L 14 R 266/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 12 RJ 1567/02 A
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 R 266/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 20. Oktober 2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Beginn der Regelaltersrente des Klägers.

Der 1928 geborene, in Serbien lebende Kläger stellte am 27.07.2001 bei der Beklagten Antrag auf Altersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Er gab an, nach seiner Tätigkeit in Deutschland zwischen 1964 und 1972 arbeitsunfähig in seine Heimat zurückgekehrt zu sein und dort in keinem Arbeitsverhältnis mehr gestanden zu haben. Er sei heute schwer invalide und lebe von der Unterstützung des Roten Kreuzes.

Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 04.06.2002 Regelaltersrente ab 01.07.2001 (Rentenzahlbetrag 293,27 EUR).

Mit seinem Widerspruch begehrte der Kläger die rückwirkende Rentenzahlung ab Vollendung des 65. Lebensjahres im Jahre 1993. Er gab an, zur rechtzeitigen Antragstellung im Jahre 1993 wegen des Kriegszustandes in seiner Heimat und des Nichtbestehens von bilateralen Beziehungen seines Landes zu Deutschland keine Möglichkeiten gehabt zu haben. Auf Rückfragen der Beklagten zu früheren im ehemaligen Jugoslawien gestellten Rentenanträgen ließ der Kläger zunächst erklären, er habe keinen Antrag stellen können, weil in seinem Flüchtlingsausweis keine Personenkennziffer - Personalnummer bestimmt worden sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18.10.2002 zurück. Sie verwies auf die Regelung des § 99 Abs.1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), wonach eine Rente aus eigener Versicherung bei Antragstellung nach Ablauf des dritten Kalendermonats nach Ende des Monats der Vollendung des 65. Lebensjahres von dem Kalendermonat an geleistet werde, in dem die Rente beantragt wird. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 Abs.1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) wegen Versäumung der Frist des § 99 Abs.1 Satz 1 SGB VI könne nicht gewährt werden, da auch dem Kläger - neben der teilweisen Blockierung des normalen Postweges nach Jugoslawien - ein Verschulden an der verspäteten Rentenantragstellung anzurechnen sei. Er habe wie viele andere Versicherte auch die Möglichkeit gehabt, beim Versicherungsträger in B. oder einem anderen Versicherungsträger in Jugoslawien fristwahrend Rentenantrag zu stellen, die fehlende Personenkennziffer im Flüchtlingsausweis sei hierfür kein Hinderungsgrund gewesen. Nach Normalisierung des Postverkehrs mit Jugoslawien hätte dann zu gegebener Zeit eine Übersendung des fristwahrenden Rentenantrags durch diesen Versicherungsträger an die Beklagte erfolgen können. Diese Möglichkeit sei vom Kläger nicht wahrgenommen worden. Ausschließlich aus der Kriegssituation ließen sich nicht generell Rechte ableiten. Es sei auch nicht eine Hemmung der Antragsfrist in analoger Anwendung des § 203 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) wegen Stillstand der Rechtspflege bzw. höherer Gewalt anzunehmen. Höhere Gewalt in diesem Sinne liege vor, wenn die Verhinderung auf Ereignissen beruhe, die auch durch die äußerste, billigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht vorausgesehen und verhütet habe werden können; anzulegen sei dabei ein objektiver Maßstab, bereits das geringste Verschulden des Betroffenen schließe höhere Gewalt aus. Dem Kläger sei ein solches Verschulden anzulasten, auch wenn es subjektiv für ihn schwierig gewesen sei, den Versicherungsträger in B. bzw. eine der Filialen zu erreichen. Auch andere Versicherte in der Situation des Klägers hätten von der Möglichkeit der fristwahrenden Antragstellung bei einem Versicherungsträger in ihrer Heimat Gebrauch gemacht.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) machte der Kläger nunmehr geltend, durch höhere Gewalt an der rechtzeitigen Stellung eines Antrags auf Regelaltersrente gehindert gewesen zu sein. Er trug vor, er habe sein brennendes Haus in Kroatien verlassen müssen und sei mittellos und krank nach Serbien gekommen, wo ihm schließlich ein Haus ohne Wasser und Strom zur Verfügung gestellt und sodann von Nachbarn geholfen worden sei. Er sei, 150 km von B. entfernt, nicht im Stande gewesen, dort einen Antrag zu stellen. Im Übrigen habe eine Nichtregierungsorganisation, die ihn noch im Flüchtlingslager aufgesucht habe, für ihn "über ein Ministerium in B. Rentenantrag gestellt", doch sei die komplette Dokumentation während einer Bombardierung des Wohnblocks in B. , in dem diese Organisation ihren Sitz gehabt habe, verbrannt, so dass sie nicht nach Deutschland weiterversandt worden sei. Erst im Jahre 2001 habe dieselbe Organisation den Kläger erneut "gefunden" und für ihn nachträglich den Rentenantrag gestellt.

In einem weiteren Schreiben hieß es, dass mehrere Anträge des Klägers aus Jugoslawien kriegsbedingt nicht weitergeleitet worden und beim Empfänger nicht eingegangen seien. Eine Antragskopie habe er nicht erhalten. Auch habe er wegen seiner Krankheit und der Kriegssituation nicht überprüfen können, ob die für ihn handelnde Organisation "richtig verfahren habe".

Mit Urteil vom 20.10.2004 wies das SG die Klage ab. Es nahm gemäß § 136 Abs.3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die zutreffenden Darlegungen im Widerspruchsbescheid vom 18.10.2002 Bezug. Im Übrigen habe der Kläger trotz Aufforderung durch das Gericht keine näheren Angaben zu der "regierungsunabhängigen Organisation" gemacht, über welche er nach seiner Darstellung bereits im Jahre 1993 einen Rentenantrag gestellt habe.

Mit der Berufung wendet sich der Kläger gegen dieses Urteil und rügt unvollständige Sachverhaltsfeststellung, falsche Anwendung materiellen Rechts und Verletzung von Verfahrensvorschriften. Er gibt nun an, sich zunächst nach der Bombardierung seiner Heimat im Jahre 1993 als Flüchtling bei einer Familie in Serbien aufgehalten und dann ein Haus zur Verfügung gestellt bekommen zu haben, wo er von einer Nichtregierungsorganisation aufgesucht worden sei, der er alle seine Rentenunterlagen übergeben habe. Diese habe sich als Organisation für humanitäre Rechte aus B. , Ul. M. vorgestellt. Er sei zu dieser Zeit schwer erkrankt und bewegungsunfähig gewesen und habe später erfahren, dass der Wohnblock des Sitzes der Organisation in B. durch Bombardierung abgebrannt sei.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Landshut vom 20.10.2004 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 04.06.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2002 zu verpflichten, ihm Regelaltersrente bereits ab 01.06.1993 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, die Berufung enthalte keine neuen Gesichtspunkte, die die angefochtene Entscheidung in Frage stellten.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogenen Rentenakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 SGG) ist zulässig, sie erweist sich aber nicht als begründet.

Im Ergebnis zutreffend hat das Erstgericht die Klage abgewiesen. Nach der bestehenden Sach- und Rechtslage hat der Kläger keinen Anspruch auf rückwirkende Auszahlung seiner Altersrente bereits ab der Vollendung des 65. Lebensjahres im Jahre 1993. Zwar hat er mit der Vollendung des 65. Lebensjahres kraft Gesetzes ein als Eigentum im Sinne von Art.14 Grundgesetz geschütztes Recht auf Regelaltersrente und damit auf wiederkehrende monatliche Geldzahlungen erworben. Die ab 01.06.1993 entstandenen monatlichen Einzelansprüche wurden jedoch erst durch den im Jahre 2001 gestellten Antrag feststellbar und faktisch erfüllbar; für die Zeit vorher steht Ihnen der einzelanspruchsvernichtende Antragseinwand des § 99 Abs.1 SGB VI entgegen (vgl. BSG, Urteil vom 02.08.2000 - Az.: B 4 RA 54/99 R).

Zutreffend haben Erstgericht und Beklagte auf die Regelung des § 99 Abs.1 SGB VI hingewiesen, wonach eine Rente aus eigener Versicherung, wie hier die Regelaltersrente, von dem Kalendermonat an geleistet wird, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind - sofern die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind (hier zum 31.08.1993); bei späterer Antragstellung dagegen wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat angeleistet, in dem die Rente beantragt wird. Da die Rente des Klägers erst am 27.07.2001 beantragt wurde, hat die Beklagte den Rentenbeginn zutreffend auf den 01.07.2001 festgelegt.

Eine Wiedereinsetzung in die Antragsfrist des § 99 Abs.1 SGB VI ist auch nach Auffassung des Senats nicht möglich. Zwar ist nach § 27 Abs.1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Die Beklagte und das auf deren Ausführungen bezugnehmende Erstgericht haben dies unter Hinweis auf ein auch den Kläger treffendes Verschulden an der verspäteten Rentenantragstellung abgelehnt. Der Senat hält bereits die Anwendbarkeit des § 27 SGB X vorliegend für problematisch. Es handelt sich bei der Antragsfrist des § 99 Abs.1 SGB VI um eine Ausschlussfrist. Bei materiell-rechtlichen Ausschlussfristen ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 Abs.5 SGB X unzulässig, wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt, dass sie ausgeschlossen ist. Es ist daher im Einzelnen stets zu prüfen, ob nach dem Sinn und Zweck der jeweiligen Frist eine Wiedereinsetzung möglich ist, oder ob es sich um eine absolut wirkende Ausschlussfrist handelt. Letzteres ist dann der Fall, wenn dies ausdrücklich bestimmt ist oder sich durch Auslegung nach dem Zweck der jeweiligen Fristbestimmung und der ihr zu Grunde liegenden Interessenabwägung ergibt. Letzteres ist bei § 99 Abs.1 SGB VI der Fall. Es handelt sich um eine Regelung zum Rentenbeginn, die Ordnungscharakter hat. In Abs.2 Satz 3 kommt insoweit zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber bis auf den dort geregelten Ausnahmefall bei Hinterbliebenenrenten keine Ausnahmen vor dem Zeitpunkt der Antragstellung als maßgeblichem Datum zulassen wollte. Andernfalls wäre diese Bestimmung überflüssig (vgl. Niesel im Kasseler Kommentar, SGB VI, § 99 Anm.12; vgl. auch BSG in BSGE 21, 129 zu der vergleichbaren Vorschrift des § 1286 RVO a.F.). Dies kann aber letztlich offen bleiben, denn der Senat ist mit dem Erstgericht und der Beklagten der Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab Vollendung des 65. Lebensjahres im Jahre 1993 auch bei Bejahung der Anwendbarkeit des § 27 SGB X nicht gegeben wären. Selbst wenn der Kläger im Jahre 1993 - was nachvollziehbar ist - kriegsbedingt keine Möglichkeit hatte, einen Rentenantrag zu stellen, so kann er sich doch nicht auf den Fortbestand dieser Situation bis ins Jahr 2001 hinein berufen. Nach Normalisierung des Postverkehrs mit Jugoslawien hätte zu gegebener Zeit eine Übersendung eines fristwahrenden Rentenantrags durch einen Versicherungsträger in der Heimat des Klägers erfolgen können. Diese Möglichkeit hat der Kläger nicht wahrgenommen, jedenfalls hat er nichts Entsprechendes vorgetragen. Sein Vorbringen lässt nicht auf eine tatsächlich erfolgte Antragstellung im ehemaligen Jugoslawien schließen. Der möglicherweise eingetretene Verlust von Antragsunterlagen durch Bombardierung der Räume einer bevollmächtigten privaten Hilfsorganisation kann mangelndes weiteres Tätigwerden des Klägers nicht bis in das Jahr 2001 hinein entschuldigen. Gemäß § 27 Abs.2 SGB X ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen; die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung bzw. im weiteren Verfahren glaubhaft zu machen. Dies ist vorliegend nicht geschehen. Der Kläger hat in keiner Weise ausreichend dargetan, inwiefern er auch nach Ende der kriegerischen Handlungen im ehemaligen Jugoslawien ca. 1995 oder später nicht in der Lage gewesen sein sollte, einen Rentenantrag zu stellen, bzw. - sollte er auf eine Antragstellung im Jahre 1993 durch die von ihm beantragte und erstmals im Berufungsverfahren näher benannte "Organisation für humanitäre Rechte" aus B. vertraut haben - einen erneuten Rentenantrag zu stellen oder entsprechende Nachfragen einzuleiten. Das von ihm zur Begründung geschilderte mittellose Dasein auf dem Lande und auch seine behauptete Immobilität bzw. Erkrankung könnten lediglich für eine gewisse Zeit zu seiner Entlastung angeführt werden, reichen aber angesichts des über viele Jahre erfolgten Zuwartens bis 2001 nicht aus. Ähnlich wie bei der Verhinderung an der Einhaltung von gesetzlichen Verfahrensfristen durch akute Erkrankung ist dem Kläger - der ja geltend macht, von Nachbarn versorgt worden zu sein - entgegenzuhalten, dass er jedenfalls andere Personen mit der erneuten Antragstellung/Nachfrage hätte beauftragen können. Da dies nicht erfolgt ist, ist ihm zum einen ein Verschulden zuzurechnen, zum anderen auch davon auszugehen, dass der tatsächliche Rentenantrag im Jahre 2001 nicht unverzüglich, nämlich innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses gestellt wurde.

Angesichts dieses Sachverhalts kommt auch eine analoge Anwendung des § 203 BGB zu Gunsten des Klägers vorliegend nicht in Betracht. Eine Hemmung des Ablaufs der Antragsfrist von drei Monaten wegen Vorliegens von höherer Gewalt kann nicht bejaht werden. Höhere Gewalt liegt vor, wenn die Verhinderung auf Ereignissen beruht, die auch durch äußerste, billigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht vorausgesehen oder verhütet werden konnten. Schon das geringste Verschulden des Gläubigers schließt höhere Gewalt aus (Palandt, BGB, 66. Auflage, § 206 Anm.4; BGH 81, 355). Steht der Geltendmachung des Anspruchs ein tatsächliches Hindernis entgegen, so tritt grundsätzlich keine Hemmung der Verjährung bzw. hier der Antragsfrist ein.

Vorliegend kann der Gesichtspunkt der höheren Gewalt bei Unterstellung des vom Kläger vorgetragenen Sachverhalts (Flüchtlingsschicksal, Mittellosigkeit und Kränklichkeit im Flüchtlingslager und im späteren neuen Zuhause, Vernichtung der Antragsunterlagen durch Bombardierung in B.) als wahr für das Jahr 1993 und wohl auch für einige Zeit danach bejaht werden. Spätestens nach 1995/1996 lässt der dabei anzuwendende objektive Maßstab diese Annahme nicht mehr zu, da bereits das geringste Verschulden des Klägers höhere Gewalt ausschließt. Auch wenn es für ihn unter den gegebenen Umständen ohne Zweifel schwierig war, den nächsten heimischen Versicherungsträger zu erreichen und durch Nachfragen bzw. erneute Antragstellung fristwahrend den Rentenanspruch geltend zu machen, ggf. auch eine andere Person damit zu beauftragen, rechtfertigt dies nicht die Annahme des Fortbestehens der kriegsbedingten höheren Gewalt. Gedankenlosigkeit, fatalistisches Hinnehmen und vielleicht auch Unbedarftheit in Rentenproblemen hätte der Kläger vielmehr selbst zu vertreten.

Bei dieser Sach- und Rechtslage konnte die Berufung keinen Erfolg haben. Sie war mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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