L 2 SO 4505/08 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SO 2929/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 4505/08 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 27. August 2008 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, für den Antragsteller vorläufig bis zur Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 20. Juli 2008 die im Rahmen des am 8. September 2008 begonnenen Berufskolleg Fachhochschulreife (BKFH) an der Nikolauspflege in Stuttgart entstehenden Internatskosten sowie die weiteren behinderungsbedingten Betreuungskosten zu übernehmen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers (Ast) gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen (SG) vom 27. August 2008 hat überwiegend Erfolg.

Die Beschwerde ist statthaft (§ 172 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), frist- und formgerecht (§ 173 SGG) eingelegt und somit zulässig. Das SG hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt. Der Antragsteller hat Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung dahingehend, dass bis zur Entscheidung über den Widerspruch gegen den - den Antrag auf Eingliederungshilfe ablehnenden - Bescheid die entstehenden Internatskosten sowie die weiteren behinderungsbedingten Betreuungskosten zu übernehmen sind.

Hinsichtlich der Rechtsgrundlagen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung wird - um Wiederholungen zu vermeiden - auf den angefochtenen Beschluss verwiesen.

Entgegen der Auffassung des SG liegen - im tenorierten Umfang - die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vor. Der Ast hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Anordnungsanspruch folgt grundsätzlich aus § 53 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) iVm § 54 Abs. 1 SGB XII. Der Ast ist behindert im Sinne des auch im Rahmen des SGB XII anwendbaren § 2 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). Dies ergibt sich eindeutig aus den in der Verwaltungsakte befindlichen ärztlichen Stellungnahmen des Universitätsklinikums Tübingen - Augenklinik- und wird von dem Antragsgegner (Ag) auch nicht bestritten. Nach der auf der Grundlage des § 60 SGB XII erlassenen Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglH-VO) erfolgt die Hilfe nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII (Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung ...) iVm § 12 EinglH-VO oder nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII (Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf ...) iVm § 13 EinglH-VO. Nach welcher Vorschrift vorliegend die Leistungen der Eingliederungshilfe zu erbringen sind, lässt der Senat offen, weil sowohl ein Anordnungsanspruch in Anwendung des § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII iVm § 12 EinglH-VO als auch des § 54 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII iVm § 13 EinglH-VO glaubhaft gemacht ist.

Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII iVm § 12 Nr. 3 EinglH-VO umfasst die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung die Hilfe zum Besuch weiterführender Schulen (Realschulen, Gymnasium, Fachoberschule) oder einer Ausbildungsstätte, deren Ausbildungsabschluss dem einer der zuvor genannten Schulen gleichgestellt ist. Unter weiterführende Schulen fallen alle die Schulen, die eine über die Grund-, Haupt- und Berufsschule hinausführende Bildung vermitteln und bestimmte Berechtigungen ergeben (vgl. W. Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. Aufl. 2006, § 54 Rz. 45). Nach § 12 Satz 3 Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchG) kann im Berufskolleg nach abgeschlossener Berufsausbildung die Fachhochschulreife in einem einjährigen Bildungsgang erworben werden. Diesen Bildungsgang, der lediglich zur Berechtigung "Fachhochschulreife" führt, besucht der Ast (s. das vom Prozessbevollmächtigten vorgelegte Schreiben des Oberschulamts Stuttgart vom 5. Januar 1998), sodass vom Ag auch Leistungen zur Hilfe im Rahmen des § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII iVm § 12 Nr. 3 EinglH-VO zu prüfen sind (s. den bereits vom Klägerbevollmächtigten in der Antragsschrift zitierten Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. September 2006, L 7 SO 3976 /06 ER-B, mit dem Leistungen zur Hilfe für den Besuch eines Berufskollegs nach §§ 53 Abs 1 und 3, 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII iVm § 12 EinglH-VO zugesprochen wurden). Voraussetzung für die Förderung nach diesen Vorschriften ist lediglich die - voraussichtliche - Erlangung des begehrten Abschlusses (vgl. W. Schellhorn a.a.O. § 12 EinglH-VO Rz. 8/9). Soweit der Ag in diesem Zusammenhang argumentiert, der vom Ast begehrte Schulabschluss (Fachhochschulreife) sei angesichts der von ihm begonnenen Ausbildung zum Landschaftsgärtner nicht "angemessen", überzeugt dies den Senat nicht. Anknüpfungspunkt für die Frage der "angemessenen Schulbildung" ist im Hinblick auf die oben genannten Voraussetzungen für die Förderung - objektiv - die intellektuelle und körperliche Leistungsfähigkeit des Ast; subjektiv finden die Wünsche des behinderten Menschen (und/oder seiner Eltern) ihre Grenze an den "unverhältnismäßigen Mehrkosten" im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB XII (vgl. W. Schellhorn a.a.O § 12 EinglH-VO Rz 9). Die Frage der Angemessenheit - wie es die Beklagte auf Seite 2 oben des angefochtenen Bescheids zum Ausdruck gebracht hat - in Beziehung zum bisherigen sozialen Status zu setzen, ist nach Auffassung des Senats weder mit § 12 EinglH-VO noch mit dem im Grundgesetz und der Verfassung des Landes Baden-Württemberg verankerten Recht jedes jungen Menschen auf eine seiner Begabung entsprechende Ausbildung ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage (§ 1 SchG) zu vereinbaren. Vorliegend sind Gründe, die einem Anspruch des Ast auf Leistungen zur Hilfe entgegenstehen könnten, nicht ersichtlich. Die Stellungnahme des Medizinisch-pädagogischen Fachdienstes des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales Baden-Württemberg vom 5. September 2008 - bekräftigt durch die Stellungnahme vom 7. Oktober 2008 -, welche vom SG noch nicht berücksichtigt werden konnte, macht im Gegenteil deutlich, dass der Ast die Voraussetzungen für die Teilnahme am Berufskolleg erfüllt, ferner zu erwarten ist, dass das Ziel der Ausbildung erreicht und sich eine weitere Qualifizierung positiv auf seine Integration auswirken wird und die beantragte Maßnahme erforderlich ist.

Der Ag ist bisher (s. Blatt 66 der Verwaltungsakte) davon ausgegangen, dass Leistungen zur Hilfe nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 EinglH-VO (Hilfe zur Ausbildung an einer Berufsfachschule) zu prüfen sind. Das ist insoweit unzutreffend, als die Ausbildung im Bildungsgang "Berufskolleg" keine Ausbildung an einer "Berufsfachschule" ist. Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der §§ 11 und 12 SchG. Die Berufsfachschule vermittelt je nach Dauer berufliche Kenntnisse und fördert die allgemeine Bildung; in Verbindung mit einer erweiterten allgemeinen Bildung kann sie zur Prüfung der Fachhochschulreife führen (§ 11 Satz 1 SchG). Demgegenüber kann das Berufskolleg auf der Fachhochschulreife - dem Bildungsabschluss, der auf der Berufsfachschule erworben wird - aufbauen; daraus ergibt sich zwanglos, dass Berufsfachschule (§ 11 SchG) und Berufskolleg (§ 12 SchG) nicht dieselben Ausbildungsgänge sind. Dessen ungeachtet hat der Ast aber auch in Anwendung des § 13 EinglH-VO einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Gemäß § 13 Abs. 2 wird eine Hilfe nach Abs. 1 gewährt, wenn zu erwarten ist, dass das Ziel der Ausbildung oder der Vorbereitungsmaßnahmen erreicht wird, der beabsichtige Ausbildungsweg erforderlich ist, der Beruf oder die Tätigkeit voraussichtlich eine ausreichende Lebensgrundlage bieten oder, falls dies wegen Art und Schwere der Behinderung nicht möglich ist, zur Lebensgrundlage in angemessenem Umfang beitragen wird. Es ergibt sich aus der Stellungnahme des Medizinisch-pädagogischen Fachdienstes vom 5. September 2008 eindeutig, dass das Berufskolleg vom Ast erfolgreich abgeschlossen werden kann. Nach Ansicht des Fachdienstes wird sich die Weiterqualifizierung auch positiv auf seine Integrationsmöglichkeiten auswirken. Dem steht das Schreiben der Bundesagentur für Arbeit vom 21. Mai 2008 nicht entgegen, denn darin ist nur ausgeführt, dass zum jetzigen Zeitpunkt - als die Ausbildung zum Kaufmann für Bürokommunikation noch nicht einmal beendet war - nicht prognostiziert werden könne, ob sich durch den angestrebten Schulbesuch mit anschließendem Studium eine höhere Integrationswahrscheinlichkeit ergebe. Hingegen hat sie eindeutig eine Integration nur mit einer weiteren Förderung nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung zum Kaufmann für Bürokommunikation für möglich erachtet, was nur den Schluss zulässt, dass die Behinderung noch nicht in ihren Folgen beseitigt ist, was wiederum ein entscheidender Unterschied zum Sachverhalt des vom Verwaltungsgericht Münster (Urteil vom 4. Februar 2003 - 5 K 1845/99) entschiedenen Falles ist.

Der Senat sieht auch einen Anordnungsgrund als gegeben an, da ein Abwarten des nächsten Schuljahres, insbesondere im Hinblick auf das Alter des Ast und die Tatsache, dass er aus gesundheitlichen Gründen zwei begonnene Ausbildungen abbrechen musste, unzumutbar erscheint, zumal der Ast frühzeitig einen Antrag bei der Ag gestellt hatte.

Der Antrag auf Zahlung von 26.500 EUR war aber unbegründet, da zum Einen nur die laufend anfallenden Kosten "zu zahlen" sind und vorläufig nur eine Verpflichtung bis zur Entscheidung über den Widerspruch ausgesprochen werden konnte, um nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorweg zunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved