L 6 Kg 423/93

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 22 Kg 776/92
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Kg 423/93
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Regelung in § 44 e BKGG, die eine rückwirkende Gewährung der Differenz zum ungeminderten Kindergeld davon abhängig macht, ob ein Verfahren hierüber bereits rechtsförmlich abgeschlossen oder noch anhängig ist, ist nicht verfassungswidrig (Anschluß an BFH Urteile vom 11. Februar 1994 – III R 50/92 und vom 9. September 1994 – III R 17/93).
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22. März 1993 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt ungekürztes Kindergeld in der Zeit von Januar 1983 bis Oktober 1983 und von Februar 1985 bis Mai 1985.

Der 1928 geborene Kläger stand bis 1993 in den Diensten des Landes Hessen, zuletzt – ab 1978 – als Leitender Oberstaatsanwalt.

Im Jahre 1983 bestand für den Kläger ein Anspruch auf Kindergeld für seine Söhne M. (geb. 1959) und H. Ch. (geb. 1963). Für M. war dieser Anspruch während des gesamten Jahres 1983 gegeben, für H. Ch. bestand ein Anspruch bis einschließlich Oktober 1983. Im Jahre 1985 bestand ein Kindergeldanspruch für M. bis einschließlich Mai und für H. Ch. ab Februar für die Dauer des gesamten Jahres.

Zu Beginn des Jahres 1983 wurde dem Kläger vom beklagten Land ein Merkblatt für die " Bezieher von Kindergeld für ein zweites oder weiteres Kind” ausgehändigt. In diesem Merkblatt wurde die durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl. S. 1857) eingeführte einkommensabhängige Minderung des Kindergeldes gemäß § 10 Abs. 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) erläutert. Zugleich wurde dem Kläger ein Formblatt zur Überprüfung der einkommensabhängigen Minderung des Kindergeldes nach § 10 Abs. 2 BKGG ausgehändigt. Dieses Formblatt reichte der Kläger am 25. Februar 1983 nach Unterzeichnung der darin enthaltenen vorgedruckten Erklärung, wonach er von einer Angabe der Einkommensverhältnisse absehen und nur die Kindergeldsockelbeträge beanspruchen wolle, an das beklagte Land zurück. Durch Bescheid vom 8. März 1983 wurde der Kläger daraufhin darüber unterrichtet, ihm werde ab 1. Januar 1983 nur noch der jeweils zustehende Kindergeldsockelbetrag ausgezahlt.

Entsprechend diesem – bindend gewordenen – Bescheid wurde dem Kläger im streitbefangenen Zeitraum für H. Ch. Kindergeld nur noch in der auf den Sockelbetrag geminderten Höhe von monatlich 70,– DM gewährt; für M. erfolgte eine Zahlung in Höhe von monatlich 50,– DM.

Durch den sog. "Kindergeldbeschluß” vom 29. Mai 1990 (1 BvL 20/84, 26/84, 4/86 = SozR 3 – 5870 § 10 Nr. 1) wurde vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die auf § 10 Abs. 2 BKGG i.d.F. vom 20. Dezember 1982 beruhende Kindergeldminderung für die Zeit bis zum 31. Dezember 1985 als mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) unvereinbar erklärt. Mit Wirkung vom 28. Juni 1991 wurde daraufhin durch das Steueränderungsgesetz 1991 (StÄndG 1991) vom 24. Juni 1991 (BGBl. I S. 1322) § 44 e BKGG in das Bundeskindergeldgesetz eingefügt. Durch das StÄndG 1992 vom 25. Februar 1992 (BGBl. I S. 297) wurde § 44 e BKGG geändert und ergänzt.

Auf die durch das StÄndG 1991 erfolgte Einfügung des § 44 e BKGG wies das beklagte Land den Kläger durch Rundverfügung des Präsidenten des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 27. August 1991 (620 – II/3 – 3109/91) hin.

Mit Schreiben vom 10. September 1991 beantragte der Kläger daraufhin die Zahlung von ungemindertem Kindergeld für seinen Sohn H. Ch. Durch Bescheid vom 13. Dezember 1991 wurde dieser Antrag abgelehnt. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 1992 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde vom beklagten Land ausgeführt, eine Nachzahlung des ungeminderten Kindergeldes für die Jahre 1983 bis 1985 könne nur erfolgen, wenn die Kindergeldbescheide dieser Jahre noch offen seien. Dies sei jedoch beim Kläger nicht der Fall, so daß eine Anwendung der Regelung des § 44 e BKGG bei ihm nicht in Betracht komme. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei dabei ausgeschlossen. Auch verfassungsrechtlich sei eine weitergehende rückwirkende Gewährung des ungeminderten Kindergeldes nicht geboten. Insbesondere habe es weder eines Vorbehaltes in dem ergangenen Minderungsbescheid bedurft, noch habe das beklagte Land seine Fürsorgepflicht gegenüber dem Kläger verletzt. Die Nichtanfechtung von Bescheiden sei dem persönlichen Entscheidungsbereich eines jeden Einzelnen zuzuordnen. Die Unterscheidung gegenüber denjenigen Betroffenen, die bei gleicher Ausgangslage seinerzeit den Verwaltungsrechtsweg beschritten hätten, sei rechtmäßig.

Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Frankfurt am Main durch Urteil vom 22. März 1993 abgewiesen. Das Sozialgericht hat die Auffassung vertreten, die Regelung des § 44 e BKGG, nach der dem Kläger für die Jahre 1983 und 1985 kein höheres Kindergeld zustehe, verstoße nicht gegen höherrangiges Recht. Insbesondere der Gleichheitssatz des Art. 3 Grundgesetz (GG) sei nicht verletzt; es sei grundsätzlich nicht als sachfremd anzusehen, daß die Regelung des § 44 e BKGG danach unterscheide, ob ein Leistungsberechtigter gegen eine Entscheidung Rechtsmittel eingelegt habe, oder ob dies nicht der Fall gewesen sei. Auch der Umstand, daß einzelne Leistungsbezieher gegen Entscheidungen der Verwaltung rechtlich vorgegangen seien, führe noch nicht zur Verpflichtung der Verwaltung, Bescheide in gleichgelagerten Fällen vorläufig zu erteilen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, um dem Kläger die Möglichkeit zu geben, gegen den Bescheid vom 8. März 1983 nachträglich noch Widerspruch einzulegen, komme ebenfalls nicht in Betracht. Der Kläger sei nicht ohne Verschulden nach § 67 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gehindert gewesen, die gesetzliche Verfahrensvorschrift einzuhalten. Für Ansprüche aus der vom Kläger behaupteten Fürsorge- bzw. Amtspflichtverletzung sei der Rechtsweg zu den Sozialgerichten nicht gegeben.

Gegen das dem Kläger am 25. März 1993 zugestellte Urteil richtet sich die am 20. April 1993 eingegangene Berufung. Der Kläger hält die Regelung des § 44 e BKGG für verfassungswidrig. Er trägt dazu vor, durch diese Regelung sei eine Ungleichbehandlung der Kindergeldempfänger eingetreten. Das Bundesverfassungsgericht sei erkennbar davon ausgegangen, daß durch die Aufhebung der Vorschrift – gemeint ist offenbar § 10 Abs. 2 BKGG – alle Kindergeldempfänger gleichbehandelt werden sollten. Andernfalls hätte es ausgereicht, wenn dem Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht aufgegeben worden wäre, neue Vorschriften zu erlassen. Die Vorschrift des § 44 e BKGG enthalte im übrigen noch nicht einmal eine Sozialklausel, die die rückwirkende Aufhebung der Kindergeldminderung an bestimmte Einkommensgrenzen oder an die Zahl der Kinder binde. Dem Gesetzgeber sei es anscheinend nicht bekannt gewesen, daß es Familien gebe, denen nur ein Arbeitseinkommen zur Verfügung stehe, und die für ihre Kinder eine lange Berufsausbildung bezahlen müßten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22. März 1993 aufzuheben und das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Dezember 1991 und des Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 1992 zu verurteilen, ihm für die Zeit von Januar 1983 bis Oktober 1983 und von Februar 1985 bis Mai 1985 für seinen Sohn H. Ch. unter Anrechnung des bereits gezahlten Kindergeldes ungemindertes Kindergeld zu gewähren.

Das beklagte Land beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Das beklagte Land hält die in § 44 e BKGG getroffene Regelung für verfassungsgemäß.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vortrags der Beteiligten wird im übrigen auf den gesamten weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogene Besoldungsakte des Klägers (xxxxx) Bezug genommen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§ 151 SGG) ist zulässig. Einer ausdrücklichen Zulassung der Berufung nach § 144 SGG bedurfte es nicht, da die Berufung wiederkehrende Leistungen von mehr als einem Jahr betrifft.

Die Berufung ist jedoch unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf das ungeminderte Kindergeld für seinen Sohn H. Ch ...

Die Voraussetzungen des § 44 e BKGG, die allein einen solchen Anspruch begründen könnten, sind beim Kläger nicht erfüllt. Über die Kindergeldminderung ist bereits vor Verkündung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 (a.a.O.) bindend entschieden worden (§ 44 e Abs. 1 Satz 1 BKGG). Auch die Voraussetzungen des § 44 e Abs. 1 Satz 3 BKGG liegen nicht vor.

Unter diesen Voraussetzungen bedarf es keiner Feststellung darüber, ob dem Kläger aufgrund des StÄndG 1991 nachträglich noch ein höherer Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) zugestanden worden ist, der ein ungemindertes Kind für 1983 und 1985 für H. Ch. nach § 44 e Abs. 1 Satz 4 BKGG gleichfalls ausschließen würde.

Daß ein Anspruch auf ungemindertes Kindergeld nicht aus § 44 e BKGG abgeleitet werden kann, wird auch vom Kläger nicht in Abrede gestellt. Der Kläger hält jedoch § 44 e BKGG für verfassungswidrig.

Dieser Auffassung kann nicht beigetreten werden.

Der Gesetzgeber war nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 (a.a.O.) nur verpflichtet, in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen die eingetretene Benachteiligung durch die als verfassungswidrig angesehene Norm des § 10 Abs. 2 BKGG zu beheben. Unter Abschnitt C der Entscheidung vom 29. Mai 1990 hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf diese lediglich eingeschränkte Verpflichtung des Gesetzgebers hingewiesen.

Daß der Gesetzgeber diejenigen Kindergeldberechtigten, die gegen die ergangenen Kindergeldbescheide keine Rechtsmittel eingelegt haben, von der Nachzahlung ausgeschlossen hat, widerspricht insbesondere nicht dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG, auf den sich der Kläger insoweit beruft. Sozialleistungsansprüche hängen stets (auch) von ihrer Geltendmachung ab. Unter diesen Voraussetzungen erscheint es deshalb insbesondere nicht willkürlich, wenn ein Gesetzgeber nur denjenigen Adressatenkreis begünstigt, der sich um die Geltendmachung der umstrittenen Ansprüche bemüht hat. Weitergehende Rechte lassen sich auch nicht aus §§ 31, 79 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) ableiten. § 79 BVerfGG begrenzt – auch im Falle der Feststellung der Nichtigkeit einer Rechtsnorm – die Folgen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Danach gilt, daß, abgesehen von dem Sonderfall der Strafurteile, die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen der Verwaltung und der Gerichte vorbehaltlich einer speziellen gesetzlichen Regelung grundsätzlich unberührt bleiben (BVerfG, Beschluss vom 22. März 1990 – 2 BvL 1/86 = FamRZ 1990, S. 839 bis 843). Das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland wird von dem Grundsatz beherrscht, daß der Bürger in der Regel sein Recht nur innerhalb der dafür vorgesehenen Rechtsmittelfristen durchsetzen kann, auch wenn bei Versäumung dieser Fristen im Einzelfall Härten eintreten (BFH, Urteil vom 9. September 1994 – III R 17/93 = BB 1994, S. 2472). Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit im Einzelfall steht dabei im Widerstreit zu der rechtsstaatlichen Forderung nach Rechtssicherheit, wozu auch die Rechtsbeständigkeit bestandkräftiger Entscheidungen gehört. Wenn in diesem Widerstreit der Gesetzgeber dem Grundsatz des Rechtsfriedens auch in den Fällen der Verfassungswidrigkeit einer Norm den Vorrang vor der Gerechtigkeit in jedem Einzelfall gibt, so ist dies grundsätzlich nicht zu beanstanden (BFH, a.a.O.; Urteil vom 11. Februar 1994 – III R 50/92 = BB 1994, S. 710).

Etwas anderes läßt sich auch nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG ableiten.

Soweit sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über die Höhe des steuerfreien Grundbetrages vom 25. September 1992 (2 BvL 5, 8, 14/91 = NJW 1992, S. 3153) dazu äußert, im Falle einer rückwirkenden Neuregelung sei eine Unterscheidung zwischen rechtsförmlich abgeschlossenen und noch anhängigen Verfahren "jedenfalls für allgemeine, jedem Einkommensteuerfall zu Grunde liegende Tatbestände wie dem des Grundfreibetrages schwerlich sachgerecht”, kann daraus für die vorliegende Fallgestaltung ebenfalls kein Anspruch zugunsten des Klägers abgeleitet werden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. September 1992 (a.a.O.) enthält die Aufforderung an den Gesetzgeber, eine Neuregelung der in jenem Verfahren als verfassungswidrig erkannten Rechtsnorm (lediglich) für die Zukunft vorzunehmen, eine Verpflichtung zur Beseitigung der verfassungswidrigen Bemessung des steuerlichen Existenzminimums für die Vergangenheit wurde dagegen in diesem Verfahren nicht für geboten erachtet. Der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf eine sachgerechte Neuregelung betraf demzufolge lediglich mögliche Neuregelungen des Gesetzgebers, soweit diese auch in Bezug auf die Vergangenheit, also über die vom Bundesverfassungsgericht als geboten angesehene Neuregelung hinaus, wirken sollten. Nur bei dieser Fallgestaltung hielt das Bundesverfassungsgericht eine Unterscheidung zwischen "rechtsförmlich abgeschlossenen und noch anhängigen Verfahren” nicht für sachgerecht (BFH, Urteil vom 11. Februar 1994, a.a.O.). Der vorliegende Fall ist indes dadurch gekennzeichnet, daß vom Bundesverfassungsgericht auch für die Vergangenheit eine Neuregelung für erforderlich erachtet wurde. Dies rechtfertigt die Unterscheidung zwischen rechtsförmlich abgeschlossenen Verfahren und solchen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 noch in der Schwebe waren, so wie dies § 44 e BKGG vorsieht.

Auch der Weg über §§ 44 ff. Sozialgesetzbuch X (SGB X) hinsichtlich des bindend gewordenen Bescheides des beklagten Landes vom 8. März 1983 ist dem Kläger unter diesen Voraussetzungen verschlossen.

Die Berufung des Klägers war nach alledem zurückzuweisen.

Die Entscheidung hierüber konnte gemäß §§ 155 Abs. 4, 124 Abs. 2 SGG durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung getroffen werden, nachdem beide Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wurde gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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