechts zuständigen Behörde ergeben.
Gegen das dem Kläger am 10. August 1993 zugestellte Urteil richtet sich die am 9. September 1993 eingegangene Berufung. Der Kläger trägt vor, die nach § 54 Ausländergesetz mögliche Aussetzung könne schon nach dem Gesetz nicht für einen längeren Zeitraum als sechs Monate erfolgen. § 1 Abs. 3 BKGG, der § 54 Ausländergesetz ausdrücklich erwähne, wäre aber nicht verständlich, wollte man die erforderliche Prognose auf den Halbjahreshorizont der Erlaßgeltung beschränken. Dann könnte § 54 Ausländergesetz in keinem Fall ein Abschiebungsverbot auf unbestimmte Zeit bewirken. Die Erwähnung des § 54 Ausländergesetz in § 1 Abs. 3 BKGG wäre dann ohne Sinn. Folge man dieser Auffassung, könne nicht an die jeweilige Befristung der entsprechenden Erlasse angeknüpft werden. Vielmehr müsse eine selbständige Prognoseentscheidung getroffen werden. Danach sei aufgrund der Zustände in Afghanistan von vorneherein zu erwarten gewesen, daß es auch weiterhin zu einer Verlängerung des Abschiebestopps für Afghanen kommen werde, wie dies dann auch tatsächlich geschehen sei. Im übrigen sei bereits zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht klar gewesen, daß es für Afghanen zu einer sogenannten "Altfallregelung” kommen werde, aufgrund derer dem Kläger ein dauerhaftes Bleiberecht zugesprochen werden würde, wie dies dann auch tatsächlich durch den Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten vom 28. Juni 1993 geschehen sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 24. Juni 1993 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Juli 1992 und des Widerspruchsbescheides vom 14. Oktober 1992 zu verurteilen, ihm für seine Kinder Sa., S. M. und N. in der Zeit von Juni 1992 bis einschließlich Juni 1993 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Die Beklagte hält die sozialgerichtliche Entscheidung für zutreffend. Sie führt aus, dem Kläger sei ab Juli 1993 nach Erteilung der Aufenthaltsbefugnis für seine Kinder Kindergeld bewilligt worden. Für die Zeit davor habe jedoch ein Anspruch nicht bestanden. Dies ergebe sich insbesondere auch aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Hinweis auf Urteil vom 15. Dezember 1992 – 10 RKg 11/92 = SozR 3 5870 § 1 Nr. 2). Eine Prognose, daß der Kläger für die voraussehbare Zukunft im Bundesgebiet würde bleiben können, habe für die Zeit ab Juni 1992 nicht gestellt werden können. Insoweit sei entscheidend, daß die Abschiebung afghanischer Staatsangehöriger aufgrund der Erlasse des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten nur für jeweils sechs Monate ausgesetzt worden und es ungewiß gewesen sei, ob für einen weiteren Zeitraum von der Abschiebung abgesehen werden würde.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird im übrigen auf den gesamten weiteren Inhalt der Gerichtsakte, die beigezogene Ausländerakte des Klägers beim Landrat des Lahn-Dill-Kreises (Az.: x/xxxxx) und die weiterhin beigezogene Leistungsakte der Beklagten (KG-Nr.: yyy/yyy) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Abs. 1 SGG liegen nicht vor.
Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Dem Kläger steht für seine Kinder Sa., S., M. und N. im streitbefangenen Zeitraum Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu. Die entgegenstehenden Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und waren deshalb aufzuheben.
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKGG hat Anspruch auf Kindergeld für seine Kinder, wer im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger im streitbefangenen Zeitraum vor.
Daß der Kläger während dieser Zeit noch über keine Aufenthaltsgenehmigung verfügte, sein Aufenthalt als Asylbewerber vielmehr lediglich geduldet war, steht dieser Annahme nicht entgegen.
Nach der auch für das Kindergeldrecht geltenden Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Sozialgesetzbuch I (SGB I) hat jemand seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen läßt, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.
Zwar haben nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 31. Januar 1980 – 8 b RKg 4/79 = SozR 5870 § 1 Nr. 6) Asylbewerber während der Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, in dem über ihre Asylberechtigung gestritten wird, im Regelfall keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes. Denn Asylbewerber können im Normalfall nicht von vorneherein damit rechnen, daß die von ihnen angestrebte Asylberechtigung anerkannt wird und deshalb zu einem dauerhaften Aufenthalt i.S.v. § 30 Abs. 3 SGB I führt.
Ist allerdings nach den maßgeblichen Regelungen des Ausländerrechts und der Handhabung der einschlägigen Ermessensvorschriften durch die zuständigen Behörden davon auszugehen, daß der ausländische Staatsangehörige für die voraussehbare Zukunft unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer im Bundesgebiet bleiben kann, dann kann auch bei einem Asylantragsteller ein gewöhnlicher Aufenthalt i.S.v. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I angenommen werden (BSG, Urteil vom 23. Februar 1988 – 10 RKg 17/87 = SozR 5870 § 1 Nr. 14), umgekehrt kann von einem nur vorübergehenden Aufenthalt, der nicht zur Wohnsitzbegründung bzw. zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts führt, ausgegangen werden, wenn mit einem baldigen, jedenfalls zeitlich absehbaren Aufenthaltswechsel gerechnet werden muß. Beides läßt sich nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise anhand der erkennbaren Umstände des Einzelfalles entscheiden (BSG, a.a.O.; Urteil vom 17. Mai 1989 – 10 RKg 19/88 = SozR 1200 § 30 Nr. 17; Urteil vom 15. Dezember 1992 – 10 RKg 12/92 m.w.N.).
Vorliegend war bereits ab Beginn des streitbefangenen Zeitraums für die voraussehbare Zukunft davon auszugehen, daß der Kläger – unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens – in der Bundesrepublik Deutschland würde bleiben können. Denn der Kläger gehörte demjenigen Personenkreis an, der als afghanischer Staatsangehöriger von den Erlassen des Hessischen Ministeriums des Inneren und für Europaangelegenheiten vom 30. Dezember 1991, 20. Januar 1992, 1. Juli 1992 und vom 28. Dezember 1992 erfaßt war. Seine Abschiebung war nach diesen Erlassen unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens in einer Weise ausgeschlossen, die einen zeitlich absehbaren Aufenthaltswechsel nicht erwarten ließen. In Bezug auf den Kläger wird dies bestätigt durch die im Verwaltungsverfahren und im gerichtlichen Verfahren eingeholten Auskünfte der Ausländerbehörde des Landkreises des Lahn-Dill-Kreises vom 16. Januar 1992 und vom 25. März 1993, aus denen hervorgeht, daß auch individuell gegenüber ihm nicht nur bis zum 30. Juni 1993 entsprechend der getroffenen Erlaßregelung keine Abschiebemaßnahmen ergriffen werden, sondern in denen unabhängig davon zum Ausdruck gebracht wird, daß Abschiebemaßnahmen bis zum rechtskräftigen Abschluß des Asylverfahrens unterbleiben werden. Selbst bei einem für den Kläger negativen Ausgang des Asylverfahrens, dessen Abschluß angesichts der gerichtsbekannten Geschäftslage der Hessischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ohnehin nicht vorhersehbar war, brauchte der Kläger damit spätestens seit Beginn des streitbefangenen Zeitraums nicht mehr damit zu rechnen, die Bundesrepublik Deutschland in absehbarer Zeit verlassen zu müssen.
Daß die ergangenen Erlasse jeweils zeitlich befristet waren, steht dieser Annahme nicht entgegen. Denn diese Erlasse beruhen ersichtlich auf dem in Afghanistan tobenden Bürgerkrieg, dessen Ende nicht absehbar war, so daß mit einer – später tatsächlich eingetretenen – Verlängerung des Abschiebestopps von Anfang an zu rechnen war.
§ 1 Abs. 3 BKGG i.d.F. des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354) steht dem Anspruch des Klägers auf Kindergeld nicht entgegen.
Nach dieser Bestimmung haben Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten, einen Anspruch nach diesem Gesetz nur, wenn sie nach den §§ 51, 53 oder 54 des Ausländergesetzes auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr.
Der Aufenthalt des Klägers war zu Beginn des streitbefangenen Zeitraums bereits länger als ein Jahr nach §§ 20 ff. Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der bis zum 30. Juni 1992 maßgeblichen Fassung bzw. nach §§ 55 ff. AsylVfG i.d.F.v. 26. Juni 1992 (BGBl. I, S. 1126) geduldet. Die Abschiebung des Klägers war auch i.S.v. § 1 Abs. 3 BKGG auf "unbestimmte Zeit” ausgeschlossen.
Dies ergibt sich unmittelbar aus den bereits genannten Erlassen des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten.
Zwar sehen diese Erlasse, in denen jeweils auf § 54 Ausländergesetz (AuslG) Bezug genommen wird, lediglich Abschiebeverbote für einen Zeitraum von Jeweils sechs Monaten vor. Die genannten Erlasse entsprechen damit dem Regelfall des durch § 54 Satz 1 AuslG ermöglichten generellen Abschiebestopps. Dennoch steht die darin enthaltene Befristung der Annahme nicht entgegen, daß die Abschiebung des Klägers nach § 54 AuslG auf "unbestimmte Zeit” ausgeschlossen gewesen wäre.
Ob ein "unbefristeter” Abschiebestopp nach Herstellung des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern gem. § 54 Satz 2 AuslG überhaupt durch die zuständige oberste Landesbehörde angeordnet werden kann, oder ob auch Satz 2 grundsätzlich – wie Satz 1 – auf eine Befristung angelegt ist, kann nach Auffassung des Senats dahinstehen. Denn ein "unbestimmter” Abschiebestopp i.S.v. § 1 Abs. 3 BKGG liegt nicht erst dann vor, falls von § 54 AuslG in einer Weise Gebrauch gemacht worden wäre, bei der gänzlich von einer Befristung abgesehen worden wäre. Vielmehr ist auch eine Befristung, die – wie hier – die Möglichkeit offen läßt, daß sich angesichts der politischen Verhältnisse in einem in Betracht zu ziehenden Land gleichlautende Abschiebestopps an die erstmalige Regelung anschließen können, nicht von vorneherein in dem Sinne einer "bestimmten” Zeit zuzuordnen.
Im Falle von Afghanistan mußte nicht damit gerechnet werden, daß beim Auslaufen des ursprünglich verfügten Abschiebestopps jedenfalls nunmehr eine Abschiebung für den Fall einer rechtskräftigen Ablehnung eines gestellten Asylantrages in Betracht gezogen werden mußte. Daß diese Annahme zutrifft, ergibt sich im übrigen auch daraus, daß die genannten Erlasse des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten zwar davon sprechen, daß "längstens” bis zum Ablauf der jeweils sechs Monate der verfügte Abschiebestopp gelten sollte, daß aber ausdrücklich keine Regelung darüber getroffen wurde, daß nach Ablauf dieser sechs Monate erneut eine Abschiebung nach Afghanistan durchgesetzt werden sollte.
So war es durchaus folgerichtig, daß durch das Hessische Ministerium des Innern und für Europaangelegenheiten mit dem Erlaß vom 28. Juni 1993 für den Personenkreis des Klägers eine Regelung dahingehend getroffen wurde, wonach bei Nichtweiterverfolgung des Asylantrags eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen war, so daß für diesen Personenkreis eine Weiterführung der Regelung über den Abschiebestopp über den 30. Juni 1993 hinaus insoweit entbehrlich wurde.
Schon zu Beginn des streitbefangenen Zeitraums konnte danach im Falle des Klägers davon ausgegangen werden, daß dieser auf nicht absehbare Zeit in der Bundesrepublik Deutschland würde bleiben können.
Diese Auslegung von § 1 Abs. 3 BKGG steht auch in Übereinstimmung mit dem im Gesetzgebungsverfahren zur Änderung dieser Regelung zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers, der mit der Neufassung von § 1 Abs. 3 BKGG lediglich eine "redaktionelle Anpassung” an das neue Ausländergesetz vornehmen wollte (BRDr. 11/90, S. 92). Die vorhergehende Fassung des § 1 Abs. 3 BKGG (Fassung vom 30. Juni 1989 – BGBl. I, S. 1294) sollte aber nach dem Willen des Gesetzgebers (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit vom 14. Juni 1989, BTDr. 11/4765, S. 7) lediglich der "Klarstellung” dienen und führte damit letztlich zur Übernahme der "Prognoserechtsprechung” des Bundessozialgerichts zum gewöhnlichen Aufenthalt (BSG, a.a.O.), die auch der Entscheidung des erkennenden Senats zugrunde liegt.
Dem Kläger steht nach alledem für seine Kinder im gesamten streitbefangenen Zeitraum Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu. Auf seine Berufung war deshalb das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Beklagte antragsgemäß zur Gewährung des beanspruchten Kindergeldes zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision hat der Senat zugelassen, da er dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beimißt (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Kindergeld in der Zeit von Juni 1992 bis Juni 1993 streitig.
Der 1963 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er hat vier Töchter, nämlich Sa. (geb.1987), S. (geb. 1988), M. (geb. 1992) und N. (geb. 1993).
Der Kläger reiste am 7. November 1989 aus Afghanistan in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Einreise seiner Ehefrau sowie der Kinder Sa. und S. erfolgte am 26. Dezember 1990. Die Kinder M. und N. sind in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Während des streitbefangenen Zeitraums stand der Kläger ohne Unterbrechungen in einem Versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis.
Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland stellte der Kläger einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte diesen Antrag ab. Die hiergegen erhobene Klage wurde vom Kläger mit Schriftsatz vom 9. Juli 1993 zurückgenommen, nachdem ihm zuvor auf der Grundlage des Erlasses des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten vom 28. Juni 1993 (Altfallregelung für Asylbewerberinnen und Asylbewerber u.a. aus Afghanistan = StAnz 29/1993, S. 1774) die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis in Aussicht gestellt worden war. Diese Aufenthaltsbefugnis wurde dem Kläger am 12. Juli 1993 vom Landrat des Lahn-Dill-Kreises erteilt.
Am 16. Juli 1992 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Kindergeld. Er berief sich dabei auf die vom Hessischen Ministerium des Innern und für Europaangelegenheiten ergangenen Erlasse über die Aussetzung der Abschiebung von afghanischen Staatsangehörigen vom 30. Dezember 1991 bzw. 20. Januar 1992 (StAnz 5/1992, S. 322) sowie vom 1. Juli 1992 und vom 28. Dezember 1992, die auf der Grundlage des § 54 Abs. 2 Ausländergesetz (AuslG) beginnend mit dem 1. Januar 1992 sukzessive einen jeweils auf sechs Monate befristeten Abschiebungsstopp für afghanische Staatsangehörige vorsahen.
Durch Bescheid vom 31. Juli 1992 wurde dieser Antrag mit der Begründung abgelehnt, der Kläger gehöre nicht zu dem Personenkreis, bei dem unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abgesehen werde. Der Kläger habe deshalb weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet, so daß er einen Anspruch auf Kindergeld nicht geltend machen könne.
Der Kläger legte dagegen Widerspruch ein. Im Widerspruchsverfahren bestätigte der Landrat des Lahn-Dill-Kreises mit Schreiben vom 16. September 1992, daß der weitere Aufenthalt des Klägers aufgrund der bestehenden Erlaßlage auch im Falle einer rechtskräftigen Ablehnung seines Asylantrages bis zum 31. Dezember 1992 geduldet werde.
Durch Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1992 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Im Widerspruchsbescheid wurde ausgeführt, die vom Landrat des Lahn-Dill-Kreises erteilte Auskunft könne einen Anspruch auf Kindergeld nicht begründen. Denn nach § 1 Abs. 3 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) bestehe ein Anspruch für Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhielten, nur dann, wenn ihre Abschiebung auf unbestimmte Zeit unzulässig sei oder wenn sie aufgrund landesrechtlicher Vorschriften auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden dürften. Dies sei beim Kläger nicht der Fall. Nach der derzeitigen Erlaßlage bestehe für den Kläger vielmehr lediglich ein Abschiebeschutz bis zum 31. Dezember 1992.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Gießen durch Urteil vom 24. Juni 1993 abgewiesen. Das Sozialgericht hat die Auffassung vertreten, die durch das 12. Gesetz zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes vom 30. Juni 1989 eingeführte Regelung des § 1 Abs. 3 BKGG stelle eine Festschreibung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Hinweis u.a. auf Urteil vom 23. Februar 1988 – 10 RKg 20/86) dar. Danach werde eine Prognose des Inhalts verlangt, daß aufgrund der ausländerrechtlichen Vorschriften damit gerechnet werden müsse, daß der Asylbewerber auch nach endgültiger Ablehnung des Asylantrages auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland bleiben dürfe. Vorliegend greife § 54 Ausländergesetz ein, wonach die oberste Landesbehörde unter bestimmten Bedingungen anordnen könne, daß die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten für die Dauer von längstens sechs Monaten ausgesetzt werde. Eine entsprechende Anordnung sei für afghanische Staatsangehörige durch Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten am 30. Dezember 1991 getroffen worden. Diese Regelung sei bis zum 30. Juni 1993 verlängert worden. Die Ausländerbehörde habe auf Anfrage des Gerichts am 25. März 1993 jedoch lediglich mitgeteilt, ob dieser Erlaß über den 30. Juni 1993 hinaus verlängert werde, sei nicht abzusehen. Damit stehe fest, daß eine Aussetzung der Abschiebung auf unbestimmte Zeit nicht anzunehmen sei, denn zu der Wahrscheinlichkeit einer Abschiebung im Falle der Ablehnung des Asylantrages habe sich die Ausländerbehörde gerade nicht geäußert. Da ferner ungewiß sei, ob der Erlaß erneut verlängert werde, könne auch nicht von einem dauerhaften Abschiebestopp ausgegangen werden, der eine entsprechende Prognose begründen könnte. Eine zweimalige Verlängerung des Abschiebestopps von jeweils einem halben Jahr reiche für die Annahme des Ausschlusses der Abschiebung auf unbestimmte Zeit i.S.v. § 1 Abs. 3 BKGG noch nicht aus. Entgegen der Ansicht des Klägers könne die zu treffende Prognose nicht allein darauf gestützt werden, daß in dem Herkunftsland Gefahr für Leib und Leben bestehe und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Zwar sei dies allgemein bekannt. Die Prognose müsse sich indes, wie aus dem eindeutigen Wortlaut des § 1 Abs. 3 BKGG zu entnehmen sei, aus den Feststellungen der im Rahmen des Ausländerrechts zuständigen Behörde ergeben.
Gegen das dem Kläger am 10. August 1993 zugestellte Urteil richtet sich die am 9. September 1993 eingegangene Berufung. Der Kläger trägt vor, die nach § 54 Ausländergesetz mögliche Aussetzung könne schon nach dem Gesetz nicht für einen längeren Zeitraum als sechs Monate erfolgen. § 1 Abs. 3 BKGG, der § 54 Ausländergesetz ausdrücklich erwähne, wäre aber nicht verständlich, wollte man die erforderliche Prognose auf den Halbjahreshorizont der Erlaßgeltung beschränken. Dann könnte § 54 Ausländergesetz in keinem Fall ein Abschiebungsverbot auf unbestimmte Zeit bewirken. Die Erwähnung des § 54 Ausländergesetz in § 1 Abs. 3 BKGG wäre dann ohne Sinn. Folge man dieser Auffassung, könne nicht an die jeweilige Befristung der entsprechenden Erlasse angeknüpft werden. Vielmehr müsse eine selbständige Prognoseentscheidung getroffen werden. Danach sei aufgrund der Zustände in Afghanistan von vorneherein zu erwarten gewesen, daß es auch weiterhin zu einer Verlängerung des Abschiebestopps für Afghanen kommen werde, wie dies dann auch tatsächlich geschehen sei. Im übrigen sei bereits zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht klar gewesen, daß es für Afghanen zu einer sogenannten "Altfallregelung” kommen werde, aufgrund derer dem Kläger ein dauerhaftes Bleiberecht zugesprochen werden würde, wie dies dann auch tatsächlich durch den Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten vom 28. Juni 1993 geschehen sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 24. Juni 1993 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Juli 1992 und des Widerspruchsbescheides vom 14. Oktober 1992 zu verurteilen, ihm für seine Kinder Sa., S. M. und N. in der Zeit von Juni 1992 bis einschließlich Juni 1993 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Die Beklagte hält die sozialgerichtliche Entscheidung für zutreffend. Sie führt aus, dem Kläger sei ab Juli 1993 nach Erteilung der Aufenthaltsbefugnis für seine Kinder Kindergeld bewilligt worden. Für die Zeit davor habe jedoch ein Anspruch nicht bestanden. Dies ergebe sich insbesondere auch aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Hinweis auf Urteil vom 15. Dezember 1992 – 10 RKg 11/92 = SozR 3 5870 § 1 Nr. 2). Eine Prognose, daß der Kläger für die voraussehbare Zukunft im Bundesgebiet würde bleiben können, habe für die Zeit ab Juni 1992 nicht gestellt werden können. Insoweit sei entscheidend, daß die Abschiebung afghanischer Staatsangehöriger aufgrund der Erlasse des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten nur für jeweils sechs Monate ausgesetzt worden und es ungewiß gewesen sei, ob für einen weiteren Zeitraum von der Abschiebung abgesehen werden würde.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird im übrigen auf den gesamten weiteren Inhalt der Gerichtsakte, die beigezogene Ausländerakte des Klägers beim Landrat des Lahn-Dill-Kreises (Az.: x/xxxxx) und die weiterhin beigezogene Leistungsakte der Beklagten (KG-Nr.: yyy/yyy) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Abs. 1 SGG liegen nicht vor.
Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Dem Kläger steht für seine Kinder Sa., S., M. und N. im streitbefangenen Zeitraum Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu. Die entgegenstehenden Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und waren deshalb aufzuheben.
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKGG hat Anspruch auf Kindergeld für seine Kinder, wer im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger im streitbefangenen Zeitraum vor.
Daß der Kläger während dieser Zeit noch über keine Aufenthaltsgenehmigung verfügte, sein Aufenthalt als Asylbewerber vielmehr lediglich geduldet war, steht dieser Annahme nicht entgegen.
Nach der auch für das Kindergeldrecht geltenden Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Sozialgesetzbuch I (SGB I) hat jemand seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen läßt, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.
Zwar haben nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 31. Januar 1980 – 8 b RKg 4/79 = SozR 5870 § 1 Nr. 6) Asylbewerber während der Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, in dem über ihre Asylberechtigung gestritten wird, im Regelfall keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes. Denn Asylbewerber können im Normalfall nicht von vorneherein damit rechnen, daß die von ihnen angestrebte Asylberechtigung anerkannt wird und deshalb zu einem dauerhaften Aufenthalt i.S.v. § 30 Abs. 3 SGB I führt.
Ist allerdings nach den maßgeblichen Regelungen des Ausländerrechts und der Handhabung der einschlägigen Ermessensvorschriften durch die zuständigen Behörden davon auszugehen, daß der ausländische Staatsangehörige für die voraussehbare Zukunft unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer im Bundesgebiet bleiben kann, dann kann auch bei einem Asylantragsteller ein gewöhnlicher Aufenthalt i.S.v. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I angenommen werden (BSG, Urteil vom 23. Februar 1988 – 10 RKg 17/87 = SozR 5870 § 1 Nr. 14), umgekehrt kann von einem nur vorübergehenden Aufenthalt, der nicht zur Wohnsitzbegründung bzw. zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts führt, ausgegangen werden, wenn mit einem baldigen, jedenfalls zeitlich absehbaren Aufenthaltswechsel gerechnet werden muß. Beides läßt sich nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise anhand der erkennbaren Umstände des Einzelfalles entscheiden (BSG, a.a.O.; Urteil vom 17. Mai 1989 – 10 RKg 19/88 = SozR 1200 § 30 Nr. 17; Urteil vom 15. Dezember 1992 – 10 RKg 12/92 m.w.N.).
Vorliegend war bereits ab Beginn des streitbefangenen Zeitraums für die voraussehbare Zukunft davon auszugehen, daß der Kläger – unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens – in der Bundesrepublik Deutschland würde bleiben können. Denn der Kläger gehörte demjenigen Personenkreis an, der als afghanischer Staatsangehöriger von den Erlassen des Hessischen Ministeriums des Inneren und für Europaangelegenheiten vom 30. Dezember 1991, 20. Januar 1992, 1. Juli 1992 und vom 28. Dezember 1992 erfaßt war. Seine Abschiebung war nach diesen Erlassen unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens in einer Weise ausgeschlossen, die einen zeitlich absehbaren Aufenthaltswechsel nicht erwarten ließen. In Bezug auf den Kläger wird dies bestätigt durch die im Verwaltungsverfahren und im gerichtlichen Verfahren eingeholten Auskünfte der Ausländerbehörde des Landkreises des Lahn-Dill-Kreises vom 16. Januar 1992 und vom 25. März 1993, aus denen hervorgeht, daß auch individuell gegenüber ihm nicht nur bis zum 30. Juni 1993 entsprechend der getroffenen Erlaßregelung keine Abschiebemaßnahmen ergriffen werden, sondern in denen unabhängig davon zum Ausdruck gebracht wird, daß Abschiebemaßnahmen bis zum rechtskräftigen Abschluß des Asylverfahrens unterbleiben werden. Selbst bei einem für den Kläger negativen Ausgang des Asylverfahrens, dessen Abschluß angesichts der gerichtsbekannten Geschäftslage der Hessischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ohnehin nicht vorhersehbar war, brauchte der Kläger damit spätestens seit Beginn des streitbefangenen Zeitraums nicht mehr damit zu rechnen, die Bundesrepublik Deutschland in absehbarer Zeit verlassen zu müssen.
Daß die ergangenen Erlasse jeweils zeitlich befristet waren, steht dieser Annahme nicht entgegen. Denn diese Erlasse beruhen ersichtlich auf dem in Afghanistan tobenden Bürgerkrieg, dessen Ende nicht absehbar war, so daß mit einer – später tatsächlich eingetretenen – Verlängerung des Abschiebestopps von Anfang an zu rechnen war.
§ 1 Abs. 3 BKGG i.d.F. des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354) steht dem Anspruch des Klägers auf Kindergeld nicht entgegen.
Nach dieser Bestimmung haben Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten, einen Anspruch nach diesem Gesetz nur, wenn sie nach den §§ 51, 53 oder 54 des Ausländergesetzes auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr.
Der Aufenthalt des Klägers war zu Beginn des streitbefangenen Zeitraums bereits länger als ein Jahr nach §§ 20 ff. Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der bis zum 30. Juni 1992 maßgeblichen Fassung bzw. nach §§ 55 ff. AsylVfG i.d.F.v. 26. Juni 1992 (BGBl. I, S. 1126) geduldet. Die Abschiebung des Klägers war auch i.S.v. § 1 Abs. 3 BKGG auf "unbestimmte Zeit” ausgeschlossen.
Dies ergibt sich unmittelbar aus den bereits genannten Erlassen des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten.
Zwar sehen diese Erlasse, in denen jeweils auf § 54 Ausländergesetz (AuslG) Bezug genommen wird, lediglich Abschiebeverbote für einen Zeitraum von Jeweils sechs Monaten vor. Die genannten Erlasse entsprechen damit dem Regelfall des durch § 54 Satz 1 AuslG ermöglichten generellen Abschiebestopps. Dennoch steht die darin enthaltene Befristung der Annahme nicht entgegen, daß die Abschiebung des Klägers nach § 54 AuslG auf "unbestimmte Zeit” ausgeschlossen gewesen wäre.
Ob ein "unbefristeter” Abschiebestopp nach Herstellung des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern gem. § 54 Satz 2 AuslG überhaupt durch die zuständige oberste Landesbehörde angeordnet werden kann, oder ob auch Satz 2 grundsätzlich – wie Satz 1 – auf eine Befristung angelegt ist, kann nach Auffassung des Senats dahinstehen. Denn ein "unbestimmter” Abschiebestopp i.S.v. § 1 Abs. 3 BKGG liegt nicht erst dann vor, falls von § 54 AuslG in einer Weise Gebrauch gemacht worden wäre, bei der gänzlich von einer Befristung abgesehen worden wäre. Vielmehr ist auch eine Befristung, die – wie hier – die Möglichkeit offen läßt, daß sich angesichts der politischen Verhältnisse in einem in Betracht zu ziehenden Land gleichlautende Abschiebestopps an die erstmalige Regelung anschließen können, nicht von vorneherein in dem Sinne einer "bestimmten” Zeit zuzuordnen.
Im Falle von Afghanistan mußte nicht damit gerechnet werden, daß beim Auslaufen des ursprünglich verfügten Abschiebestopps jedenfalls nunmehr eine Abschiebung für den Fall einer rechtskräftigen Ablehnung eines gestellten Asylantrages in Betracht gezogen werden mußte. Daß diese Annahme zutrifft, ergibt sich im übrigen auch daraus, daß die genannten Erlasse des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten zwar davon sprechen, daß "längstens” bis zum Ablauf der jeweils sechs Monate der verfügte Abschiebestopp gelten sollte, daß aber ausdrücklich keine Regelung darüber getroffen wurde, daß nach Ablauf dieser sechs Monate erneut eine Abschiebung nach Afghanistan durchgesetzt werden sollte.
So war es durchaus folgerichtig, daß durch das Hessische Ministerium des Innern und für Europaangelegenheiten mit dem Erlaß vom 28. Juni 1993 für den Personenkreis des Klägers eine Regelung dahingehend getroffen wurde, wonach bei Nichtweiterverfolgung des Asylantrags eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen war, so daß für diesen Personenkreis eine Weiterführung der Regelung über den Abschiebestopp über den 30. Juni 1993 hinaus insoweit entbehrlich wurde.
Schon zu Beginn des streitbefangenen Zeitraums konnte danach im Falle des Klägers davon ausgegangen werden, daß dieser auf nicht absehbare Zeit in der Bundesrepublik Deutschland würde bleiben können.
Diese Auslegung von § 1 Abs. 3 BKGG steht auch in Übereinstimmung mit dem im Gesetzgebungsverfahren zur Änderung dieser Regelung zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers, der mit der Neufassung von § 1 Abs. 3 BKGG lediglich eine "redaktionelle Anpassung” an das neue Ausländergesetz vornehmen wollte (BRDr. 11/90, S. 92). Die vorhergehende Fassung des § 1 Abs. 3 BKGG (Fassung vom 30. Juni 1989 – BGBl. I, S. 1294) sollte aber nach dem Willen des Gesetzgebers (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit vom 14. Juni 1989, BTDr. 11/4765, S. 7) lediglich der "Klarstellung” dienen und führte damit letztlich zur Übernahme der "Prognoserechtsprechung” des Bundessozialgerichts zum gewöhnlichen Aufenthalt (BSG, a.a.O.), die auch der Entscheidung des erkennenden Senats zugrunde liegt.
Dem Kläger steht nach alledem für seine Kinder im gesamten streitbefangenen Zeitraum Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu. Auf seine Berufung war deshalb das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Beklagte antragsgemäß zur Gewährung des beanspruchten Kindergeldes zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision hat der Senat zugelassen, da er dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beimißt (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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