L 6 Ar 821/92

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 1c Ar 253/91
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Ar 821/92
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine nach § 112 Abs. 2 AFG (in der bis 31. Dezember 1993 geltenden Fassung) zu berücksichtigende außergewöhnliche Steigerung des Arbeitsentgelts liegt bei Arbeitsplatzwechsel auch dann vor, wenn dieser von den neuen in die alten Bundesländer vorgenommen wird und jeweils bei gleicher beruflicher – vollschichtiger – Tätigkeit das ortsübliche Einkommen erzielt wird.
I. Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 9. Juli 1992 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Es geht in dem Rechtsstreit um die Höhe des ab 1. März 1991 gewährten Arbeitslosengeldes.

Die 1962 geborene Klägerin war von September 1983 bis 30. November 1990 als Pharmazieingenieur im pharmazeutischen Zentrum G. beschäftigt. Ausweislich der Arbeitgeberauskunft vom 25. März 1991 betrug ihr Monatsbruttolohn in den folgenden Monaten:

März 1990 = 1.665,– Mark
April 1990 = 1.565,– Mark
Mai 1990 = 1.565,– Mark
Juni 1990 = 1.515,– Mark
Juli 1990 = 1.400,– DM
August 1990 = 1.400,– DM
September 1990 = 1.690,– DM
Oktober 1990 = 1.630,– DM
November 1990 = 1.712,50 DM.

Vom 1. Dezember 1990 bis 28. Februar 1991 befand sich die Klägerin in einem Arbeitsverhältnis bei der K.-A. in B. H. als Apothekerassistentin und erzielte ein Monatsbruttoeinkommen vom DM 3.100,–.

Am 27. Februar 1991 beantragte die Klägerin bei der Beklagten (Arbeitsamt B. H.) die Gewährung von Arbeitslosengeld und meldete sich zum 1. März 1991 arbeitslos. Mit Bescheid vom 21. März 1991 bewilligte die Beklagte Arbeitslosengeld ab 1. März 1991 mit einem vorläufigen wöchentlichen Leistungssatz von DM 122,40 unter Berücksichtigung eines wöchentlichen Bemessungsentgeltes von DM 310,–, Mit Bescheid vom 15. April 1991 setzte die Beklagte die wöchentliche Leistung nunmehr endgültig fest auf DM 169,20 unter Berücksichtigung eines wöchentlichen Bemessungsentgeltes von DM 450,–.

Hiergegen hat die Klägerin am 3. Mai 1991 Widerspruch erhoben und zur Begründung u.a. vorgetragen, der Leistung müsse ein Bruttoarbeitsentgelt von DM 715,– zugrunde gelegt werden. Die Anwendung des § 112 Abs. 2 Satz 4 Arbeitsförderungsgesetz (AFG, außergewöhnliche Steigerung des Arbeitsentgelts) sei nicht möglich, da die Steigerung des Arbeitsentgeltes durch die Übersiedlung in die alten Bundesländer entstanden sei und sie dort weiterhin wohne. Das früher in den neuen Bundesländern erzielte Arbeitsentgelt sei nicht zu berücksichtigen, zumal die Lebenshaltungskosten in den alten Bundesländern erheblich höher seien und auch das früher erzielte Arbeitsentgelt in Ostmark erzielt worden sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 1991 hat die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, die Prüfung einer außergewöhnlichen Steigerung des Arbeitsentgeltes sei nach einer Erlaßweisung der Hauptstelle der Beklagten vom 12. November 1990 immer dann zu prüfen, wenn – wie hier – im gewöhnlichen Bemessungszeitraum (auch) Beschäftigungszeiten in den alten Bundesländern und vor dem Bemessungszeitraum (auch) Beschäftigungszeiten in den neuen Bundesländern zurückgelegt worden seien. Das in den letzten 3 Monaten von der Klägerin in Hessen erzielte Arbeitsentgelt übersteige das Arbeitsentgelt in den letzten 12 Monaten (davon 9 Monate in T.) um mehr als 1/3, so daß § 112 Abs. 2 Satz 4 AFG anzuwenden sei.

Hiergegen hat die Klägerin am 17. Juli 1991 Klage erhoben mit dem Ziel der Berücksichtigung eines monatlichen Bemessungsentgeltes von DM 3.100,– für das ab 1. März 1991 gezahlte Arbeitslosengeld.

Mit Urteil vom 9. Juli 1992 hat das Sozialgericht Fulda die angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit Arbeitslosengeld unter Berücksichtigung des für die Zeit vom 1. Dezember 1990 bis 28. Februar 1991 bezogenen Arbeitsentgeltes als Bemessungsentgelt zu zahlen.

Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen. In der Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 112 Abs. 2 Satz 4 lägen nicht vor. Das Arbeitsentgelt der Klägerin sei zwar durch den Wechsel von G. nach E. H. um nahezu die Hälfte gestiegen, darin liege jedoch schon deshalb keine außergewöhnliche Steigerung, weil die Einkommenserhöhung nicht auf der Anwendung eines höheren Tarifs oder ähnlichen Gründen beruhe, sondern auf dem Wechsel von T. nach H. und dem zwischen den beiden Ländern bestehenden Einkommensgefälle. Nach dem allgemeinen Wortgebrauch könne von einem außergewöhnlichen Anstieg des Arbeitsentgeltes bei einem Arbeitsplatzwechsel eigentlich nicht gesprochen werden. Die gesetzliche Bestimmung des § 112 Abs. 2 Satz 5 AFG mache deutlich, daß die Steigerung des Einkommens Folge einer betriebsunüblichen Anpassung sein solle; Erhöhungen, die mit Einkommensanpassungen nichts zu tun hätten, sondern auf anderen Faktoren beruhten, würden von § 112 Abs. 2 Satz 4 und 5 AFG nicht erfaßt. Hiermit hätten Manipulationen vor einer zu erwartenden Arbeitslosigkeit ausgeschlossen werden sollen. Dies treffe hier jedoch nicht zu. So habe die Klägerin sowohl in G. als auch in B. H. ein Einkommen erzielt, das am Beschäftigungsort der Bezahlung für ihre berufliche Qualifikation entsprochen habe. Der Gehaltsanstieg habe sich aus dem unterschiedlichen Gehaltsniveau in den alten und den neuen Bundesländern ergeben. Lediglich die besondere historische Situation des Zusammentreffens der beiden Teile Deutschlands mit den unterschiedlichen Einkommensverhältnissen habe bei der Klägerin zu dem höheren Entgelt während des Bemessungszeitraumes geführt.

Gegen das ihr am 27. August 1992 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21. September 1992 Berufung eingelegt. Die Beklagte trägt vor, die Regelung des § 112 Abs. 2 Satz 4 AFG sei mit dem 8. AFG-Änderungs-Gesetz zum 1. Januar 1988 in Kraft getreten und habe nach der Begründung zu dem Gesetzentwurf verhindern sollen, daß Arbeitsentgeltsteigerungen von ungewöhnlicher Höhe, die der Arbeitslose nur kurze Zeit erhalten habe, das für die Bemessung des Arbeitslosengeldes maßgebende Arbeitsentgelt überdurchschnittlich erhöhten. Die Regelung des § 112 Abs. 2 Satz 5 AFG habe nur die Aufgabe, der Verwaltung einen allgemeinen Beurteilungsmaßstab an die Hand zu geben. Damit sei lediglich (negativ abgegrenzt) klargestellt worden, daß eine Erhöhung des Arbeitsentgeltes aufgrund betriebsüblicher Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung allein keine außergewöhnliche Steigerung darstellen solle, wohl aber andere Sachverhalte, die hiervon unabhängig seien, mithin auch ein Wechsel des Arbeitsplatzes bzw. des Betriebes.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 9. Juli 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Gerichtsakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt, § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Berufung ist auch zulässig.

Die Berufung ist auch in vollem Umfang begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 9. Juli 1992 ist rechtsfehlerhaft und war deshalb aufzuheben. Die Klage war abzuweisen.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 15. April 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1991 ist zu Recht ergangen.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld nach §§ 111, 112 AFG.

Das Arbeitslosengeld beträgt für Arbeitslose ohne Kinder 63 % des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts, § 111 Abs. 1 Nr. 2 AFG. Dabei berechnet sich das Arbeitsentgelt nach § 112 Abs. 1 Satz 1 AFG nach dem im Bemessungszeitraum durchschnittlich in der Woche erzielten Arbeitsentgelt, wobei der Bemessungszeitraum die beim Ausscheiden des Arbeitnehmers abgerechneten Lohnabrechnungszeiträume der letzten 3 Monate umfaßt, § 112 Abs. 2 Satz 1 AFG (in der bis zum 31. Dezember 1993 geltenden Fassung = a.F.). Im Falle der Klägerin hat die Beklagte jedoch zutreffend das Bemessungsentgelt auf der Basis der abgerechneten Lohnabrechnungszeiträume der letzten 12 Monate berechnet, § 112 Abs. 2 Satz 4 AFG a.F ... Denn das Arbeitsentgelt der Klägerin ist im letzten Jahr vor dem Ende des Bemessungszeitraumes (28. Februar 1991) außergewöhnlich gestiegen. Eine außergewöhnliche Steigerung nach § 112 Abs. 2 Satz 5 AFG a.F. liegt vor, wenn das durchschnittlich in der Woche erzielte Arbeitsentgelt der letzten 3 Monate um mehr als ein Drittel höher ist, als das im letzten Jahr durchschnittlich in der Woche erzielte Arbeitsentgelt. Das durchschnittlich in der Woche erzielte Arbeitsentgelt aus den letzten 3 Monaten beträgt DM 715,–, aus den letzten 12 Monaten DM 450,–; damit liegt eine außergewöhnliche Steigerung vor, die sich auch nicht aus einer betriebsüblichen Anpassung der Arbeitsentgelte an die wirtschaftliche Entwicklung ergibt. Auch liegt keine Beschäftigung zur Berufsausbildung vor. Andere Gründe – wie etwa die besondere historische Situation nach der Einheit Deutschlands – aber auch der Übergang von Teilzeit auf Vollzeit oder der Wechsel in eine wesentlich besser bezahlte Tätigkeit (auch innerhalb der alten Bundesländer), können nicht zur Nichtanwendung der Vorschrift führen. Vom Ergebnis her kann die Vorschrift des § 112 Abs. 2 Satz 4 und 5 AFG a.F. dahin verstanden werden, daß bei einer außergewöhnlichen Erhöhung des Arbeitsentgelts eine zusätzliche Wartezeit erfüllt werden muß, bevor sich daraus höhere Leistungen ergeben. Die Vorschrift entspricht auch einer Tendenz des Gesetzgebers, zu längeren Bemessungszeiten zu kommen, die verhindern, daß relativ kurze Bemessungszeiträume zu zufälligen Ergebnissen hinsichtlich der Leistungshöhe führen (vgl. § 112 Abs. 2 AFG in der ab 1. Januar 1994 geltenden Fassung = 6 Monate).

Die vom erstinstanzlichen Gericht gewünschte Besserstellung der Arbeitslosen aus den neuen Bundesländern hätte einer ausdrücklichen Regelung im Einigungsvertrag bedurft. Das Schweigen des Einigungsvertrages zu diesem Problem spricht ebenfalls für die vom erkennenden Senat gefundene Lösung, zumal in Anlage I, B, Kapitel VIII, Sachgebiet E, Abschnitt II, § 249 c (13) (BGBl. II 1990, S. 1034) auch für den vorliegenden Fall eine Abmilderung des Ergebnisses dadurch erfolgt, daß sich Höhe und zeitlicher Abstand der Anpassung der Leistung nach den günstigeren Verhältnissen des Beitrittsgebiets richten, wenn das Arbeitsentgelt aus § 112 AFG überwiegend auf Zeiten im Beitrittsgebiet beruht, wie im vorliegenden Fall. Das sich auf dieser Berechnungsgrundlage nach Leistungsgruppe D ergebende Arbeitslosengeld von werktäglich DM 28,20 (ab 1. März 1991) ist damit nicht zu niedrig festgesetzt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen worden, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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