L 9 AL 23/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 5 AL 1259/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AL 23/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers hin werden das Urteil des Sozialgerichts München vom 16.11.2004 sowie der Bescheid der Beklagten vom 11.07.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2001 aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Teilrücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld und die Erstattung von Leistungen.

Der 1980 geborene Kläger schloss im Januar 2000 eine Lehre als Chemiefacharbeiter ab. Am 17.01.2000 meldete er sich mit Wirkung zum 28.01.2000 bei der Dienststelle A. des Arbeitsamts P. arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Er bestätigte unterschriftlich, das Merkblatt 1 für Arbeitslose erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. In der von seinem Lehrherrn ausgestellten Arbeitsbescheinigung waren Angaben zur Ausbildungsvergütung von Dezember 1998 bis einschließlich Januar 2000 eingetragen. Mit einigen Unregelmäßigkeiten wegen Tariferhöhungen und Beginn eines neuen Lehrjahres war daraus eine Normal-Ausbildungsvergütung von Februar 1999 bis August 1999 zwischen 1.400,00 und 1.500,00 DM brutto sowie ab September 1999 von knapp 2.200,00 DM brutto monatlich zu sehen.

Für die Bemessung des Arbeitslosengeldese von Arbeitslosen, die gerade die Abschlussprüfung einer Berufsausbildung bestanden haben, hat der Gesetzgeber allerdings eine Sonderbestimmung getroffen. Nach § 134 Abs.2 Nr.2 ist als Bemessungsentgelt zu Grunde zu legen "für Zeiten einer Beschäftigung zur Berufsausbildung, wenn der Arbeitslose die Abschlussprüfung bestanden hat, die Hälfte des tariflichen Arbeitsentgelts derjenigen Beschäftigung, auf die das Arbeitsamt die Vermittlungsbemühungen für den Arbeitslosen in erster Linie zu erstrecken hat, mindestens das Arbeitsentgelt der Beschäftigung zur Berufsausbildung".

Maßgebliches Arbeitsentgelt war danach nach Erkenntnis des zuständigen Arbeitsberaters das Entgelt der Entgeltgruppe 6 für die Arbeitnehmer der chemischen Industrie im Freistaat Bayern, welches nach der ab 01.07.1999 maßgeblichen Entgelttafel für Vollzeitbeschäftigte im Monat 3.605,00 DM betrug (TR-11-100 ab135). Dieser trug die Hälfte hiervon, nämlich den Betrag von 1.802,50 DM, statt diesen zunächst in das eigentliche, nämlich das wöchentliche "Bemessungsentgelt" (§ 132 SGB III) umzurechnen, versehentlich als solchen in die dafür auf dem Verfügungsbogen vorgesehene Rubrik ein. Auf diese Weise wurde dem Kläger mit Bescheid vom 01.03.2000 ab 28.01.2000 das sich danach in der für den (kinderlosen) Kläger nach Familienstand und Steuerklasse (I) maßgeblichen Leistungsgruppe entsprechend dem für ihn maßgeblichen Leistungsprozentsatz errechnende wöchentliche Arbeitslosengeld (Alg) von 545,44 DM wöchentlich bewilligt. Mit Bescheid vom 26.07.2000 wurde der wöchentliche Leistungssatz in Ausführung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 24.05.2000 zur Behandlung von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt nach § 434c Abs.1 SGB III unter Zugrundelegung eines um 10 % auf 1.980,00 DM wöchentlich erhöhten Bemessungsentgelts auf 584,78 DM angehoben.

Ab 02.11.2000 leistete der Kläger Zivildienst.

Unter dem Datum des 05.03.2001 ist in den Akten festgestellt, dass dem Kläger wegen versehentlichen Unterlassens der Umrechnung des Monatsentgelts von gerundet 1.800,00 DM auf das wöchentliche Bemessungsentgelt von 420,00 DM (ab 22.06.2000 460,00 DM), in der Zeit vom 28.01.2000 bis 21.06.2000 wöchentlich statt bloß zustehenden Arbeitslosengeldes von wöchentlich 195,30 DM wöchentlich 545,92 DM und vom 22.06.2000 bis 01.11.2000 statt zustehender 209,09 DM wöchentlich 584,78 DM wöchentlich geleistet worden seien. Dies mache im Zeitraum vom 28.01. bis 21.06.2000 eine kalendertägliche Differenz von 50,08 DM, mit 146 Kalendertagen malgenommen eine Differenz von 7.312,93 DM, für den Zeitraum vom 22.06.2000 bis 01.11.2000 eine tägliche Differenz von 53,67 DM, mit 133 Kalendertagen eine Differenz von 7.138,11 DM, zusammengenommen eine Überzahlung von 14.451,04 DM.

Mit Schreiben vom 06.03.2001 wurde der Kläger zu der eingetretenen Überzahlung angehört. Zwar habe er die Überzahlung nicht verursacht. Er habe jedoch erkennen können, dass die Voraussetzungen für Leistungen in dieser Höhe nicht gegeben gewesen seien. Zumindest habe ihm auffallen müssen, dass er mehr Alg erhalte als ihm vor Abschluss der Ausbildung an Bruttolohn gezahlt worden sei. Dies hätte Anlass sein müssen, die Richtigkeit des Bewilligungsbescheides anzuzweifeln und zu überprüfen.

Der Kläger bestritt, dass er die Überzahlung hätte erkennen können. Sonst hätte er die Bestätigung für seinen Lohnsteuerjahresausgleich wahrscheinlich nicht vom Arbeitsamt verlangt, wodurch die Überzahlung erst bekannt geworden sei. Er habe die Prüfung zum Chemikanten bestanden und sei Chemiefacharbeiter. Aus diesem Grunde sei er davon ausgegangen, dass sich die Berechnung des Alg nach einem Facharbeitereinkommen richte. Er habe zum ersten Mal Alg bezogen und geglaubt, dass die Berechnungen des Amtes richtig seien. Im Übrigen sei es ihm nicht möglich, irgendwelche Beträge zurückzuzahlen.

Mit Bescheid vom 11.02.2001 nahm das Arbeitsamt die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 28.01.2000 bis 01.11.2000 teilweise - in Höhe von insgesamt 14.451,04 DM - zurück und ordnete die Erstattung des überzahlten Betrages an. Wie sich aus den Bemessungsvorschriften der §§ 130, 132 und 134 SGB III ergebe, habe der Kläger im Zeitraum vom 28.01.2000 bis 01.11.2000 Alg in dieser Höhe zu Unrecht erhalten. Nach § 45 Abs.2 Satz 2 Nr.3 SGB X i.V.m. § 330 Abs.2 SGB III habe er die Teilrücknahme der Bewilligung hinzunehmen und die Überzahlung zu erstatten. Seine Stellungnahme entkräfte nicht den Vorwurf, dass er den offensichtlichen Fehler in der Höhe der Bewilligung habe erkennen können. Er gebe an, davon ausgegangen zu sein, Alg nach einem Facharbeiterlohn zu erhalten. Bei dieser Überlegung hätte er einen Facharbeiterlohn von monatlich 7.810,83 DM zu Grunde gelegt, der im ersten Jahr nach der Ausbildung keinesfalls erzielbar sei. Er hätte zumindest nachfragen müssen, ob der Bescheid in dieser Höhe richtig sei.

In seinem Widerspruch gab der Kläger nochmals zu bedenken, dass er angenommen habe, dass sich die Berechnung des Alg nach einem Facharbeitereinkommen richte. Er habe zum ersten Mal Alg bezogen und geglaubt, dass die Berechnungen des Amtes richtig seien, zumal dann auch noch eine Anpassung vorgenommen worden sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13.08.2001 als unbegründet zurück. Der Widerspruchsführer habe bei der Lektüre des Merkblattes für Arbeitslose, welches er erhalten habe, auch ohne besondere Rechtskenntnisse erkennen können, dass die Höhe des Alg nicht richtig sein könne, zumal dieses höher gewesen sei als das zuletzt erzielte Bruttoeinkommen.

Der Kläger erhob dagegen, vertreten durch Rechtsanwalt Dr.K. aus B. , Klage zum Sozialgericht (SG) München.

Der Klägerbevollmächtigte trug vor, dass der Kläger nicht nur von sich aus der Meinung gewesen sei, sondern ihm auch gesagt worden sei, dass er Alg auf der Grundlage des Facharbeiterlohnes erhalten werde. Die Berechnungsweise des Alg sei ihm nicht bekannt gewesen. Daher habe er sich auch keine Gedanken darüber gemacht und nicht darüber machen müssen, ob das wöchentliche Alg in Höhe von 545,92 DM, welches einem monatlichen Bezug von 2.365,65 DM entspreche, richtig errechnet gewesen sei oder nicht. Er habe insoweit auf die Fachkunde des Arbeitsamtes vertrauen dürfen.

Die Beklagte räumte in der Klageerwiderung ein, dass weder aus den Antragsunterlagen noch aus dem - dem SG vorgelegten - Merkblatt für Arbeitslose die genaue Bemessung entnommen werden könne. Das Merkblatt weise lediglich darauf hin, dass es für die Bemessung des Arbeitslosengeldes für die Zeit nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung Sondervorschriften gebe. Allerdings hätte der Kläger bei einfachsten Überlegungen feststellen müssen, dass ihm die gezahlte Leistung nicht zustehen könne. Er selbst gebe an, er sei der Meinung gewesen, dass er das Alg auf der Grundlage des Facharbeiterlohnes erhalten werde. Ihm habe klar sein müssen, dass er niemals im ersten Berufsjahr nach der Ausbildung einen Bruttolohn von nahezu 8.000,00 DM monatlich erhalten könne. Das im Bewilligungsbescheid zu Grunde gelegte Arbeitsentgelt, nämlich 1.800,00 DM wöchentlich, ergebe aber bereits bloß überschlägig mit 4 vervielfacht ein Arbeitsentgelt von über 7.000,00 DM brutto monatlich. Soweit der Kläger angebe, ihm sei von einem Bediensteten des Arbeitsamtes mitgeteilt worden, dass Grundlage für die Bemessung der (zu erzielende) Facharbeiterlohn sei, wüssten die damit betrauteten Bediensteten genau, dass bei einer abgeschlossenen Berufsausbildung von der Hälfte des erzielbaren Arbeitsentgelts auszugehen sei. Der Bewilligungsbescheid zeige an, dass der Leistungssatz auf 60 % festgesetzt gewesen sei. 60 % eines pauschalierten Nettoentgelts könnten keinesfalls zu einem Nettoarbeitsentgelt führen, welches der Kläger bei realistischer Betrachtungsweise nach der Ausbildung hätte erzielen können. Rechnerisch hochgerechnet hätte dies ein Nettoarbeitsentgelt von über 3.900,00 monatlich ergeben.

Dem legte die Beklagte einen Auszug aus dem Merkblatt für Arbeitslose bei. Darin heißt es: "Das wöchentliche Bemessungsentgelt, die Leistungsgruppe, die maßgebende Leistungstabelle und den wöchentlichen Leistungssatz finden Sie auf dem Bewilligungsbescheid. Anhand der im Arbeitsamt aushängenden Leistungstabellen können Sie sich von der Richtigkeit des bewilligten Leistungssatzes überzeugen. Sie können die Höhe ihrer Leistung nicht selbst errechnen, indem Sie zum Beispiel von ihrem letzten Nettoarbeitsentgelt ausgehen. Das Nettoarbeitsentgelt wird pauschaliert, zum Beispiel ohne individuelle Steuerfreibeträge, errechnet.

Für die Bemessung des Arbeitslosengeldes gibt es eine Fülle von Sondervorschriften, zum Beispiel ... für die Zeit einer abgeschlossenen Berufsausbildung (ehemals Auszubildende), ...".

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers entgegnete dem, dass die Plausibilitätsberechnung der Beklagten nicht deutlich mache, weshalb der Kläger auf die dortgenannten Zahlen hätte kommen und das Alg auf diese Zahlen hätte zurückrechnen können und müssen.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 16.11.2004 als unbegründet abgewiesen. Es hat sich, im Übrigen auf § 136 Abs.3 SGG hinweisend, auf Ausführungen zum Vertrauensschutz beschränkt.

Aus dem Merkblatt für Arbeitslose, dessen Erhalt und Kenntnisnahme der Kläger unterschriftlich bestätigt habe, ergebe sich in einem Berechnungsbeispiel eindeutig, dass auf eine wöchentliche Bemessungsentgeltgrundlage abgestellt werde. Im Bewilligungsbescheid vom 01.03.2000 zeige sich aber eindeutig, dass die Beklagte als wöchentliches Bemessungsentgelt 1.802,50 DM zu Grunde gelegt habe; dies ergäbe einen monatlichen Lohn von 7.810,83 DM brutto. Auch bei einfachsten Überlegungen habe dem Kläger auffallen müssen, dass dies einem Facharbeiterlohn im ersten Berufsjahr nicht entsprechen könne. Dass der Kläger die Höhe des bewilligten Alg voll zur Kenntnis genommen habe und sich dabei als Grundlage an einem Facharbeiterlohn orientiert habe, gehe aus dem eigenen Vortrag des Klägers hervor. Somit habe er auch erkennen müssen, dass die ihm bewilligte Lohnersatzleistung offensichtlich außer Verhältnis zu dem zu Grunde liegenden Arbeitsentgelt stehe, was für ihn zumindest hätte Anlass sein müssen, beim Arbeitsamt nachzufragen. Zwar könne ein Antragsteller grundsätzlich davon ausgehen, dass eine Fachbehörde nach den leistungserheblichen Tatsachen frage und seine seine Angaben zutreffend umsetze. Andererseits sei auch jedem Bürger bewusst, dass besonders in einer Massenverwaltung Berechnungs- bzw. Übertragungsfehler vorkommen könnten.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers trägt im Berufungsverfahren vor: Für den Kläger habe die bewilligte Lohnersatzleis-tung keineswegs offensichtlich außer Verhältnis zu einem zu Grunde liegenden Facharbeiterlohn stehen müssen. Dies betreffe einmal die Höhe eines Facharbeiterlohns als solche. Der Kläger habe gerade erst seine Ausbildung beendet gehabt und noch keine Facharbeitervergütung erhalten. Im Übrigen würden in der Gegend, in der der Kläger beheimatet sei, im sog. "Chemiedreieck", zum Teil weit über durchschnittliche Löhne und Gehälter bezahlt, wobei dem Kläger nicht bekannt geweseb sei, in welcher Höhe sich die Entgelte bewegten. Der Kläger habe wegen Höhe des von der Arbeitsverwaltung zu Grunde gelegten eingesetzten Facharbeiterlohns als solchem auch keine besonderen Nachforschungen anstellen müssen, sondern darauf vertrauen dürfen, dass dieser von der Behörde zutreffend ermittelt worden sei. An der daraus letztlich abgeleiteten Höhe des Alg habe es aber keinen Zweifel geben können.

Der Kläger selbst gab in der mündlichen Verhandlung an: Er habe sich vorgestellt, dass das Alg sich an einem Facharbeiterlohn orientieren werde und dass ein solcher sich zwischen 3.600 und 3.800,00 DM monatlich bewege. In seinem Lehrbetrieb sei übertariflich bezahlt worden. Bei Erhalt des Bewilligungsbescheides habe er sich die wöchentliche Leistung angeschaut, den Betrag mit 4 multipliziert und sich gedacht, das komme schon hin. Er habe das Merkblatt für Arbeitslose schon einmal kurz durchgeblättert, habe aber nicht bei Erhalt des Bewilligungsbescheides versucht, die Berechnung des Alg mit Hilfe des Merkblattes nachzuvollziehen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgericht München vom 16.11.2004 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11.07.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2001 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre bisherigen Ausführungen und das Urteil erster Instanz.

Der Senat hat die Gerichtsakten erster Instanz und die Akten der Beklagten beigezogen. Darüber hinaus hat die Beklagte dem Senat Muster der im Jahr 2000 verwendeten Bewilligungs- und Änderungsbescheide überlassen. Zur Ergänzung des Tatbestandes im Einzelnen wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige, insbesondere statthafte und form- wie fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch begründet. Das Urteil des SG vom 16.11.2004 sowie der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 11.07.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2001 waren aufzuheben.

Rechtsgrundlage für die teilweise Rücknahme der Bewilligung des Alg für die Zeit vom 28.01.2000 bis 01.11.2000 ist § 45 SGB X i.V.m. § 330 Abs.2 SGB III.

Zwar sind die Voraussetzungen für eine (Teil-)Rücknahme der Bewilligung des Alg nach § 45 Abs.1 SGB X insoweit erfüllt, als die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 28.01.2000 bis 02.11.2000 Alg in Höhe von 14.451,04 DM zu viel bewilligt hat. Dies aufgrund eines Versehens im Zuge einer an sich ordnungsgemäßen Ermittlung des dem Kläger zustehenden Alg. Zur Anwendung kam § 134 Abs.2 Nr.2 SGB III. Danach war der Kläger nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung zum Chemiefacharbeiter nach dem maßgeblichen Bundesentgelttarifvertrag vom 18.07.1987 für die chemische Industrie in der Bundesrepublik und dem Land Berlin in Entgeltgruppe E6 einzuordnen (TR 11-100ab81 S1/88).: Das sind u.a. "Arbeitnehmer, die Tätigkeiten verrichten, für die Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind, die durch eine abgeschlossene mindestens dreijährige Berufsausbildung in einem nach dem Berufsbildungsgesetz anerkannten oder gleichgestellten Ausbildungsberuf erworben worden sind. Das Merkmal der abgeschlossenen Berufsausbildung wird erfüllt durch den erfolgreichen Abschluss z.B. einer Handwerkerausbildung sowie einer Ausbildung zum Kaufmann, Chemikanten, Pharmakanten oder Technischen Zeichner. Arbeitnehmer ohne eine derartige planmäßige Ausbildung, die auf Grund mehrjähriger Berufspraxis gleichwertige Kenntnisse und Fertigkeiten erworben haben und entsprechende Tätigkeiten ausüben". Dazu werden konkrete Beispiele von Tätigkeiten genannt. Das in der Gruppe E6 der chemischen Industrie zu erzielende Arbeitsentgelt betrug zum Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung des Klägers monatlich 3.605,00 DM brutto, wie vom Arbeitsamt ermittelt, die Hälfte davon 1.802,50 DM (was über dem durchschnittlich im Bemessungszeitraum in der Lehre erzielten Entgelt liegt).

Das sich aus dem nach § 134 Abs.2 Nr.2 SGB III monatlich zu Grunde zu legenden hälftigen Arbeitsentgelt von 1.802,50 DM entsprechend § 132 Abs.1 SGB III auf die Woche umzurechnende "eigentliche" Bemessungsentgelt hätte gerundet 420,00 DM wöchentlich betragen, was in Steuerklasse I ohne Kinder nach § 137 Abs.2 Nr.1 SGB III i.V.m. der Leistungsentgeltverordnung 2000 einen wöchentlichen Leistungssatz von 195,30 DM, bei Erhöhung des Bemessungsentgelts nach § 434c Abs.1 SGB III ab 22.06.2000 um 10 % aufgerundet wöchentlich 460,00 DM einen Leistungssatz von wöchentlich 209,09 DM. Infolge des Einsetzens des nicht weiter auf die Woche umgerechneten Betrages von 1.802,50 DM in die auf dem Verfügungsbogen für das Bemessungsentgelt vorgesehene Rubrik leistete die Beklagte dem Kläger hingegen vom 28.01.2000 bis 31.06.2000 wöchentlich 545,92 DM, vom 22.06.2000 bis 01.11.2000 584,78 DM. Daraus hat die Beklagte zutreffend errechnet, dass dem Kläger für den gesamten Zeitraum vom 28.01.2000 bis 01.11.2000 Alg in Höhe von ingesamt 14.451,04 DM nicht zustand.

Die Bewilligungszeiträume lagen jedoch in der Vergangenheit. Nach § 45 Abs.4 Satz 1 SGB X durfte die Beklagte, nachdem der Sonderfall eines Wiederaufnahmetatbestandes nach § 580 ZPO nicht vorliegt, die den Kläger begünstigenden Bescheide vom 01.03.2000 und vom 26.07.2000 nur unter den Voraussetzungen des § 45 Abs.2 Satz 3 SGB X teilweise zurücknehmen.

Nachdem der Kläger keine falschen Angaben gemacht hat, kommt als vertrauensschutzvernichtender Tatbestand nur § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.3 SGB X in Betracht. Danach kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt danach vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Dabei ist ein mögliches bewusstes Hinnehmen einer überhöhten Bewilligung durch den Kläger seitens der Beklagten zu Recht nicht zur Erörterung gestellt worden. So hat der Kläger z.B. wegen einer - unter dem Freibetrag liegenden - Nebentätigkeit im Mai 2000 beim Arbeitsamt nachgefragt bzw. durch seine Mutter nachfragen lassen. Entscheidend ist demnach, ob dem Kläger jedenfalls grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.3 SGB X vorzuwerfen ist.

Hierzu fasst das BSG im Urteil vom 08.02.2001 SozR 3-1300 § 45 Nr.45, die bisher entwickelten grundsätzlichen Maßstäbe wie auch einige gerade bei überhöhten Leistungsbewilligungen zu berücksichtigende Gesichtspunkte zusammen.

Die erforderliche Sorgfalt verletze danach derjenige in besonders schwerem Maße, der schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstelle und daher nicht beachte, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsse ... Dabei sei das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (BSG vom 08.02.2001 a.a.O. S.152 unten).

Anknüpfungspunkt für das BSG (a.a.O. S.153, 154) ist die in Rechtsprechung und Literatur entwickelte Pflicht der Beteiligten eines Sozialrechtsverhältnisses, "sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren". Dies schließe auch eine Obliegenheit des Leistungsempfängers ein, Bewilligungsbescheide zur Kenntnis zu nehmen und zu lesen. Wohl könne diesem nicht auferlegt werden, anhand der abstrakten Erläuterungen in den Merkblättern jeweils zu überprüfen, ob die Behörde seine ggf. wahrheitsgemäßen Angaben zutreffend umgesetzt habe. Jedoch könne sich auch für den mit einer bestimmten Rechtsmaterie nicht vertrauten Antragsteller aus dem Bescheid selbst ergeben, dass mit der Bewilligung etwas nicht in Ordnung sei. Hierbei stellt das BSG zwar insbesondere auf den begünstigenden Bescheid als Bezugspunkt für eine grob fahrlässige Nichterkenntnis ab. Allerdings könnten auch offenkundige Fehler im Bereich der dem Bescheid zu Grunde liegenden Tatsachenermittlung oder bei der Rechtsanwendung, wenn diese im Bescheid selbst zutage träten, sofern ein derartiger Fehler dem Leistungsempfänger nach seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten geradezu "in die Augen springe", Anlass für den Begüns-tigten sein, die Rechtmäßigkeit des Bescheides zu überprüfen oder wenigstens überprüfen zu lassen. Als Beispiele nennt das BSG, wenn die bewilligte Lohnersatzleistung offensichtlich außer Verhältnis zu dem zu Grunde liegenden Arbeitsentgelt stehe. Auch könne eine Bescheidbegründung, soweit sie den zu Grunde gelegten Sachverhalt wiedergebe, einen Antragsteller hinreichend darauf aufmerksam machen, dass mit der Bewilligung etwas nicht in Ordnung sein könne, wenn der zu Grunde gelegte Sachverhalt nicht den Tatsachen entspreche. Fehle es an derartigen offenkundigen Anhaltspunkten für eine Fehlerhaftigkeit von Bewilligungsbescheiden, so das BSG abschließend, habe der Leistungsempfänger keinen Anlass, die Bemessungsfaktoren anhand des auf der Rückseite der Bescheide mitgeteilten Schemas oder des Merkblatts zu überprüfen oder beim Arbeitsamt nachzufragen, um zwar erkennbare, aber nicht wahrgenommene Unstimmigkeiten aufzudecken. Dabei toleriert das BSG je nach den Umständen auch die bloße Zur Kenntnisnahme der "Zahlbeträge der Bewilligungsbescheide" (BSG vom 08.02.2001 a.a.O. S.154, 155).

Der Senat ist nach gründlichem Abwägen der o.g. Gesichtspunkte, in denen die bisherige Rechtsprechung des BSG, zum Teil auch des BVerwG zusammengefasst ist, zu dem Ergebnis gekommen, dass im Fall des Klägers die Grenze zur groben Fahrlässigkeit im Sinne von § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.3 SGB X noch nicht überschritten ist.

Das "In die Augen Springen" der Fehlerhaftigkeit einer Leis-tungsbewilligung kann nur durch ein offenkundiges und grobes Abweichen von etwas Erwartetem hervorgerufen werden. Beim Arbeitslosengeld als einer "Lohnersatzleistung" speist sich die Erwartung im allgemeinen Bewusstsein in aller Regel aus dem Vergleich mit dem zuvor bezogenen Arbeitsentgelt und der groben Vorstellung, dass die "Ersatzleistung" der Höhe nach darunter liegen werde, wobei Antragsteller, die bereits einmal Alg bezogen haben, sicherlich genauere Vorstellungen haben.

Der Fall des Klägers zeigt insofern eine Abweichung, als für den Kläger nach seinen Angaben - wie auch nach der objektiven Rechtslage -, nicht das von ihm vor Eintritt der Arbeitslosigkeit bezogene Entgelt in der Lehre zum Chemiefacharbeiter Bezugspunkt für seine Vorstellung von dem zu erwartenden Arbeitslosengeld war.

Der Senat zweifelt nicht daran, dass dies der "Facharbeiterlohn" eines Chemiefacharbeiters war bzw. das, was der Kläger sich darunter vorstellte. In diesem Zusammenhang hält der Senat es für glaubhaft, wenn der Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, der Lehrherr habe ihm empfohlen, auf jeden Fall die Lehre schon deswegen abzuschließen, da er im Falle anschließender Arbeitslosigkeit dann eine höhere Leistung erhalte, auch, dass dem Kläger ein Bediensteter des Arbeitsamtes sagte, das Alg werde sich am erzielbaren Facharbeiterlohn orientieren, ohne hierbei die Einzelheiten des Berechnungsmodus darzulegen. Die Beklagte muss sich vorhalten lassen, dass sie nicht, wie es bei der Bemessung von Alg an fiktivem Arbeitsentgelt vorkommt, dem Kläger vor Erlass des Bewilligungsbescheides einen Bescheid zukommen ließ, in dem sie dargelegt hat, wie sich die zu erwartende Leistung herleiten würde. Nach den Gesamtumständen hält es der Senat danach für schlüssig und glaubhaft, dass der Kläger seine Erwartung der Höhe des von ihm beantragten Alg an einer vergleichsweise vagen und unsicheren Vorstellung eines erzielbaren Facharbeiterlohns für einen Chemiefacharbeiter orientiert hat, wobei auch seine in der mündlichen Verhandlung genannte Vorstellung, ein solcher würde sich zwischen 3.600,00 und 3.800,00 DM monatlich bewegen, eher in einem ungefähren Sinne zu verstehen ist.

Der dem Kläger bewilligte Leistungssatz als solcher (ab 28.01.2000 545,44 DM wöchentlich, auf den Monat hochgerechnet 2.363,57 DM, ab 22.06.2000 584,78 DM, auf den Monat hochgerechnet 2.534,04 DM) war nicht so exorbitant, dass daraus die Fehlerhaftigkeit des Bescheides für den Kläger in die Augen springen musste, wenn man sein jugendliches Alter, seine geringe Berufserfahrung und das Erstmalige des Alg-Bezuges in Rechnung stellt.

Ein gleiches gilt für das Bemessungsentgelt. Dieses findet sich nach dem von der Beklagten vorgelegten Muster des Bewilligungsbescheides (Änderungsbescheides) in der zweitobersten Rubrik "Berechnungsgrundlagen" im ganz linken Kästchen als "Bemessungsentgelt wöchentlich DM", gefolgt von den anderen Elementen der Leistungsberechnung, wohingegen die oberste Rubrik die zu erkannte Leistung umschreibt nach Leistungsart, Beginn/Änderung, Anspruchsdauer und wöchentlichem Leistungsbetrag. Es lässt sich zwar ohne weiteres unterstellen, dass dem Kläger die Höhe des Bemessungsentgelts aufgefallen wäre, wenn er es auf seinem Bewilligungsbescheid zur Kenntnis genommen und seine Funktion nachvollzogen hätte. Weder springt jedoch das Bemessungsentgelt besonders ins Auge, noch wird dessen stellvertretende Funktion für das Arbeitsentgelt auf dem Bewilligungsbescheid zum Ausdruck gebracht. Diese geringe Einprägsamkeit des Bemessungsentgelts wird im Fall des Klägers auch wiederum dadurch verstärkt, dass der Kläger sich für das von ihm zu erwartende Alg nicht an dem vor Eintritt der Arbeitslosigkeit von ihm erzielten tatsächlichen Arbeitsentgelt orientieren konnte und auch keine genauere, auf Erfahrung beruhende Vorstellung von dem fiktiven Arbeitsentgelt hatte, das als Grundlage für die Berechnung des Alg dienen würde. Nachdem dem Kläger nicht als grobe Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden kann, dass er den ihm bewilligten Leistungssatz für nicht so ungewöhnlich hielt, um zumindest beim Arbeitsamt nachzufragen, kann ihm daher auch nicht als grobe Fahrlässigkeit angerechnet werden, wenn er sich nicht weiter in die Berechnungsgrundlagen der Bewilligung vertieft hat. Auch insoweit war die Unerfahrenheit des Klägers wie auch der erstmalige Alg-Bezug zu berücksichtigen.

Die Berufung des Klägers musste demnach Erfolg haben, auch insoweit als damit eine Grundlage für die Erstattung der 14.451,04 DM nicht gegeben ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Ein Anlass, die Revision nach § 160 Abs.2 Nr.1 oder Nr.2 SGG zuzulassen, bestand nicht. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und das Urteil weicht nicht von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senat der obers-ten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts ab oder beruht auf dieser Abweichung.
Rechtskraft
Aus
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