S 33 R 1697/05

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
33
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 33 R 1697/05
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Ein notarieller Umwandlungsvertrag nach der Umwandlungs-VO, der nach dem 30.6.1990 abgeschlossen wurde, konnte keine Rechtswirkungen mehr entfalten. Denn die Umwandlungs-VO wurde durch das Treuhandgesetz \"überholt\".
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21.4.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.8.2005 verurteilt, die Beschäftigungszeit der Klägerin vom 1.9.1966 bis 30.6.1990 als Zeiten der Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz sowie in diesem Zeitraum erzielte Arbeitsentgelte festzustellen.
2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
3. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagte als Versorgungsträger für das Zusatzversorgungssystem der Anlage I Nr. 1 zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) verpflichtet ist, Zeiten der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelli-genz festzustellen. Die am geborene Klägerin beendete ihr Studium an der Ingenieurschule für Textiltechnik Forst (Lausitz) am 21.7.1966 mit der Erlangung des akademischen Grades "Ingenieur der Sozialistischen Industrie" (Fachrichtung: Technische Textilien).Sie war vom 1.9.1966 bis 31.12.1967 als Technologe im VEB Flachsspinnerei H.-G. und vom 1.1.1968 bis zum 30.6.1990 im VEB Vereinigte L. G. (VEB) als Operativtechnologe, Produktionstechnologe, Gruppenleiter Produktion und Materialwirtschaft und zuletzt als Abteilungsleiter Produktionslenkung tätig. Der Antrag der Klägerin vom 4.4.2005 auf Überführung von Zusatzversorgungsanwartschaften für die Zeit vom 1.9.1966 bis 30.6.1990 wurde mit Bescheid der Beklagten vom 21.4.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.8.2005 mit der wesentlichen Begründung abgelehnt, dass sie im maßgeblichen Zeitpunkt 30.6.1990 als Abteilungsleiter Produktionslenkung nicht die sogenannten sachlichen Voraussetzungen (wird ausgeführt) erfüllt habe, weil sie im Rahmen dieser Tätigkeit nicht in den unmittelbaren Produktionsprozess eingebunden gewesen sei. Die Klägerin hat am 17.10.2007 Klage erhoben. Sie verfolgt ihr Begehren weiter. Das Bundessozialgericht hat mittlerweile mit Urteil vom 17.10.2007 - B 4 RS 17/07 - entschieden, dass auch durch Tätigkeiten in Leitungsbereichen - wie hier - die sogenannten sachlichen Voraussetzungen (wird ausgeführt) erfüllt sein können. Die Beklagte hat vor diesem Hintergrund - in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung des Gerichts - mit Schriftsatz vom 23.6.2008 die sogenannten sachlichen Voraussetzungen bei der Klägerin als erfüllt angesehen. Die Klägerin hat im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens ein Schreiben der "L.n- und T.- GmbH i.G. G." (GmbH i.G.) vom 8.6.1990 vorgelegt. Dort wird u. a. mitgeteilt, dass mit Wirkung vom 1.6.1990 der VEB in die GmbH i.G. umbenannt worden sei (Bl. 49 der Gerichtsakte). Ein entsprechender Gesellschaftsvertrag liegt nicht vor. Das Gericht hat im Rahmen seiner Amtsermittlungspflichten aus den entsprechenden Ak-ten des Amtsgerichtes Dresden - Registergericht - Kopien eines notariellen Vertrages vom 4.7.1990 gezogen (Bl. 178 bis 185 der Gerichtsakte). Aus diesem notariellen Vertrag geht u.a. hervor, dass der VEB auf der Grundlage der Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften vom 1.3.1990 (Umwandlungs-VO) in die "L.- und T.-Gesellschaft mit beschränkter Haftung" umgewandelt wird und zur Durchführung der Umwandlung mit Stichtag 1.6.1990 das Vermögen aus der bisherigen Fondsinhaberschaft des VEB auf drei dort genannte GmbH’s überrgeht. Dabei wurden die entsprechende Abschlussbilanz des VEB vom 31.5.1990 (Anlage zum notariellen Vertrag) und die Eröffnungsbilanz zum 1.6.1990 zugrunde gelegt. Die Klägerin ist der Auffassung, dass der notarielle Umwandlungsvertrag vom 4.7.1990 keine Rechtswirkungen mehr entfalten konnte, weil mit Inkrafttreten des Treuhandgesetzes am 1.7.1990 keine Umwandlung nach der Umwandlungs-VO mehr möglich gewesen sei. Dies hätten die Vertragsparteien (nachträglich) ebenso gesehen. Denn mit notariellem Vertrag vom 25.6.1991 sei die "L.- und T. – Gesellschaft mit beschränkter Haftung" (erneut) gegründet worden (Bl. 208 ff. der Gerichtsakte). Mithin habe am maßgeblichen Stichtag 30.6.1990 noch der (massen-)produzierende VEB existiert. Die Beklagte hält daran fest, dass - unbeschadet des Inkrafttretens des Treuhandgesetzes am 1.7.1990 - durch notariellen Vertrag vom 4.7.1990 die betrieblichen Fonds des VEB zum 1.6.1990 übergegangen seien. Mithin sei der VEB am 30.6.1990 nicht mehr Fondsin-haber gewesen.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 21.4.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.8.2005 zu verurteilen, ihre Beschäftigungszeit vom 1.9.1966 bis 30.6.1990 als Zeiten der Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz sowie in diesem Zeitraum erzielte Arbeitsentgelte festzustellen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Unterlagen der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet, denn der antragsablehnende Bescheid der Beklagten vom 21.4.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.8.2005 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass ihre Beschäftigungszeit vom 1.9.1966 bis zum 30.6.1990 als Zeiten der Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz sowie in diesem Zeitraum erzielte Arbeitsentgelte festgestellt werden (§ 54 Abs. 2 Satz 1, § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Nach § 1 Abs. 1 gilt das AAÜG für Ansprüche und Anwartschaften (= Versorgungsberechtigungen), die auf Grund der Zugehörigkeit zu Versorgungssystemen im Beitrittsgebiet erworben worden sind (Satz 1). "Erworben worden sind" in diesem Sinne aus der Perspektive des am 1.8.1991 in Kraft getretenen AAÜG (Art. 3 RÜG) Versorgungsanwartschaften auch, wenn Nichteinbezogene rückschauend nach den Regelungen der Versorgungssysteme, soweit sie aufgrund des Einigungsvertrages am 3.10.1990 zu sekundärem Bundesrecht geworden waren, praktisch und rechtsgrundsätzlich im Regelfall am 30.6.1990 hätten einbezogen werden müssen. Dies wäre dann der Fall, wenn sie - ohne erfolgte Einzelfallregelung (Versorgungszusage, Einzelentscheidung, Einzelvertrag) - auf Grund der am 30.6.1990 gegebenen Sachlage nach der am 31.7.1991 gebotenen bundesrechtlichen Sicht einen Rechtsanspruch auf eine Versorgungszusage nach den Regelungen der Versorgungs-systeme unter Beachtung des Gleichheitsgebotes gehabt hätten (BSG, Urteil vom 31.7.2002 - B 4 RA 21/02 R -; Urteil vom 10.4.2002 - B 4 RA 56/01 -). Schließlich wird nach § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG eine Versorgungsanwartschaft fingiert, wenn in der DDR zu irgend einem Zeitpunkt einmal eine durch Einzelfallregelung konkrete Aussicht bestand, im Versorgungsfall Leistungen zu erhalten, diese Aussicht (Anwartschaft) aber auf Grund der Regelungen der Versorgungssysteme vor dem 1.7.1990 wieder entfallen war (vgl. dazu: BSG, Urteil vom 10.4.2002 - B 4 RA 43/01 - m.w.N.). Da die Klägerin zu keinem Zeit-punkt eine Versorgungszusage und auch keinen Einzelvertrag mit der konkreten Aussicht hatte, bei Eintritt des Versorgungsfalls Leistungen zu erhalten und auch insoweit keine Rehabilitierungsentscheidung vorliegt, und schließlich auch nicht der Leistungsfall (Alter, Invalidität) eingetreten ist und bereits deshalb kein Anspruch erworben worden ist, können die Vorschriften des AAÜG mithin auf sie nur Anwendung finden, wenn ihr aus bundes-rechtlicher Sicht nach den Gegebenheiten der DDR eine Anwartschaft auf eine Versorgung am 30.6.1990 hätte eingeräumt werden müssen, sie also, wäre der Versorgungsfall zu die-sem Zeitpunkt eingetreten, zum 1.7.1990 Leistungen aus dem Versorgungssystem hätte beanspruchen können. Dies wäre der Fall gewesen, wenn die Klägerin nach den Regelungen des Versorgungssystems "obligatorisch" - ohne Ermessensspielraum des Versorgungs-trägers - in den Kreis der Versorgungsberechtigten hätte einbezogen werden müssen, weil die abstraktgenerellen Voraussetzungen hierfür insoweit am 30.6.1990 erfüllt waren (vgl. BSG, Urteil vom 31.7.2002 - B 4 RA 21/02 R -). Demgegenüber waren auch aus bundesrechtlicher Sicht diejenigen nicht einbezogen, die nach den einschlägigen Versorgungsordnungen oder Durchführungsbestimmungen oder sonstigen Regelungen der DDR lediglich durch Einzelvertrag oder Einzelentscheidung oder Ermessensentscheidung hätten einbezogen werden können. Denn eine derartige Ermessensentscheidung könnte allein aus der Sicht der DDR und nach deren Maßstäben getroffen werden. Mangels sachlich objektivierbarer, bundesrechtlich nachvollziehbarer Grundlage kann eine solche Ermessensentscheidung nicht rückschauend ersetzt werden (vgl. BSG, a.a.O.; Urteil vom 10.4.2002 - B 4 RA 10/02 R -). Nach dieser Vorgabe steht der Klägerin der von ihr geltend gemachte Anspruch zu. Im Hinblick auf den streitigen Zeitraum käme eine Anspruchsvoraussetzung nur nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG in Betracht. Der Klägerin fällt unter den Anwendungsbereich des AAÜG, da sie am 30.6.1990 eine Versorgungsanwartschaft im oben genannten Sinne aus bundesrechtlicher Sicht erworben hat. Die Klägerin hatte am 30.6.1990 einen fiktiven Anspruch auf Erteilung einer Versorgungszusage nach den insoweit maßgeblichen Vorschriften der AVltech aus bundesrechtlicher Sicht gehabt. Die maßgeblichen sekundärbundesrechtlichen Regelungen ergeben sich insoweit aus den Texten der Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben (VO-AVltech) vom 17.8.1950 (DDR-GBl. 844) und der Zweiten Durchführungsbestimmung zur VO-AVltech (2.DB) vom 24.5.1951 (DDR-GBl. 487). Die Erste Durchführungsbestimmung zur VO-AVltech (1. DB) vom 26.9.1950 (DDR-GBl. 1043) hat für die Auslegung nur historische Bedeutung, weil sie durch die 2. DB mit Wirkung vom 1.5.1951 außer Kraft gesetzt worden ist (vgl. 10 Abs. 2 der 2. DB). Für das Sprachverständnis dieser Texte kommt es grundsätzlich auf den staatlichen Sprachgebrauch der DDR am 30.6.1990 an, an den der Bundesgesetzgeber zum 3.10.1990 (Einigungsvertrag) angeknüpft hat. Zu Bundesrecht sind all diejenigen Regelungen der AVltech geworden, die als zwingende Bestimmungen gebundenen Verwaltungshandelns verstanden werden können. Hierzu gehören im Wesentlichen § 1 der VO-AVltech in der Bedeutung, die er durch § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 sowie § 2 der 2. DB gefunden hat. Die anderen Texte haben hierfür nur ergänzende Bedeutung im Zusammenhang mit der historischen Auslegung (vgl. BSG, Urteil vom 9.4.2002 - B 4 RA 31/01 R -). Nicht hingegen zu Bundesrecht geworden sind die Vorschriften über die Zuteilung von Versorgungszusagen (§ 3 der 2. DB). Sowie diejenigen, die eine bewertende oder Ermessensentscheidung eines Betriebes, Direktors, einer staatlichen Stelle der DDR etc. vorsahen. Ein solcher Anspruch hängt gemäß § 1 VO-AVltech und der 2. DB von drei Voraussetzungen ab (vgl. hiezu u.a.: BSG, Urteil vom 9.4.2002, SozR 3-8750 § 1 Nr. 2 und 6). Generell war dieses Versorgungssystem eingerichtet für

1) Personen, die berechtigt waren, eine bestimmte Berufsbezeichnung zu führen (persönliche Voraussetzung), und 2) die entsprechende Tätigkeit tatsächlich ausgeübt hat (sachliche Voraussetzung), und zwar 3) in einem volkseigenen Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens oder in einem diesem gleichgestellten Betrieb (betriebliche Voraussetzung).

Die Klägerin erfüllt unstreitig die persönlichen und sachlichen Voraussetzungen. Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen auch die oben genannten betrieblichen Vor-aussetzungen vor, denn der VEB war auch am maßgeblichen Stichtag 30.6.1990 noch Fondsinhaber (zu den entsprechend notwendigen betrieblichen Fonds vgl. § 14 Abs. 1, § 18 Abs. 4 und § 21 Abs. 2 der Verordnung über die volkseigenen Kombinate, Kombinatsbetriebe und volkseigenen Betriebe vom 8.11.1979, DDR-GBl. I, 355). Die betriebliche Mitteilung vom 8.6.1990 über die "Umbenennung" des VEB in die GmbH i.G. ist nicht nachvollziehbar. Denn ein entsprechend notwendiger notarieller Gesellschaftsvertrag (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 GmbHG) existiert nicht. Mithin bestand am 1.6.1990 keine GmbH i.G ... Der notarielle Vertrag vom 4.7.1990 über die Umwandlung des VEB in die "L.- und T.-Gesellschaft mit beschränkter Haftung" nach der Umwandlungs-VO konnte keine Rechtswirkungen (mehr) entfalten. Denn mit Inkrafttreten des Treuhandgesetzes am 1.7.1990 wurden die - noch nicht "umgewandelten" - Kombinate, Kombinatsbetriebe und andere Wirtschafteinheiten von Gesetzeswegen Aktiengesellschaften bzw. Kapitalgesellschaften im Aufbau (vgl. § 11 Abs. 1 und 2, § 14 TreuhandG). Das Treuhandgesetz hat die Umwandlungs-VO rechtlich "überholt" (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 8.11.2001, BVerwGE 115, 231). Dafür spricht auch, dass mit notariellem Vertrag vom 25.6.1991 die "L.- und T.-Gesellschaft mit beschränkter Haftung" (nochmals) gegründet wurde. Nicht zuletzt ist auch darauf hinzuweisen, dass im SV-Ausweis der Klägerin noch bis zum 30.6.1990 der VEB als Beschäftigungsbetrieb eingetragen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.

Die Sprungrevision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 161 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Denn es ist nicht ersichtlich, dass sich das Bundessozialgericht bereits - im vorliegenden Rahmen - zur rechtlichen Wirkung notarieller Umwandlungsverträge nach der Umwandlungs-VO geäußert hat, die erst nach dem 30.6.1990 abgeschlossen worden sind. Die Vertreterin der Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung vom 26.9.2008 auch vorgetragen, dass ein solcher Fall wegen der Vielzahl der Überprüfungen der betrieblichen Voraussetzungen öfters auftreten könnte.
Rechtskraft
Aus
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