Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 1194/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 1249/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 20. Februar 2008 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Im Streit steht die Berechtigung der Beklagten zur rückwirkenden Aufhebung der Beitragsbescheide für die Jahre 2001 und 2003 bis 2005.
Die Klägerin betreibt ein Unternehmen zur Maschinenreinigung, das im März 1983 bei der S. E.- und S.-B. M., einer der Rechtsvorgängerinnen der Beklagten (künftig: die Beklagte) angemeldet wurde. Mit Bescheid vom 7. Juni 1983 wurde die Klägerin zur Beklagten aufgenommen und unter die Gefahrtarifstellen 2302 (Reinigung und Wartung von Maschinen und Anlagen), Gefahrklasse 4,7, und Gefahrtarifstelle 2901 (Kaufmännischer und verwaltender Teil), Gefahrklasse 0,7, veranlagt (ab 1. Januar 2001: Tarifstelle 1423, Gefahrklasse 61 bzw. bzw. 1929, Gefahrklasse 0,6; Bescheid vom 19. Dezember 2000).
Im Prüfbericht vom 15. November 2006 (Prüfzeitraum 2001 bis 2005) vermerkte der Prüfer der Beklagten, dass in den Jahren 2001 sowie 2003 bis 2005 die Entgelte der Reinigungskraft H. und des Objektleiters P. W. G. der falschen Tarifstelle zugeordnet gewesen seien, nämlich der Tarifstelle 1929.
Mit Bescheid vom 30. November 2006 teilte die Beklagte mit, die Klägerin habe für das Jahr 2003 einen Betrag von 1.677,18 EUR nachzuzahlen, mit weiterem Bescheid vom 30. November 2006 wurden für 2004 weitere 1.424,74 EUR verlangt, mit weiteren Bescheiden vom 30. November 2006 für 2005 2.033,11 EUR und für 2001 1.339,58 EUR. In den Bescheiden wird auf § 76 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) Bezug genommen und ausgeführt, dass Beiträge vollständig zu erheben seien und Gründe, die es rechtfertigen würden, von der Beitragsnacherhebung abzusehen, nicht ersichtlich seien.
Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und führte aus, P. W. G. sei als Objektleiter derselben Gefahrklasse zugeordnet worden wie die an den Maschinen arbeitenden Mitarbeiter. Er führe jedoch tatsächlich nur aufsichtsführende und verwaltende Tätigkeiten aus, akquiriere als Vertreter der Geschäftsleitung neue Aufträge, schließe diese ab und führe Preisverhandlungen durch.
Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 2007 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, in Tarifstelle 19 seien nur Arbeitsentgelte von Versicherten nachzuweisen, die ausschließlich verwaltende bzw. kaufmännische Tätigkeiten ausübten. Zu den Tätigkeiten von Herrn G. gehöre neben der administrativen Organisation im Bürobereich auch die Aufsichtsführung vor Ort beim Kunden. Dazu habe Herr G. einen Dienstwagen. Auch die Begutachtung und Überwachung der Arbeitsleistung vor Ort sei gefahrerhöhend und die Tätigkeit daher insgesamt nicht der Tarifstelle 19 zuzuordnen.
Dagegen hat die Klägerin am 8. März 2007 Klage zum Sozialgericht K. (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die angefochtenen Bescheide litten an einem Begründungsmangel, denn erst im Widerspruchsbescheid sei überhaupt erkennbar, weshalb eine abweichende Beitragsberechnung durchgeführt werde. Darüber hinaus werde aber auch darin die Höhe der Beiträge nicht mitgeteilt. Nicht zuletzt dürfe nach § 168 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) der Beitragsbescheid nur dann mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthalte. Dies sei nicht der Fall. Denn die Tätigkeit von Herrn G. stelle zu mehr als 90% reine Bürotätigkeit dar. Darüber hinaus sei § 168 Abs. 2 SGB VII eine Ermessensvorschrift, entsprechende Ausführungen fehlten aber im Ausgangs- wie im Widerspruchsbescheid. Die Beklagte hat erwidert, dass der Klägerin nach der Bekanntgabe der Prüfergebnisse noch im Betrieb klar gewesen sei, weshalb für die streitgegenständlichen Jahre Beiträge nacherhoben würden. Die Lohnnachweise hätten in der Tat unrichtige Angaben enthalten, da Herr G. nicht ausschließlich im Büro tätig sei, wie die Klägerin selbst vorgetragen habe. Da Herr G. neben der Bürotätigkeit auch Dienstreisen unternehme, komme seine Zuordnung zu Tarifstelle 19 schon deshalb nicht in Betracht. Ermessen sei mit dem Hinweis auf § 76 SGB IV in den Beitragsbescheiden ausgeübt worden.
Im Verfahren S 1 U 1802/07 ER hatte die Klägerin im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 8. März 2007 gegen die Beitragsbescheide vom 30. November 2006 beantragt. Mit Beschluss vom 23. April 2007 wurde der Antrag abgelehnt, der dagegen erhobenen Beschwerde hat das Landessozialgericht im Verfahren L 10 U 2778/07 W-A mit Beschluss vom 10. Juli 2007 stattgegeben.
Mit Urteil vom 20. Februar 2008 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Es könne offen bleiben, ob die Zuordnung des Entgelts von Herr G. tatsächlich zu Unrecht zu Tarifstelle 19 erfolgt sei. Denn die Bescheide seien bereits formell rechtwidrig, da die Beklagte das ihr in § 168 Abs. 2 SGB VII eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt habe. Doch selbst wenn davon ausgegangen werde, dass der Verweis auf § 76 SGB IV in den Ausgangsbescheiden als Ermessensausübung genüge, habe der Widerspruchsausschuss im Widerspruchsbescheid keine Ermessensbetätigung erkennen lassen. Die Ermessensausübung habe die Beklagte auch nicht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nachgeholt. Auch führe § 76 SGB IV nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null, zumal auch dies von der Beklagten zu begründen gewesen wäre. Nicht zuletzt habe die Beklagte mit den angefochtenen Ausgangsbescheiden auch nicht die zuvor für die Beitragsjahre 2001, 2003 bis 2005 erlassenen Bescheide aufgehoben.
Gegen das am 4. März 2008 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12. März 2008 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, es handle sich bei § 168 Abs. 2 SGB VII nicht um eine Ermessensvorschrift. Es sei insbesondere nicht nachvollziehbar, weshalb das Gebot des § 76 SGB IV in den Fällen der Beitragsnacherhebung nach § 168 Abs. 2 SGB VII nicht zwingend sein solle. Hilfsweise werde vorgetragen, dass es sich bei der Bezugnahme auf § 76 SGB IV in den Ausgangsbescheiden um eine ausreichende Ermessensbetätigung handle. Das Interesse der Gemeinschaft der Beitragszahler an der Nachforderung sei größer als das mögliche Vertrauen der Klägerin in den Bestand der Bescheide, insbesondere weil sich die Klägerin durch die unrichtigen Angaben in den Lohnnachweisen nicht auf ein schutzwürdiges Vertrauen berufen könne. Es sei darüber hinaus zu beachten, dass der Gesetzgeber "zur Klarstellung" beschlossen habe, § 168 Abs. 2 SGB VII zu ändern und die bisher verwendete Formulierung "darf aufgehoben werden" durch die Formulierung "ist aufzuheben" zu ersetzen, was die bisherige Rechtsauffassung der Beklagten bestärke.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 20. Februar 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie führt zur Begründung aus, die Beklagte habe es unterlassen, ihr Ermessen ordnungsgemäß auszuüben. Darüber hinaus sei ein Ermessensnichtgebrauch auch nicht nachträglich nach § 41 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zu heilen. Nicht zuletzt habe die Klägerin keine falschen Angaben im Sinne des § 168 Abs. 2 SGB VII gemacht.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide in der Gestalt des Widerspruchsbescheids sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Gemäß § 165 Abs. 1 Satz 1 SGB VII hat der Unternehmer zur Berechnung der Umlage innerhalb von sechs Wochen nach Ablauf eines Kalenderjahres die Arbeitsentgelte der Versicherten und die geleisteten Arbeitsstunden in der vom Unfallversicherungsträger geforderten Aufteilung zu melden (Lohnnachweis). Der Unfallversicherungsträger teilt den Beitragspflichtigen den von ihnen zu zahlenden Beitrag schriftlich mit (§ 168 Abs. 1 SGB VII). Der Beitragsbescheid darf mit Wirkung für die Vergangenheit zuungunsten der Beitragspflichtigen nur dann aufgehoben werden, wenn der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthält oder sich die Schätzung als unrichtig erweist (§ 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII).
Nach dem am 7. Dezember 2000 beschlossenen Gefahrtarif der Beklagten, gültig ab 1. Januar 2001, sind in Teil I Tarifstelle 14 u.a. die Instandhaltung von Maschinen und Apparaten mit der Gefahrklasse 6,1 erfasst, in Tarifstelle 19 der kaufmännische und verwaltende Teil der Unternehmen im Büro (Gefahrklasse 0,6). In Teil III (Zuordnung der Arbeitsentgelte im Lohnachweis) Ziff. 2 ist weiter ausgeführt: "Unter der Tarifstelle 19 werden nur die Arbeitsentgelte eines Versicherten nachgewiesen, der ausschließlich kaufmännische oder verwaltende Tätigkeiten im Bürobereich verrichtet. Unter der Tarifstelle 19 sind nicht nachzuweisen, sondern unter dem jeweiligen technischen Unternehmenszweig, Arbeitsentgelte von Versicherten, die neben oder zusätzlich zu ihrer Bürotätigkeit Umgang mit Produkten oder Waren haben".
Die Klägerin hat vorgetragen, dass Herr G. zu etwa 90% reine Bürotätigkeiten verrichtet und etwa 10% seiner Arbeitszeit damit verbringt, unter Zuhilfenahme seines Dienstwagens den bestehenden Kundenstamm zu pflegen, neue Kunden zu gewinnen und im Einzelfall auch die ordnungsgemäße Erledigung der in Auftrag gegebenen Arbeiten zu überprüfen. Auch wenn der Einwand der Klägerin, eine Tätigkeit als Geschäftsführer eines Unternehmens sei nicht vorstellbar ohne Kundenpflege und Akquise, nachvollziehbar ist, hat der Gefahrtarif der Beklagten insoweit eine strikte Trennlinie zwischen kaufmännisch/verwaltendem Teil und dem technischen Teil der zu veranlagenden Tätigkeiten gezogen. Schon in Tarifstelle 19 ist nur eine Tätigkeit im Büro erfasst, die Erläuterungen in Teil III Ziff. 2 des Gefahrtarifs ergänzen diese Begrenzung um das Ausschließlichkeitskriterium. Soweit die Klägerin vorbringt, der Mitarbeiter G. habe, anders als in Teil III Ziff. 2 Satz 2 aufgeführt, keinen Umgang mit Waren und Produkten, mag das im Tatsächlichen zutreffen. Rechtlich kommt es darauf jedoch nicht an, da bereits durch das Ausschließlichkeitskriterium klargestellt ist, dass die Tätigkeit des Mitarbeiters G., der seine Arbeit gerade nicht ausschließlich im Büro verrichtet und deshalb auch einer höheren Gefährdung ausgesetzt ist als Mitarbeiter, die nur im Bürobereich arbeiten, nicht unter die Tarifstelle 19 zu fassen ist. Da das Unternehmen der Klägerin im technischen Bereich im Veranlagungsbescheid der Tarifstelle 14 zugeordnet ist, waren deshalb auch die Lohnsummen des Mitarbeiters G. unter diese Tarifstelle zu fassen. Ob die Veranlagung an sich zutreffend zur Tarifstelle 14 erfolgt ist bzw. ob die Beklagte überhaupt zuständiger Unfallversicherungsträger ist, woran die Klägerin Zweifel geäußert hatte, ist nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens. So lange noch keine förmliche Überweisung der Klägerin an einen anderen Unfallversicherungsträger stattgefunden hat und die Veranlagung der Klägerin zur Tarifstelle 14 besteht, bildet der bestandskräftige Veranlagungsbescheid die Grundlage für die Beitragserhebung (vgl. insoweit auch Urteil des Senats vom 25. August 2008 - L 1 U 583/08, zur Veröffentlichung in Juris vorgesehen).
Bezüglich der Reinigungskraft H. hat die Klägerin nichts vorgetragen, was deren Zuordnung zur Gefahrtarifstelle 19 begründen könnte, so dass insoweit ebenfalls von einer unrichtigen Zuordnung auszugehen ist.
Auf ein schuldhaftes Verhalten der Klägerin bei der Zuordnung der Lohnsummen kommt es insoweit nicht an, da für § 168 Abs. 2 SGB VII maßgeblich nur die objektive Unrichtigkeit der Angaben ist.
Da also unrichtige Angaben in den Lohnnachweisen gemacht worden sind, war die Beklagte grundsätzlich berechtigt, nach § 168 Abs. 2 SGB VII die von den unrichtigen Angaben betroffenen Beitragsbescheide mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Dennoch sind die angefochtenen Bescheide aufzuheben, da die Beklagte das ihr in § 168 Abs. 2 SGB VII eingeräumte Ermessen nicht - auch nicht unter Berücksichtigung der nachgeschobenen Hilfserwägungen - rechtsfehlerfrei ausgeübt hat.
Der Senat vertritt die Auffassung, dass die Beklagte bei der Entscheidung über die rückwirkende Aufhebung der Bescheide Ermessen auszuüben gehabt hätte.
Für die Notwendigkeit, eine Ermessensentscheidung zu treffen, spricht der Wortlaut der Vorschrift "darf". Hätte der Gesetzgeber eine gebundene Entscheidung gewollt und die Berufsgenossenschaft verpflichten wollen, beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 168 Abs. 2 SGB VII rückwirkend höhere als die ursprünglich festgesetzten Beiträge zu erheben, wäre die Formulierung "wird aufgehoben , wenn ..." oder "wird nur aufgehoben , wenn ..." zu erwarten gewesen. Dies wird durch die Gesetzesbegründung zu § 168 Abs. 2 SGB VII bestätigt, in der es heißt: "Die Vorschrift zählt die Fälle auf, in denen ein Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten des Unternehmers aufgehoben werden kann; sie entspricht im Wesentlichen dem geltenden Recht (§ 749 RVO). Im Übrigen richtet sich die Aufhebung von Beitragsbescheiden nach den §§ 44 ff. SGB X" (BT-Drucksache 13/2204). Auch diese Formulierung "kann" und der Hinweis auf die §§ 44 ff SGB X spricht dafür, dass § 168 Abs. 2 SGB VII Ermessen verlangt. Angesichts dessen schließt sich der Senat der neueren Rechtsprechung der Landessozialgerichte (LSG) an, die § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII als Ermessensvorschrift ansehen (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. Juli 2007 – L 7 U 2777/07 – ER-B und Urteile vom 29. Januar 2008 - L 9 U 5354/05 sowie vom 25. August 2008 - L 1 U 583/08; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. März 2007 – L 2 U 46/03; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. Februar 2004 – L 2 ER 59/03 U; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Februar 2008 - 2 U 221/06) sowie der überwiegend vertretenen Literaturmeinung (Platz in Lauterbach, Unfallversicherung, 4. Aufl., Stand April 2007, § 168 SGB VII Rdnr. 4; Freischmidt in Hauck, SGG VII, Gesetzliche Unfallversicherung, § 168 Rdnr. 11; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 2008, § 168 SGB VII Rdnr. 4). Dagegen wurde die Notwendigkeit von Ermessen vom LSG Niedersachsen, Urteil vom 29.7.1997 – L 3 U 223/97 – in Breithaupt 1997 Seite 939, 942 m.w.N. verneint. Aus dem Urteil des LSG Berlin vom 30.4.2002 – L 2 U 55/00 – in JURIS lässt sich nicht entnehmen, dass das LSG eine Ermessensausübung für erforderlich gehalten hätte. Das Sozialgericht (SG) Dortmund, Urteil vom 25.7.2002 – S 17 U 45/00 – hält die Berufsgenossenschaft nach § 749 Nr. 3 RVO für verpflichtet, einen Änderungsbescheid zu erlassen. Ricke im Kassler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand September 2007, § 168 SGB VII Rdnr. 4 sowie Bigge in jurisPR SozR 22/07 Anm. 3 und in "die BG 2008" S. 133 ff verneinen die Einräumung von Ermessen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich mit der Frage von Ermessen bei § 749 RVO nicht auseinandergesetzt, ein solches aber auch nicht gefordert (BSG, Urteile vom 12.12.1985 in SozR 2200 § 734 Nr. 5 und 6).
Die Beklagte hat zuletzt im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG zu Protokoll gegeben und in der Berufungsbegründung vorgebracht, sie halte Ermessen insoweit nicht für gegeben, hilfsweise hätte sie aber jedenfalls in den Ausgangsbescheiden Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt.
Dieser Auffassung schließt sich der Senat, in Übereinstimmung mit den Ausführungen des SG im angefochtenen Urteil und mit den Ausführungen des 10. Senats des LSG im Beschluss vom 10. Juli 2007 nicht an. Weder den Ausgangsbescheiden noch dem Widerspruchsbescheid kann eine ordnungsgemäße Ermessensausübung (da die Beklagte von einer bindenden Vorschrift ausgegangen ist, insoweit auch folgerichtig) entnommen werden.
In den Ausgangsbescheiden hat die Beklagte unter Verweis auf § 76 SGB IV lediglich darauf hingewiesen, dass sie zur vollständigen Beitragserhebung verpflichtet sei. Sie hat zwar weiter ausgeführt, dass Gründe, die es rechtfertigen könnten, von der Nacherhebung abzusehen, nicht ersichtlich seien. Ausreichende Ermessenserwägungen können daraus aber nicht abgeleitet werden.
Gemäß § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X muss die Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. In den Ausgangsbescheiden hat die Beklagte den Text des § 76 Abs. 1 SGB IV wiederholt, der die rechtzeitige und vollständige Beitragserhebung vorschreibt. Für die im Ausgangsbescheid weiter ausgeführte Option des Verzichts auf eine Nacherhebung, worauf die Beklagte - hilfsweise - abstellt, ist eine Ermächtigungsgrundlage nicht erkennbar. § 76 Abs. 2 SGB IV sieht lediglich die Stundung, Niederschlagung oder den Verzicht auf eine Forderung vor, also auf deren Geltendmachung gegenüber dem Schuldner. Auch § 168 Abs. 2 SGB VII regelt nicht den Verzicht auf eine Forderung, sondern die Möglichkeiten und Grenzen der Rücknahme eines Verwaltungsakts für die Vergangenheit. Erst nach einer wirksamen Rücknahme eines Verwaltungsaktes - hier nach § 168 Abs. 2 SGB VII und unter dessen Voraussetzungen- greift § 76 SGB IV ein, der die Modalitäten der Geltendmachung und des Einzugs von Forderungen regelt. Diese Systematik verkennt die Beklagte, wenn sie, wenn auch nur hilfsweise, darauf abstellt, durch die zitierten Formulierungen hätte sie von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht. Das in § 168 Abs. 2 SGB VII geforderte Ermessen bezieht sich nach dem Ausgeführten nämlich nicht auf die Modalitäten der Forderungseinziehung, sondern auf die - zeitlich und gedanklich davor liegende - Rücknahme eines Verwaltungsaktes. Deshalb kann auch aufgrund der Hilfserwägungen der Beklagten nicht von einer Ermessensausübung ausgegangen werden, so dass ein Ermessensnichtgebrauch vorliegt.
Keine andere Beurteilung der Rechtsfrage ist dadurch geboten, dass der Gesetzgeber am 26. Juni 2008 (Ausschussdrucksache 16 (11) 1055 ) § 168 Abs.2 SGB VII geändert und das Wort "darf" durch das Wort "ist" ersetzt und die Wörter "aufgehoben werden" durch "aufzuheben" ersetzt und zur Begründung ausgeführt hat, dass es sich bei der Änderung lediglich um eine Klarstellung handle. Unabhängig davon, ob die Begründung, die zur Änderung des § 168 Abs. 2 SGB VII gegeben ist, juristisch überzeugt, ist dem Willen des Gesetzgebers bei Einführung des § 168 Abs. 2 SGB VII (und nur darauf kommt es an) nicht zu entnehmen, dass er die im Bundestagsausschuss vertretene Auffassung ebenfalls geteilt hat.
Der Mangel ist auch nicht nach § 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB X (Begründung wird nachträglich gegeben) i.V.m. Abs. 2 durch die bis zur Entscheidung des Senats eingegangenen Schriftsätze der Beklagten geheilt, da mit dieser Heilungsvorschrift lediglich unzureichende Begründungen eines ansonsten rechtsfehlerfrei ergangenen Verwaltungsaktes nachgeholt werden können, nicht aber erstmalig Ermessenserwägungen angestellt werden können, die einen als gebundenen Verwaltungsakt erlassenen Bescheid zu einer Ermessensentscheidung machen würden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 197a Abs. 1 Satz 1 SGG, 154 Abs. 2, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Im Streit steht die Berechtigung der Beklagten zur rückwirkenden Aufhebung der Beitragsbescheide für die Jahre 2001 und 2003 bis 2005.
Die Klägerin betreibt ein Unternehmen zur Maschinenreinigung, das im März 1983 bei der S. E.- und S.-B. M., einer der Rechtsvorgängerinnen der Beklagten (künftig: die Beklagte) angemeldet wurde. Mit Bescheid vom 7. Juni 1983 wurde die Klägerin zur Beklagten aufgenommen und unter die Gefahrtarifstellen 2302 (Reinigung und Wartung von Maschinen und Anlagen), Gefahrklasse 4,7, und Gefahrtarifstelle 2901 (Kaufmännischer und verwaltender Teil), Gefahrklasse 0,7, veranlagt (ab 1. Januar 2001: Tarifstelle 1423, Gefahrklasse 61 bzw. bzw. 1929, Gefahrklasse 0,6; Bescheid vom 19. Dezember 2000).
Im Prüfbericht vom 15. November 2006 (Prüfzeitraum 2001 bis 2005) vermerkte der Prüfer der Beklagten, dass in den Jahren 2001 sowie 2003 bis 2005 die Entgelte der Reinigungskraft H. und des Objektleiters P. W. G. der falschen Tarifstelle zugeordnet gewesen seien, nämlich der Tarifstelle 1929.
Mit Bescheid vom 30. November 2006 teilte die Beklagte mit, die Klägerin habe für das Jahr 2003 einen Betrag von 1.677,18 EUR nachzuzahlen, mit weiterem Bescheid vom 30. November 2006 wurden für 2004 weitere 1.424,74 EUR verlangt, mit weiteren Bescheiden vom 30. November 2006 für 2005 2.033,11 EUR und für 2001 1.339,58 EUR. In den Bescheiden wird auf § 76 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) Bezug genommen und ausgeführt, dass Beiträge vollständig zu erheben seien und Gründe, die es rechtfertigen würden, von der Beitragsnacherhebung abzusehen, nicht ersichtlich seien.
Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und führte aus, P. W. G. sei als Objektleiter derselben Gefahrklasse zugeordnet worden wie die an den Maschinen arbeitenden Mitarbeiter. Er führe jedoch tatsächlich nur aufsichtsführende und verwaltende Tätigkeiten aus, akquiriere als Vertreter der Geschäftsleitung neue Aufträge, schließe diese ab und führe Preisverhandlungen durch.
Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 2007 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, in Tarifstelle 19 seien nur Arbeitsentgelte von Versicherten nachzuweisen, die ausschließlich verwaltende bzw. kaufmännische Tätigkeiten ausübten. Zu den Tätigkeiten von Herrn G. gehöre neben der administrativen Organisation im Bürobereich auch die Aufsichtsführung vor Ort beim Kunden. Dazu habe Herr G. einen Dienstwagen. Auch die Begutachtung und Überwachung der Arbeitsleistung vor Ort sei gefahrerhöhend und die Tätigkeit daher insgesamt nicht der Tarifstelle 19 zuzuordnen.
Dagegen hat die Klägerin am 8. März 2007 Klage zum Sozialgericht K. (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die angefochtenen Bescheide litten an einem Begründungsmangel, denn erst im Widerspruchsbescheid sei überhaupt erkennbar, weshalb eine abweichende Beitragsberechnung durchgeführt werde. Darüber hinaus werde aber auch darin die Höhe der Beiträge nicht mitgeteilt. Nicht zuletzt dürfe nach § 168 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) der Beitragsbescheid nur dann mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthalte. Dies sei nicht der Fall. Denn die Tätigkeit von Herrn G. stelle zu mehr als 90% reine Bürotätigkeit dar. Darüber hinaus sei § 168 Abs. 2 SGB VII eine Ermessensvorschrift, entsprechende Ausführungen fehlten aber im Ausgangs- wie im Widerspruchsbescheid. Die Beklagte hat erwidert, dass der Klägerin nach der Bekanntgabe der Prüfergebnisse noch im Betrieb klar gewesen sei, weshalb für die streitgegenständlichen Jahre Beiträge nacherhoben würden. Die Lohnnachweise hätten in der Tat unrichtige Angaben enthalten, da Herr G. nicht ausschließlich im Büro tätig sei, wie die Klägerin selbst vorgetragen habe. Da Herr G. neben der Bürotätigkeit auch Dienstreisen unternehme, komme seine Zuordnung zu Tarifstelle 19 schon deshalb nicht in Betracht. Ermessen sei mit dem Hinweis auf § 76 SGB IV in den Beitragsbescheiden ausgeübt worden.
Im Verfahren S 1 U 1802/07 ER hatte die Klägerin im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 8. März 2007 gegen die Beitragsbescheide vom 30. November 2006 beantragt. Mit Beschluss vom 23. April 2007 wurde der Antrag abgelehnt, der dagegen erhobenen Beschwerde hat das Landessozialgericht im Verfahren L 10 U 2778/07 W-A mit Beschluss vom 10. Juli 2007 stattgegeben.
Mit Urteil vom 20. Februar 2008 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Es könne offen bleiben, ob die Zuordnung des Entgelts von Herr G. tatsächlich zu Unrecht zu Tarifstelle 19 erfolgt sei. Denn die Bescheide seien bereits formell rechtwidrig, da die Beklagte das ihr in § 168 Abs. 2 SGB VII eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt habe. Doch selbst wenn davon ausgegangen werde, dass der Verweis auf § 76 SGB IV in den Ausgangsbescheiden als Ermessensausübung genüge, habe der Widerspruchsausschuss im Widerspruchsbescheid keine Ermessensbetätigung erkennen lassen. Die Ermessensausübung habe die Beklagte auch nicht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nachgeholt. Auch führe § 76 SGB IV nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null, zumal auch dies von der Beklagten zu begründen gewesen wäre. Nicht zuletzt habe die Beklagte mit den angefochtenen Ausgangsbescheiden auch nicht die zuvor für die Beitragsjahre 2001, 2003 bis 2005 erlassenen Bescheide aufgehoben.
Gegen das am 4. März 2008 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12. März 2008 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, es handle sich bei § 168 Abs. 2 SGB VII nicht um eine Ermessensvorschrift. Es sei insbesondere nicht nachvollziehbar, weshalb das Gebot des § 76 SGB IV in den Fällen der Beitragsnacherhebung nach § 168 Abs. 2 SGB VII nicht zwingend sein solle. Hilfsweise werde vorgetragen, dass es sich bei der Bezugnahme auf § 76 SGB IV in den Ausgangsbescheiden um eine ausreichende Ermessensbetätigung handle. Das Interesse der Gemeinschaft der Beitragszahler an der Nachforderung sei größer als das mögliche Vertrauen der Klägerin in den Bestand der Bescheide, insbesondere weil sich die Klägerin durch die unrichtigen Angaben in den Lohnnachweisen nicht auf ein schutzwürdiges Vertrauen berufen könne. Es sei darüber hinaus zu beachten, dass der Gesetzgeber "zur Klarstellung" beschlossen habe, § 168 Abs. 2 SGB VII zu ändern und die bisher verwendete Formulierung "darf aufgehoben werden" durch die Formulierung "ist aufzuheben" zu ersetzen, was die bisherige Rechtsauffassung der Beklagten bestärke.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 20. Februar 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie führt zur Begründung aus, die Beklagte habe es unterlassen, ihr Ermessen ordnungsgemäß auszuüben. Darüber hinaus sei ein Ermessensnichtgebrauch auch nicht nachträglich nach § 41 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zu heilen. Nicht zuletzt habe die Klägerin keine falschen Angaben im Sinne des § 168 Abs. 2 SGB VII gemacht.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide in der Gestalt des Widerspruchsbescheids sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Gemäß § 165 Abs. 1 Satz 1 SGB VII hat der Unternehmer zur Berechnung der Umlage innerhalb von sechs Wochen nach Ablauf eines Kalenderjahres die Arbeitsentgelte der Versicherten und die geleisteten Arbeitsstunden in der vom Unfallversicherungsträger geforderten Aufteilung zu melden (Lohnnachweis). Der Unfallversicherungsträger teilt den Beitragspflichtigen den von ihnen zu zahlenden Beitrag schriftlich mit (§ 168 Abs. 1 SGB VII). Der Beitragsbescheid darf mit Wirkung für die Vergangenheit zuungunsten der Beitragspflichtigen nur dann aufgehoben werden, wenn der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthält oder sich die Schätzung als unrichtig erweist (§ 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII).
Nach dem am 7. Dezember 2000 beschlossenen Gefahrtarif der Beklagten, gültig ab 1. Januar 2001, sind in Teil I Tarifstelle 14 u.a. die Instandhaltung von Maschinen und Apparaten mit der Gefahrklasse 6,1 erfasst, in Tarifstelle 19 der kaufmännische und verwaltende Teil der Unternehmen im Büro (Gefahrklasse 0,6). In Teil III (Zuordnung der Arbeitsentgelte im Lohnachweis) Ziff. 2 ist weiter ausgeführt: "Unter der Tarifstelle 19 werden nur die Arbeitsentgelte eines Versicherten nachgewiesen, der ausschließlich kaufmännische oder verwaltende Tätigkeiten im Bürobereich verrichtet. Unter der Tarifstelle 19 sind nicht nachzuweisen, sondern unter dem jeweiligen technischen Unternehmenszweig, Arbeitsentgelte von Versicherten, die neben oder zusätzlich zu ihrer Bürotätigkeit Umgang mit Produkten oder Waren haben".
Die Klägerin hat vorgetragen, dass Herr G. zu etwa 90% reine Bürotätigkeiten verrichtet und etwa 10% seiner Arbeitszeit damit verbringt, unter Zuhilfenahme seines Dienstwagens den bestehenden Kundenstamm zu pflegen, neue Kunden zu gewinnen und im Einzelfall auch die ordnungsgemäße Erledigung der in Auftrag gegebenen Arbeiten zu überprüfen. Auch wenn der Einwand der Klägerin, eine Tätigkeit als Geschäftsführer eines Unternehmens sei nicht vorstellbar ohne Kundenpflege und Akquise, nachvollziehbar ist, hat der Gefahrtarif der Beklagten insoweit eine strikte Trennlinie zwischen kaufmännisch/verwaltendem Teil und dem technischen Teil der zu veranlagenden Tätigkeiten gezogen. Schon in Tarifstelle 19 ist nur eine Tätigkeit im Büro erfasst, die Erläuterungen in Teil III Ziff. 2 des Gefahrtarifs ergänzen diese Begrenzung um das Ausschließlichkeitskriterium. Soweit die Klägerin vorbringt, der Mitarbeiter G. habe, anders als in Teil III Ziff. 2 Satz 2 aufgeführt, keinen Umgang mit Waren und Produkten, mag das im Tatsächlichen zutreffen. Rechtlich kommt es darauf jedoch nicht an, da bereits durch das Ausschließlichkeitskriterium klargestellt ist, dass die Tätigkeit des Mitarbeiters G., der seine Arbeit gerade nicht ausschließlich im Büro verrichtet und deshalb auch einer höheren Gefährdung ausgesetzt ist als Mitarbeiter, die nur im Bürobereich arbeiten, nicht unter die Tarifstelle 19 zu fassen ist. Da das Unternehmen der Klägerin im technischen Bereich im Veranlagungsbescheid der Tarifstelle 14 zugeordnet ist, waren deshalb auch die Lohnsummen des Mitarbeiters G. unter diese Tarifstelle zu fassen. Ob die Veranlagung an sich zutreffend zur Tarifstelle 14 erfolgt ist bzw. ob die Beklagte überhaupt zuständiger Unfallversicherungsträger ist, woran die Klägerin Zweifel geäußert hatte, ist nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens. So lange noch keine förmliche Überweisung der Klägerin an einen anderen Unfallversicherungsträger stattgefunden hat und die Veranlagung der Klägerin zur Tarifstelle 14 besteht, bildet der bestandskräftige Veranlagungsbescheid die Grundlage für die Beitragserhebung (vgl. insoweit auch Urteil des Senats vom 25. August 2008 - L 1 U 583/08, zur Veröffentlichung in Juris vorgesehen).
Bezüglich der Reinigungskraft H. hat die Klägerin nichts vorgetragen, was deren Zuordnung zur Gefahrtarifstelle 19 begründen könnte, so dass insoweit ebenfalls von einer unrichtigen Zuordnung auszugehen ist.
Auf ein schuldhaftes Verhalten der Klägerin bei der Zuordnung der Lohnsummen kommt es insoweit nicht an, da für § 168 Abs. 2 SGB VII maßgeblich nur die objektive Unrichtigkeit der Angaben ist.
Da also unrichtige Angaben in den Lohnnachweisen gemacht worden sind, war die Beklagte grundsätzlich berechtigt, nach § 168 Abs. 2 SGB VII die von den unrichtigen Angaben betroffenen Beitragsbescheide mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Dennoch sind die angefochtenen Bescheide aufzuheben, da die Beklagte das ihr in § 168 Abs. 2 SGB VII eingeräumte Ermessen nicht - auch nicht unter Berücksichtigung der nachgeschobenen Hilfserwägungen - rechtsfehlerfrei ausgeübt hat.
Der Senat vertritt die Auffassung, dass die Beklagte bei der Entscheidung über die rückwirkende Aufhebung der Bescheide Ermessen auszuüben gehabt hätte.
Für die Notwendigkeit, eine Ermessensentscheidung zu treffen, spricht der Wortlaut der Vorschrift "darf". Hätte der Gesetzgeber eine gebundene Entscheidung gewollt und die Berufsgenossenschaft verpflichten wollen, beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 168 Abs. 2 SGB VII rückwirkend höhere als die ursprünglich festgesetzten Beiträge zu erheben, wäre die Formulierung "wird aufgehoben , wenn ..." oder "wird nur aufgehoben , wenn ..." zu erwarten gewesen. Dies wird durch die Gesetzesbegründung zu § 168 Abs. 2 SGB VII bestätigt, in der es heißt: "Die Vorschrift zählt die Fälle auf, in denen ein Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten des Unternehmers aufgehoben werden kann; sie entspricht im Wesentlichen dem geltenden Recht (§ 749 RVO). Im Übrigen richtet sich die Aufhebung von Beitragsbescheiden nach den §§ 44 ff. SGB X" (BT-Drucksache 13/2204). Auch diese Formulierung "kann" und der Hinweis auf die §§ 44 ff SGB X spricht dafür, dass § 168 Abs. 2 SGB VII Ermessen verlangt. Angesichts dessen schließt sich der Senat der neueren Rechtsprechung der Landessozialgerichte (LSG) an, die § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII als Ermessensvorschrift ansehen (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. Juli 2007 – L 7 U 2777/07 – ER-B und Urteile vom 29. Januar 2008 - L 9 U 5354/05 sowie vom 25. August 2008 - L 1 U 583/08; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. März 2007 – L 2 U 46/03; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. Februar 2004 – L 2 ER 59/03 U; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Februar 2008 - 2 U 221/06) sowie der überwiegend vertretenen Literaturmeinung (Platz in Lauterbach, Unfallversicherung, 4. Aufl., Stand April 2007, § 168 SGB VII Rdnr. 4; Freischmidt in Hauck, SGG VII, Gesetzliche Unfallversicherung, § 168 Rdnr. 11; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 2008, § 168 SGB VII Rdnr. 4). Dagegen wurde die Notwendigkeit von Ermessen vom LSG Niedersachsen, Urteil vom 29.7.1997 – L 3 U 223/97 – in Breithaupt 1997 Seite 939, 942 m.w.N. verneint. Aus dem Urteil des LSG Berlin vom 30.4.2002 – L 2 U 55/00 – in JURIS lässt sich nicht entnehmen, dass das LSG eine Ermessensausübung für erforderlich gehalten hätte. Das Sozialgericht (SG) Dortmund, Urteil vom 25.7.2002 – S 17 U 45/00 – hält die Berufsgenossenschaft nach § 749 Nr. 3 RVO für verpflichtet, einen Änderungsbescheid zu erlassen. Ricke im Kassler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand September 2007, § 168 SGB VII Rdnr. 4 sowie Bigge in jurisPR SozR 22/07 Anm. 3 und in "die BG 2008" S. 133 ff verneinen die Einräumung von Ermessen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich mit der Frage von Ermessen bei § 749 RVO nicht auseinandergesetzt, ein solches aber auch nicht gefordert (BSG, Urteile vom 12.12.1985 in SozR 2200 § 734 Nr. 5 und 6).
Die Beklagte hat zuletzt im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG zu Protokoll gegeben und in der Berufungsbegründung vorgebracht, sie halte Ermessen insoweit nicht für gegeben, hilfsweise hätte sie aber jedenfalls in den Ausgangsbescheiden Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt.
Dieser Auffassung schließt sich der Senat, in Übereinstimmung mit den Ausführungen des SG im angefochtenen Urteil und mit den Ausführungen des 10. Senats des LSG im Beschluss vom 10. Juli 2007 nicht an. Weder den Ausgangsbescheiden noch dem Widerspruchsbescheid kann eine ordnungsgemäße Ermessensausübung (da die Beklagte von einer bindenden Vorschrift ausgegangen ist, insoweit auch folgerichtig) entnommen werden.
In den Ausgangsbescheiden hat die Beklagte unter Verweis auf § 76 SGB IV lediglich darauf hingewiesen, dass sie zur vollständigen Beitragserhebung verpflichtet sei. Sie hat zwar weiter ausgeführt, dass Gründe, die es rechtfertigen könnten, von der Nacherhebung abzusehen, nicht ersichtlich seien. Ausreichende Ermessenserwägungen können daraus aber nicht abgeleitet werden.
Gemäß § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X muss die Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. In den Ausgangsbescheiden hat die Beklagte den Text des § 76 Abs. 1 SGB IV wiederholt, der die rechtzeitige und vollständige Beitragserhebung vorschreibt. Für die im Ausgangsbescheid weiter ausgeführte Option des Verzichts auf eine Nacherhebung, worauf die Beklagte - hilfsweise - abstellt, ist eine Ermächtigungsgrundlage nicht erkennbar. § 76 Abs. 2 SGB IV sieht lediglich die Stundung, Niederschlagung oder den Verzicht auf eine Forderung vor, also auf deren Geltendmachung gegenüber dem Schuldner. Auch § 168 Abs. 2 SGB VII regelt nicht den Verzicht auf eine Forderung, sondern die Möglichkeiten und Grenzen der Rücknahme eines Verwaltungsakts für die Vergangenheit. Erst nach einer wirksamen Rücknahme eines Verwaltungsaktes - hier nach § 168 Abs. 2 SGB VII und unter dessen Voraussetzungen- greift § 76 SGB IV ein, der die Modalitäten der Geltendmachung und des Einzugs von Forderungen regelt. Diese Systematik verkennt die Beklagte, wenn sie, wenn auch nur hilfsweise, darauf abstellt, durch die zitierten Formulierungen hätte sie von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht. Das in § 168 Abs. 2 SGB VII geforderte Ermessen bezieht sich nach dem Ausgeführten nämlich nicht auf die Modalitäten der Forderungseinziehung, sondern auf die - zeitlich und gedanklich davor liegende - Rücknahme eines Verwaltungsaktes. Deshalb kann auch aufgrund der Hilfserwägungen der Beklagten nicht von einer Ermessensausübung ausgegangen werden, so dass ein Ermessensnichtgebrauch vorliegt.
Keine andere Beurteilung der Rechtsfrage ist dadurch geboten, dass der Gesetzgeber am 26. Juni 2008 (Ausschussdrucksache 16 (11) 1055 ) § 168 Abs.2 SGB VII geändert und das Wort "darf" durch das Wort "ist" ersetzt und die Wörter "aufgehoben werden" durch "aufzuheben" ersetzt und zur Begründung ausgeführt hat, dass es sich bei der Änderung lediglich um eine Klarstellung handle. Unabhängig davon, ob die Begründung, die zur Änderung des § 168 Abs. 2 SGB VII gegeben ist, juristisch überzeugt, ist dem Willen des Gesetzgebers bei Einführung des § 168 Abs. 2 SGB VII (und nur darauf kommt es an) nicht zu entnehmen, dass er die im Bundestagsausschuss vertretene Auffassung ebenfalls geteilt hat.
Der Mangel ist auch nicht nach § 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB X (Begründung wird nachträglich gegeben) i.V.m. Abs. 2 durch die bis zur Entscheidung des Senats eingegangenen Schriftsätze der Beklagten geheilt, da mit dieser Heilungsvorschrift lediglich unzureichende Begründungen eines ansonsten rechtsfehlerfrei ergangenen Verwaltungsaktes nachgeholt werden können, nicht aber erstmalig Ermessenserwägungen angestellt werden können, die einen als gebundenen Verwaltungsakt erlassenen Bescheid zu einer Ermessensentscheidung machen würden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 197a Abs. 1 Satz 1 SGG, 154 Abs. 2, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
Login
BWB
Saved