L 1 KR 4/08

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 8 KR 537/07
Datum
-
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 4/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1937 geborene Kläger begehrt vom Beklagten, in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i. V. m. § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V festzulegen, dass die nicht verschreibungsfähigen und deshalb grundsätzlich von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossenen Arzneimittel "Thioctacid 600 HR" und "Milgamma mono 150" ausnahmsweise mit Begründung vom Vertragsarzt bei seiner Art polyneuropathischer Erkrankung verordnet werden dürfen, weil sie bei der Behandlung dieser seines Erachtens schwer wiegenden Erkrankung als Therapiestandard gälten.

Nachdem der u. a. an Polyneuropathie leidende - multimorbide - Kläger mit seinem Begehren, von der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK), seiner (damaligen) Krankenkasse, Kostenerstattung beziehungsweise Kostenübernahme für diese - ihm vom Arzt Dr. S. verordneten - Arzneimittel zu erreichen, sowohl im Eilverfahren (S 32 KR 623/06 ER; L 1 B 461/06 ER KR) als auch im Hauptsacheverfahren (S 32 KR 739/06; L 1 KR 9/07; Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 14. Februar 2007; Urteil des Landessozialgerichts vom 30. Mai 2007) gescheitert war, hat er, noch bevor das Bundessozialgericht (BSG) durch Beschluss 19. September 2007 seine Nichtzulassungsbeschwerde verwarf (B 1 KR 104/07 B), am 27. August 2007 Klage gegen den Gemeinsamen Bundesausschuss – Beklagter – erhoben.

Er begehrt vom Beklagten, durch eine entsprechende Aufnahme der genannten Arzneimittel als verordnungsfähige Medikamente zur Anwendung bei Polyneuropathie in die Arzneimittel-Richtlinien (AMR) – vgl. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V i. V. m. § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V eine Versorgungslücke zu schließen, die bei Anwendung des geltenden Rechts für die bei ihm vorliegende Erscheinungsform der Polyneuropathie, die nicht durch Diabetes hervorgerufen sei, bestehe. Diese Lücke offenbare sich dadurch, dass zugelassene, verordnungspflichtige und geeignete Medikamente gegen seine Krankheit nicht vorhanden seien, die geeigneten Medikamente Thioctacid (Wirkstoff Alphalipon-Säure) und Milgamma Mono (Wirkstoff Benfotiamin), weil sie mangels giftiger Nebenwirkungen nicht verordnungspflichtig seien, aber von ihm selbst bezahlt werden müssten. Hierzu hat der Kläger verschiedene schriftliche Ausführungen des Arztes Dr. S. eingereicht, die bereits in dem Verfahren S 32 KR 739/06 bzw. L 1 KR 9/07 vorgelegen haben.

Das Sozialgericht hat die Klage nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 4. Januar 2008 abgewiesen. Sie sei unzulässig, weil es bereits an der Klagebefugnis fehle. Der Kläger sei durch die Unterlassung des Beklagten, sich entsprechend seinem Begehren zu verhalten, nicht unmittelbar beschwert. Das werde er erst durch eine die Richtlinien des Beklagten umsetzende Verwaltungsentscheidung seiner Krankenkasse. Gegen die Entscheidung der DAK (Bescheid vom 24. Januar 2006, Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2006) habe er aber schon - wenn auch erfolglos - das Verfahren S 32 KR 739/06/L 1 KR 9/07 betrieben. Damit sei seinem Interesse an einer gerichtlichen Sachentscheidung hinreichend Rechnung getragen. Der rechtskräftigen Entscheidung in jenem Verfahren könne der Kläger nicht dadurch entgegen wirken, dass er mit demselben Ziel nun seine Klage gegen den Gemeinsamen Bundesausschuss richte.

Das Sozialgericht hat sich bei seiner Entscheidung auf den Beschluss des BSG vom 29. April 2005 – B 6 KA 1/05 BH – gestützt.

Hiergegen richtet sich die am 10. Januar 2008 eingelegte Berufung des Klägers. Der Senat hat seinen Antrag vom 21. Januar 2008, ihm Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen, mangels hinreichender Erfolgsaussicht des Rechtsmittels durch Beschluss vom 18. April 2008 abgelehnt.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 4. Januar 2008 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, in seinen Richtlinien festzulegen, dass die nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel Thioctacid 600 HR und Milgamma mono 150 zur Anwendung bei seiner polyneuropathischen Erkrankung ausnahmsweise vertragsärztlich verordnet werden dürfen.

Der Beklagte beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Ergänzend wird auf den Inhalt der Prozessakten einschließlich PKH-Akten und der Gerichtsakten S 32 KR 739/06/L 1 KR 9/07 Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat ist für die Entscheidung über die Berufung des Klägers gegen den angefochtenen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 4. Januar 2008 zuständig. Dass § 29 Abs. 4 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444) nunmehr u. a. für Klagen gegen Entscheidungen und Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (§§ 91, 92 SGB V) regelt, dass das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg darüber im ersten Rechtszug entscheidet, ändert daran nichts. Denn auf die instanzliche und örtliche Zuständigkeit für vor Inkrafttreten dieser Gesetzesänderung (1. April 2008) anhängige Klageverfahren wirkt sich die Änderung in der Zuständigkeit nicht aus (Grundsatz der perpetuatio fori, § 98 SGG i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes ( GVG ), vgl. BT-Drucks. 16/7716, S. 16).

Der Senat konnte trotz des Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 30. April 2008 den Rechtsstreit entscheiden, weil der Kläger mit der ihm am 10. April 2008 zugestellten Terminsmitteilung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle seines Ausbleibens entschieden werden kann (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ( SGG )).

Die form- und fristgerechte und auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 143, 151 SGG) ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 4. Januar 2008 zu Recht als unzulässig abgewiesen. Dem Kläger steht als Versichertem einer Krankenkasse kein unmittelbares Klagerecht gegenüber dem beklagten Gemeinsamen Bundesausschuss zu, kraft dessen er von dem Beklagten verlangen könnte, dass dieser gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V – wonach der Gemeinsame Bundesausschuss u. a. insbesondere Richtlinien beschließen soll über die Verordnung von Arzneimitteln – festlegt, dass bestimmte nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, wie Thioctacid 600 HR und Milgamma mono 150, die nach Auffassung des Klägers bei der Behandlung seiner Polyneuropathie, die eine schwer wiegende Erkrankung darstelle, als Therapiestandard gälten, zur Anwendung bei dieser Erkrankung mit Begründung vom Vertragsarzt ausnahmsweise verordnet werden können.

Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt nach § 92 Abs. 1 Satz 1 Halbsätze 1 und 3 SGB V die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten; er kann dabei die Erbringung und Verordnung von Leistungen einschließlich Arzneimittel oder Maßnahmen einschränken oder ausschließen, wenn nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind sowie wenn insbesondere ein Arzneimittel unzweckmäßig oder eine andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem diagnostischem oder therapeutischem Nutzen verfügbar ist. Die Richtlinien des Beklagten, die dieser auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V i. V. m. § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 SGB V erlässt, sind Rechtsnormen. Rechtsnormen oder die Verpflichtung des Normgebers, Normen mit einem bestimmten Inhalt zu erlassen, können nur in Ausnahmefällen zum Gegenstand von Klageverfahren gemacht werden (BSG v. 28. Juni 2000 – B 6 KA 26/99 R, BSGE 86,223, 225f = SozR 3-2500 § 138 Nr. 1, S. 3f; BSG v. 29. April 2005 – B 6 KA 1/05 BH, nicht veröffentlicht). In der Regel können Rechtsnormen, weil das SGG eine Normenkontrollklage, wie sie § 47 Verwaltungsgerichtsordnung enthält, nicht kennt, nur inzidenter im Rahmen von Anfechtungsklagen gegen Verwaltungsakte der Krankenkassen, die auf ihnen beruhen, überprüft werden (vgl. hierzu auch BSG v. 28. Februar 2008 – B 1 KR 16/07 R ( Lorenzos Öl ), juris: kein unmittelbares Klagerecht von Versicherten und Krankenkassen gegen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, die diesem im Wege der Ersatzvornahme ministeriell auferlegt werden).

Zwar können Pharmazeutische Unternehmen nach § 34 Abs. 6 Sätze 1 und 2 SGB V i. d. F. des Art. 1 GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl. I S. 378) beim Gemeinsamen Bundesausschuss Anträge zur Aufnahme von Arzneimitteln in die Zusammenstellung nach § 34 Abs. 1 Satz 2 und 4 SGB V stellen (hiernach hat der Gemeinsame Bundesausschuss auf der Grundlage der Richtlinie nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V dafür Sorge zu tragen, dass eine Zusammenstellung der verordnungsfähigen Fertigarzneimittel erstellt, regelmäßig aktualisiert wird und im Internet abruffähig sowie in elektronisch weiterverarbeitbarer Form zur Verfügung steht). Auch ist gemäß § 92 Abs. 3a SGB V vor der Entscheidung über die Richtlinien zur Verordnung von Arzneimitteln nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V den für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildeten maßgeblichen Spitzenorganisationen der pharmazeutischen Unternehmer und der Apotheker sowie den maßgeblichen Dachverbänden der Ärztegesellschaften der besonderen Therapierichtungen auf Bundesebene Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und sind die Stellungnahmen in die Entscheidung einzubeziehen. Zudem bestimmt § 92 Abs. 3 Sätze 1 bis 3 SGB V, dass für Klagen gegen die Zusammenstellung der Arzneimittel nach § 92 Abs. 2 SGB V die Vorschriften über die Anfechtungsklage entsprechend gelten, die Klagen keine aufschiebende Wirkung haben und ein Vorverfahren nicht stattfindet. § 92 Abs. 3 Satz 4 SGB V ergänzt, dass eine gesonderte Klage gegen die Gliederung nach Indikationsgebieten oder Stoffgruppen nach § 92 Abs. 2 Satz 2 SGB V, die Zusammenstellung der Arzneimittel in Gruppen nach § 92 Abs. 2 Satz 4 SGB V oder gegen sonstige Bestandteile der Zusammenstellung nach § 92 Abs. 2 SGB V unzulässig sind.

Aus diesen Bestimmungen kann der Kläger aber nicht mit Erfolg eine Befugnis herleiten, den Beklagten darauf in Anspruch zu nehmen, dass dieser in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V festlege, dass die hier in Rede stehenden nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel zur Anwendung bei seiner Form von Polyneuropathie (bzw. einem systemischen Lupus erythematodes) verordnet werden dürfen. In den Konstellationen, in denen das SGB V unmittelbare Klagemöglichkeiten gegen Entscheidungen und Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses eröffnet, geht es u. a. um die Zusammenstellung von Arzneimitteln, für die Festbeträge festgesetzt worden sind (§ 92 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 92 Abs. 3 SGB V), bzw. um die Festsetzung der Festbeträge für Arzneimittel bzw. Hilfsmittel selbst (vgl. § 35 Abs. 7 SGB V, § 36 Abs. 3 SGB V). In diesen Fällen wird die entsprechende Geltung der Vorschriften über die Anfechtungsklage angeordnet, weil die Zusammenstellung bzw. die Festsetzung der Festbeträge keine Verwaltungsakte, sondern Teil der dem Gemeinsamen Bundesausschuss beim Erlass der Arzneimittelrichtlinien (AMR) oder den Spitzenverbänden der Krankenkassen bei der Festsetzung einheitlicher Festbeträge für bestimmte Hilfsmittel obliegenden Normsetzung sind (vgl. BT-Drucks. 16/7716, S. 16). Weitergehende Klagemöglichkeiten eröffnet - wie ausgeführt - § 34 Abs. 6 SGB V. Danach besteht eine unmittelbare Klagemöglichkeit für die antragstellenden Unternehmen.

Über die gesetzlich geregelten Fälle hinaus lässt die Rechtsprechung des BSG unter bestimmten Voraussetzungen zwar ausnahmsweise auch Klagen unmittelbar gegen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zu, obwohl das SGG eine § 47 VwGO entsprechende Vorschrift nicht kennt. Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit solcher im Rahmen der Feststellungsklage (§ 55 SGG) geführten Rechtsstreite sind im Urteil des BSG vom 31. Mai 2006 (B 6 KA 13/05 R, BSGE 96, 261 = SozR 4-2500 § 92 Nr. 5) im Einzelnen dargestellt. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Januar 2006 (1 BvR 541/02, 542/02, BVerfGE 115, 81 = SozR 4-1500 § 55 Nr. 3) verdeutlicht in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer fachgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeit gegen untergesetzliche Rechtssätze. Hiernach wird die Reichweite der Normenkontrollmöglichkeit durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) bestimmt (vgl. BT-Drucks. 16/7716, S. 16). Im Falle des Klägers ist eine entsprechende Anwendung von § 55 SGG aus Gründen der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aber nicht angebracht, weil er kein Interesse an der baldigen Feststellung hat. Dem Kläger ist Rechtsschutz bereits im Verfahren gegen die Deutsche Angestellten Krankenkasse (S 32 KR 739/06; L 1 KR 9/07) gewährt worden. Obwohl seine Klage nunmehr gegen den Gemeinsamen Bundesausschuss, also gegen einen anderen Beklagten und (formal) auf ein anderes Klagziel gerichtet ist, so dass ihm im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung der Klage die Bestandskraft des Urteils des Senats vom 30. Mai 2007 (L 1 KR 9/07) nicht entgegengehalten werden kann, ist sie doch unzulässig, weil einer der oben genannten Ausnahmefälle nicht vorliegt. Art. 19 Abs. 4 GG gebietet nämlich in seinem Falle nicht, ihm die unmittelbare Klagemöglichkeit gegen Richtlinien des Beklagten zu eröffnen.

Nach alledem ist die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegt nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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