S 119 AS 23189/08 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
119
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 119 AS 23189/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Sozialgericht Berlin Invalidenstraße 52

10557 Berlin

Az.: S 119 AS 23189/08 ER

Beschluss In dem Verfahren

- Antragsteller -

Prozessbevollmächtigter:

gegen

JobCenter Reinickendorf, Miraustr. 54, 13509 Berlin, - Antragsgegner -

hat die 119. Kammer des Sozialgerichts Berlin am 9. September 2008 durch die Richterin am Sozialgericht Roesler beschlossen:
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 22. August 2008 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2008 wird angeordnet. Soweit dieser Bescheid bereits vollzogen ist, wird die Aufhebung der Vollziehung angeordnet. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt M A, K ... Straße , B, bewilligt.

Gründe:

I.

Der 1971 geborene Antragsteller bezieht seit dem 01. Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Zuvor bezog er Sozialhilfe und Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Der Antragsteller hat eine Lese- und Rechtschreib- sowie eine Sehschwäche. Es besteht eine Alkoholabhängigkeit. Der Antragsteller lebt in einer rund 43 m² großen Wohnung in R. Seine drei Kinder leben bei ihren Müttern. Eine Einzelfallhelferin unterstützt den Antragsteller bei Behördengängen und der Erstellung von Bewerbungen. Zeiten längerer Erwerbstätigkeit lagen in den letzten Jahren nicht vor. Zuletzt war der Antragsteller im Jahr 2006 für einige Monate als Glas- und Gebäudereiniger beschäftigt.

Mit Sanktionsbescheid vom 11. April 2008 wurden die Leistungen an den Antragsteller im Zeitraum Mai bis Juli 2008 um 30 % abgesenkt. Zur Begründung wurde angeführt, der Antragsteller habe sich nicht um eine Arbeitsgelegenheit als Hilfsarbeiter bei der Firma A ... e.V. beworben. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

Unter Berücksichtigung der Absenkung gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller mit Bewilligungsbescheid vom 23. Mai 2008 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende für den Bewilligungszeitraum vom 01. Juli 2008 bis zum 31. Dezember 2008.

Im April 2008 unterbreitete der Antragsgegner dem Antragsteller mit Schreiben vom 15. April 2008 einen Vermittlungsvorschlag für eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung (MAE) als "Hilfsarbeiter ohne nähere Tätigkeitsangabe" bei der "C W- und A GmbH". Die Arbeitszeit sollte "30,0 Stunden/Woche, Teilzeit – flexibel" betragen. Die Tätigkeit war in einer Anlage näher beschrieben. Danach sollte sich die Maßnahme in drei Projekte - ein Bücherprojekt, ein Schulprojekt und ein PC-Projekt - aufteilen. Der Antragsteller bewarb sich nicht. Mit Schreiben vom 22. April 2008 kündigte der Antragsgegner dem Antragsteller daraufhin die Verhängung einer weiteren Sanktion an und gab ihm Gelegenheit, seine Bewerbung bei der "C GmbH" bis zum 30. April 2008 nachzuholen.

In einem Brief, der vom 01. Mai 2008 datierte und am 06. Mai 2008 bei dem Antragsgegner einging, erklärte der Antragsteller, den Brief des Antragsgegners erst am 30. April 2008 in seinem Briefkasten vorgefunden zu haben. Den Brief von "C ..." habe er erst am 29. April 2008 im Briefkasten gehabt. Er bitte um Einräumung einer weiteren Frist zur Bewerbung.

Mit Sanktionsbescheid vom 15. Juli 2008 teilte der Antragsgegner mit, dass die Leistungen des Antragstellers im Zeitraum vom 01. August bis zum 31. Oktober 2008 wegen einer wiederholten Pflichtverletzung um 60 %, mithin 211,- EUR monatlich, gekürzt würden.

Hiergegen erhob der Antragsteller fristgerecht Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 10. August 2008 zurückgewiesen wurde.

Bereits am 24. Juli 2008 hat der Antragsteller unter Bezugnahme auf den Sanktionsbescheid einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Am 07. August 2008 hat er beantragt, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Sanktionsbescheid anzuordnen. Am 22. August 2008 hat er Klage gegen den Sanktionsbescheid in der Gestalt des inzwischen ergangenen Widerspruchsbescheides erhoben. Zur Begründung hat er unter anderem angeführt, das vom Antragsgegner unterbreitete Vermittlungsangebot sei nicht hinreichend bestimmt. Auch sei die Arbeitsgelegenheit nicht dazu geeignet, ihn in das Arbeitsleben einzugliedern. Zudem sei der zeitliche Umfang der Tätigkeit mit 30 Wochenstunden unangemessen.

Er beantragt sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung der Klage vom 22. August 2008 gegen den Sanktionsbescheid des Antragsgegners vom 15. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2008 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er ist der Auffassung, dem Antragsteller sei die angebotene Tätigkeit auch dem zeitlichen Umfang nach zuzumuten gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 09. September 2008 verwiesen.

II.

Der Antrag ist in der Fassung des Schriftsatzes des Antragsteller-Bevollmächtigten vom 22. August 2008 zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

In der Hauptsache ist insoweit die Anfechtungsklage gegen den Sanktionsbescheid statthaft, weshalb sich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 86 b Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I, 444 – SGG -) richtet. Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 86 b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG ist die richtige Verfahrensart, weil nach § 39 Nr. 1 SGB II Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Verwaltungsakte, die über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheiden, keine aufschiebende Wirkung haben. Der Antragsteller erreicht mit einem solchen Antrag auch sein Rechtsschutzziel. Nach Suspendierung des Aufhebungsbescheides ist der Antragsgegner aus dem Bewilligungsbescheid vom 23. Mai 2008 unmittelbar wieder verpflichtet, die dort festgesetzten Leistungen zu erbringen. Mit dem Antrag kann ein Antrag auf Anordnung der Aufhebung der Vollziehung, hier durch Auszahlung der einbehaltenen Beträge, zulässig verbunden werden (§ 86 b Abs. 1 Satz 2 SGG).

Der Antrag ist auch begründet.

Das Sozialgericht kann auf Antrag gemäß § 86 b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung anordnen. Dabei ist das Interesse am Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes mit dem Interesse des Antragstellers an der Aussetzung des Vollzugs abzuwägen. Das Aussetzungsinteresse überwiegt stets, wenn sich der angefochtene Verwaltungsakt im Rahmen der im vorläufigen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig erweist oder zumindest ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestehen (vgl. zu diesem Maßstab § 80 Abs. 4 Satz 3 Verwaltungsgerichtsordnung), weil ein Interesse am Vollzug solcher Verwaltungsakte regelmäßig nicht besteht. Mithin kommt es auf die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage in der Hauptsache an.

Die Anwendung dieses Maßstabs ergibt, dass der auf eine Verletzung von § 31 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 c und Abs. 6 SGB II gestützte Sanktionsbescheid vom 15. Juli 2008 sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Hauptsacheverfahren insgesamt als rechtswidrig erweisen wird und das Aussetzungsinteresse daher überwiegt. Im vorliegenden Verfahren bestehen im Hinblick auf die Bestimmtheit der dem Antragsteller angebotenen Tätigkeit, auf die Geeignetheit der Maßnahme zur Eingliederung des Antragstellers in das Arbeitsleben und auf deren Zumutbarkeit in zeitlicher Hinsicht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Sanktionsbescheides.

Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 c SGB II wird das Arbeitslosengeld II unter Wegfall des Zuschlages nach § 24 SGB II in einer ersten Stufe um 30 vom Hundert der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung unter anderem dann abgesenkt, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, eine zumutbare Arbeitsgelegenheit aufzunehmen. Handelt es sich um eine wiederholte Pflichtverletzung, so wird nach § 31 Abs. 3 Satz 1 SGB II das Arbeitslosengeld II um 60 vom Hundert der maßgebenden Regelleistung gemindert. Die Verweigerung muss sich zunächst auf eine nach Beschäftigungsgeber, Ort, Art und Umfang hinreichend bestimmt bezeichnete Arbeit nach § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II beziehen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. März 2008 – L 10 B 445/08 AS ER, abrufbar unter juris, dort RN 9 m.w.N.).

Ein in diesem Sinn ausreichend bestimmtes Angebot liegt nicht vor. Aus dem Bestimmtheitserfordernis folgt, dass der SGB II-Träger selbst die Art und die Bedingungen für die angebotene Tätigkeit festlegen muss. Er darf dies nicht dem Maßnahmeträger überlassen (vgl. VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 18. Februar 2008 – S7 K 784/07 -, abrufbar unter juris, dort RN 38 m.w.N.), da die Arbeitsvermittlung eine hoheitliche Aufgabe ist. Der Anspruch auf Eingliederung besteht gegenüber dem Leistungs- und nicht gegenüber dem Maßnahmeträger. Nur der Leistungsträger kann aufgrund des im Rahmen der Arbeitsvermittlung erstellten Profils eines Arbeitssuchenden und der entwickelten Eingliederungsstrategie die Entscheidung darüber treffen, für welche Tätigkeit genau der Arbeitssuchende geeignet ist. Für eine Übertragung von Entscheidungsbefugnissen an den Maßnahmeträger ist eine gesetzliche Grundlage nicht vorhanden (vgl. LSG Berlin-Brandenburg a.a.O.). Bei der vorliegenden MAE standen drei verschiedene Tätigkeitsbereiche zur Auswahl (Bücherprojekt, Schulprojekt, PC-Projekt). Die Auswahl des genauen Einsatzbereiches des Antragstellers wäre dem Maßnahmeträger überlassen gewesen. Dies erscheint vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen als unzulässig.

Hinzu kommt, dass der dem Antragsteller unterbreitete Vermittlungsvorschlag keinen Bezug zu den Vereinbarungen in der Eingliederungsvereinbarung vom 04. Februar 2008 erkennen lässt. Diese sah nämlich lediglich die Teilnahme des Antragstellers an einem "SWL-Projekt Soziale Stabilisierung" für 4 Stunden täglich vor. Weitere Vereinbarungen zwischen Antragsteller und Antragsgegner wurden nicht getroffen.

Zweifel an der Zumutbarkeit der angebotenen Tätigkeit bestehen auch vor dem Hintergrund, dass es sich nach der gesetzgeberischen Konzeption bei einer MAE um ein Instrumentarium handelt, das nur Ersatzfunktion hat und dessen Einsatz erst dann zu erwägen ist, wenn eine Eingliederung in reguläre versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse des ersten Arbeitsmarktes, hilfsweise in Beschäftigungsverhältnisse des sog. "Zweiten Arbeitsmarktes" (ABM), aus objektiven oder subjektiven, d.h. in der Person des Arbeitssuchenden liegenden Gründen, nicht gelingt (vg. Niewald in Münder, SGB II, 2. Aufl. 2007, § 16 RN 31). Es müsste daher erkennbar sein, dass der Antragsgegner von einer mangelnden Vermittelbarkeit des Antragstellers auf dem ersten Arbeitsmarkt ausging. Auch insoweit gibt die Eingliederungsvereinbarung keinen Aufschluss. Ebenso wenig ist ihr eine Vermittlungsstrategie in dem Sinne, den Antragsteller durch individuell auf ihn zugeschnittene Maßnahmen besser auf Tätigkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten, zu entnehmen.

Die angebotene Tätigkeit begegnet weiter Zweifeln im Hinblick auf ihren zeitlichen Umfang. Ob eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung bei einer Arbeitszeit von 30 Wochenstunden zuzüglich Wegezeiten generell unzumutbar ist (so LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18. März 2008 – L 3 AS 127/07 -; vgl. auch Bayerisches LSG, Urteil vom 29. Juni 2007 – L 7 AS 199/06 -, beide abrufbar unter juris), kann vorliegend dahinstehen (vgl. insoweit das beim Bundessozialgericht anhängige Verfahrens B 4 AS 60/07 R, in dem es um diese Frage geht). Denn im konkreten Fall ist zu sehen, dass aufgrund der Lern- und Sehbehinderung des Antragstellers und seiner Suchterkrankung erhebliche Bedenken daran bestehen, ob sein derzeitiges Leistungsvermögen dazu ausreicht, eine Tätigkeit im Umfang von 30 Wochenstunden zu bewältigen. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsgegner selbst von einer geringeren Belastungsfähigkeit des Antragstellers ausgeht, da er ihm in der Eingliederungsvereinbarung lediglich die "zuverlässige Teilnahme am SWL-Projekt )Soziale Stabilisierung(" an 4 Stunden täglich auferlegte. Im Erörterungstermin ergab sich weiter, dass der Antragsteller nach Absprache mit seiner Arbeitsvermittlerin derzeit eine MAE absolviert, die auch nur an vier Stunden pro Tag zu besuchen ist. Vor diesem Hintergrund bestehen jedenfalls erhebliche Zweifel an der derzeitigen Eignung des Antragstellers für eine MAE mit einem Umfang von 30 Wochenstunden.

Die vorstehend genannten Unklarheiten gehen zu Lasten des für die Sanktionsentscheidung zuständigen Grundsicherungsträgers (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Februar 2007 – L 28 B 166/07 AS ER). Bereits aus diesem Grund war dem Antrag stattzugeben, ohne dass es darauf ankam, ob tatsächlich eine wiederholte Pflichtverletzung vorlag, ob dem Vermittlungsvorschlag eine Rechtsmittelbelehrung beilag und ob der Antragsteller das Angebot unter Umständen früher als behauptet erhielt. Allerdings ist dem Antragsgegner darin beizupflichten, dass der Antragsteller im Umgang mit seiner Post offenbar die erforderliche Sorgfalt vermissen lässt. So gab er im Erörterungstermin an, seinen Briefkasten nur etwa zweimal wöchentlich zu leeren. Er ist daher im Termin mehrfach darauf hingewiesen worden, dass er Sorge für die regelmäßige Leerung seines Briefkastens zu tragen hat und sich bei Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich behördlicher Schreiben an seine Einzelfallhelferin zu wenden hat.

Die Aufhebung der Vollziehung des Aufhebungsbescheides durch Anordnung der Auszahlung beruht auf § 86 b Abs. 1 Satz 2 SGG. Angesichts der Absenkung des Arbeitslosengeldes um 60 vom Hundert sieht die Kammer keine weitere Begründungsnotwendigkeit hinsichtlich der Eilbedürftigkeit des Antrages. Soweit der Antragsgegner bereits Sachleistungen an den Antragsteller erbracht hat, steht es ihm frei, diese mit dem Arbeitslosengeld II-Anspruch des Antragstellers zu verrechnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt maßgeblich das Obsiegen des Antragstellers.

Dem Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt A war stattzugeben, weil das von dem Antragsteller verfolgte Begehren die gemäß § 73 a SGG in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht hat.
Rechtskraft
Aus
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