L 6 U 128/04

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 13 U 216/03
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 128/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 6. August 2004 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob bei dem Kläger wegen Hörverlusten eine Berufskrankheit (BK) nach Nr. 50 der Liste der BK´en zur Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von BK´en der DDR – Lärm, der Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung verursacht, wobei eine soziale Bedeutung vorliegt, wenn die Hörschädigung zu Verständigungsschwierigkeiten mit anderen Personen führt – (BK 50 BKVO-DDR) anzuerkennen ist.

Der 1935 geborene Kläger war seit dem 1. September 1950 bis zum 20. Dezember 1991 als Baggerfahrer und Schlosser beim VEB St. H. (ab 1. Januar 1968 als VEB Z. bezeichnet, zuletzt nach der Privatisierung H. B. GmbH) beschäftigt. Vom 21. Dezember 1991 bis zum 31. Dezember 1995 befand er sich im Vorruhestand. Seit dem 1. Januar 1996 bezieht er eine Altersrente.

Am 11. Juli 2002 erstattete der Facharzt für Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin S. der Beklagten formlos eine Verdachtsmeldung bezüglich einer BK Lärmschwerhörigkeit. Er fügte einen Befundbericht des Facharztes für HNO-Heilkunde Dr. Sch. vom 24. Mai 2002 bei. In diesem Befundbericht diagnostizierte Dr. Sch. eine mittelgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit beiderseits, eine Lärmschwerhörigkeit beiderseits sowie einen Zustand nach Hörgeräteversorgung. Die Art der Schwerhörigkeit spreche im Zusammenhang mit der Berufsanamnese eindeutig für eine Lärmschwerhörigkeit. Unterstützt werde dies dadurch, dass das Gehör seit 1996, als keine Lärmexposition mehr stattgefunden habe, auch nicht schlechter geworden sei. Unter dem 13. September 2002 erstattete auch Dr. Sch. eine ärztliche Anzeige über eine BK.

Ausweislich der Arbeitsplatzlärmanalyse der Beklagten vom 30. Oktober 2002 war der Kläger während seines Berufslebens über 35 Jahre einer Lärmeinwirkung von 80 dB bis über 90 dB ausgesetzt gewesen. Diese Lärmexposition sei geeignet, eine Lärmschwerhörigkeit hervorzurufen.

Bereits unter dem 18. Juli 1989 hatte der Facharzt für HNO-Krankheiten K. G. eine ärztliche Meldung über den Verdacht einer BK erstattet. Unter dem 3. August 1989 hatte auch der Betrieb den Verdacht einer BK gemeldet. Der Klinikdirektor der Klinik für H.-, Nasen-, O. der Med. A. M. Prof. Dr. P. -E. sowie der Oberarzt Dr. B. hatten unter dem 13. Juni 1990 ein Gutachten zur Frage einer eventuellen BK 50 BKVO-DDR für die Arbeitshygieneinspektion des Rates des Bezirkes M. nach einer Untersuchung des Klägers am 6. April 1990 erstellt. Darin hatten die Ärzte ausgeführt, bei dem Kläger handele es sich um eine beidseitige geringgradige Innenohrschwerhöhrigkeit von hochtonalem Charakter. Aufgrund der klinischen, anamnestischen und röntgenologischen Erhebungen sei eine entzündliche oder hereditäre (erbliche) Ursache dieser Schwerhörigkeit ausgeschlossen. Da der Kläger über einen längeren Zeitraum im Lärm gearbeitet habe, sei diese Innenohrschwerhörigkeit beidseits als berufsbedingt einzuschätzen. Aus dem prozentualen Hörverlust könne ein Körperschaden (KS) von 10 % ermittelt werden. Es sei ein Arbeitsplatzwechsel von einer permanenten Lärmbelastung weg einzuleiten. In drei Jahren sei eine Nachbegutachtung durchzuführen. Daraufhin hatte die Arbeitshygieneinspektion des Bezirkes Magdeburg der Verwaltung der Sozialversicherung unter dem 1. Oktober 1990 mitgeteilt, dass die Lärmschwerhörigkeit nicht die Voraussetzungen der BK 50 BKVO-DDR erfülle. Es handele sich nicht um eine Lärmschwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung.

Die Beklagte ließ sich durch den Arzt für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde Dr. B. ärztlich beraten. Er meinte in seiner Stellungnahme vom 18. Juli 2003, beim Kläger handele es sich nicht um eine soziale Einschränkung des Gehörs mit einer prozentualen Hörstörung von 20 % oder mehr. Zur Begründung bezog er sich auf das Gutachten von Prof. Dr. P. -E. und Dr. B. vom 13. Juni 1990. Dieses Gutachten sei zwar sehr großzügig, d.h. ohne Tests zum Nachweis eines cochleaeren und ohne Ausschluss retrocochleaerer Störungen angefertigt, aber das Reinton- und Sprachaudiogramm könne man so anerkennen und zu Hilfe nehmen. In beiden Audiogrammen lasse sich keine Schwerhörigkeit von sozialer Bedeutung unter Zugrundelegung der Tabelle von Röser 1980 ausmachen. Hier bestätige sich auch, was das Königsteiner Merkblatt zu der Auswertung nach dem Tonaudiogramm aussage, nämlich, dass sich bei Anwendung dieser Tabelle zumeist ein etwas höherer prozentualer Hörverlust als aus dem Sprachaudiogramm ergebe. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage danach je nach Audiogramm 10 bis 15 vom Hundert (vH) und nach dem Sprachaudiogramm des Gutachtens glatt null. Insofern sei der im Gutachten eingeschätzte Wert von 10 vH sehr fraglich. Eine BK 50 BKVO-DDR könne mangels einer Hörstörung mit sozialer Bedeutung nicht anerkannt werden.

Die Gewerbeärztin Schneider vom Landesamt für Verbraucherschutz Sachsen-Anhalt erklärte in ihrer Stellungnahme vom 14. August 2003, aus dem im Rahmen der Begutachtung durch Prof. Dr. P. -E. und Dr. B. erstellten Sprachaudiogramm ergebe sich nach der Methode des einfachen Gesamtwortverstehens nach Boenninghaus und Röser, die in der DDR angewandt worden sei, ein Hörverlust von 20 % rechts und 10 % links. Dies entspreche nach Feldmann/Lessing einem KS von null. Es sei nicht wahrscheinlich, dass sich das Hörvermögen des Klägers bis zu seinem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben Ende 1991 soweit verschlechtert habe, dass bei Expositionsende eine Schwerhörigkeit von sozialer Bedeutung vorgelegen hätte. Die Anerkennung einer BK 50 BKVO-DDR könne nicht befürwortet werden.

Mit Bescheid vom 3. September 2003 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung des Hörschadens als BK 50 BKVO-DDR ab. Es liege keine durch Berufslärm verursachte Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung vor. Denn hierzu sei ein Grad des KS (jetzt MdE) von mindestens 20 % zum Zeitpunkt der Aufgabe der schädigenden Tätigkeit erforderlich. Diese Voraussetzung sei nicht erfüllt. Dagegen erhob der Kläger am 8. September 2003 Widerspruch und führte aus, 1991 sei kein Hörtest-Abschluss gemacht worden. Seine Schwerhörigkeit könne nur vom betrieblichen Lärm herrühren. Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. November 2003 zurück.

Am 18. November 2003 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Magdeburg Klage erhoben, weil die Ausführungen der Beklagten für ihn nicht nachvollziehbar seien. Diese Klage hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 6. August 2004 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Hörverluste des Klägers könnten nicht als BK anerkannt werden, da der KS nach dem maßgeblichen Sprachaudiogramm des Gutachtens vom 13. Juni 1990 mit der zutreffenden Bewertung der Gewerbeärztin Schneider nur 0 vH betragen habe und nicht mit Wahrscheinlichkeit bis zum 20. Dezember 1991 auf 20 vH habe zunehmen können.

Gegen den ihm am 11. August 2004 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 30. August 2004 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Es sei unbestritten, dass er über Jahrzehnte gehörschädigendem Lärm ausgesetzt gewesen sei. Seine Hörstörung sei beruflich verursacht, denn nach Wegfall der lärmbelastenden Tätigkeit sei keine weitere Verschlechterung seines Hörvermögens eingetreten. Darüber hinaus sei unbestritten, dass nach dem Gutachten von Prof. Dr. P. -E. und Dr. B. andere als berufsbedingte Faktoren für seine Schwerhörigkeit ausgeschlossen werden könnten. Auch der ihn seinerzeit behandelnde HNO-Facharzt Dr. Sch. sei von einer lärmbedingten Schwerhörigkeit ausgegangen. Seine Schwerhörigkeit bedinge eine MdE um mindestens 20 vH. Zur weiteren Sachverhaltsaufklärung sei ein Hals-Nasen-Ohren-ärztliches Gutachten von Amts wegen einzuholen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 6. August 2004 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. September 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2003 aufzuheben und festzustellen, dass die Schwerhörigkeit des Klägers eine Berufskrankheit nach Nr. 50 der Liste zur Berufskrankeitenverordnung der DDR ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 6. August 2004 zurückzuweisen.

Sie hält ihre Entscheidung und den diese bestätigenden Gerichtsbescheid für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Die Akten haben bei der mündlichen Verhandlung sowie der anschließenden Beratung vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 Abs. 1 SGG) und auch ansonsten zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Das SG hat sein Begehren, welches er gemäß den §§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässigerweise als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage verfolgen kann (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 7. September 2004 – B 2 U 46/03 RSozR 4-2700 § 2 Nr. 3; Urteil vom 20. März 2007 – B 2 U 19/06 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 23, m.w.N.), zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten 3. September 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2003 ist nicht zu beanstanden und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Bei ihm kann keine BK 50 BKVO-DDR festgestellt werden.

Anzuwenden sind hier noch die bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO). Denn der dem Begehren des Klägers möglicherweise zugrunde liegende Versicherungsfall einer BK soll nach seinem Vorbringen vor dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) – am 1. Januar 1997 eingetreten sein (siehe Art. 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz vom 7. August 1996, BGBl. I 1996, 1254 ff.; §§ 212 ff. SGB VII). Nach § 215 Abs. 1 SGB VII ist für die Übernahme der vor dem 1. Januar 1992 (in der DDR) eingetretenen Krankheiten als BK´en nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung § 1150 Abs. 2 und 3 RVO weiter, also über das Inkrafttreten des SGB VII hinaus, anzuwenden. Gemäß § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO in der bis zum 31. Dezember 1996 gültigen Fassung gelten Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind, und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht BK´en der Sozialversicherung waren, als BK´en im Sinne des Dritten Buches der RVO. Dies gilt u.a. nicht für Krankheiten, die einem ab dem 1. Januar 1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt werden und die nach dem Dritten Buch der RVO nicht zu entschädigen wären (§ 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO). Diese Vorschrift ist hier einschlägig, weil die Beklagte erst am 11. Juli 2002 durch die Verdachtsanzeige des Arbeitsmediziners S. Kenntnis von einer möglichen Lärmexposition des Klägers erlangt hat.

Voraussetzung des geltend gemachten Anspruchs ist demnach, dass die Hörstörung des Klägers die Anerkennungskriterien einer BK sowohl nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht als auch nach der RVO erfüllt (ständige Rechtsprechung des BSG, siehe nur Urteil vom 4. Dezember 2001 – B 2 U 35/00 R – SozR 3-8440 Nr. 50 Nr. 1; Urteil vom 18. August 2004 – B 8 KN 1/03 U R – SozR 4-5670 Anl. 1 Nr. 2402 Nr. 1; vgl. auch Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung, BT-Drucks 12/405, S. 116 Buchst. b). Dies ist hier nicht der Fall.

Ob bei dem Kläger die Feststellungsmerkmale einer BK nach dem Recht der RVO vorliegen (siehe § 551 Abs. 1 RVO in Verbindung mit Nr. 2301 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung – Lärmschwerhörigkeit – BK 2301), kann der Senat offen lassen. Denn schon nach DDR-Recht scheidet die Anerkennung einer BK 50 BKVO-DDR aus.

Die Fortgeltung des hier einschlägigen DDR-Rechts im Beitrittsgebiet dient der (zeitlich befristeten) Wahrung eines in der DDR etablierten rechtlichen Status bis zur endgültigen Überleitung des Unfallversicherungsrechts (siehe BT-Drucks. 11/7817, S. 158). Der historischen Auslegung der Vorschriften, insbesondere der Konkretisierung der Normen durch die Rechts- und Verwaltungspraxis der DDR, kommt deshalb ein besonderes Gewicht zu. Normativer Ausdruck hiervon ist Art. 19 des Einigungsvertrages (BGBl. II Nr. 35/1990 – EV), wonach Verwaltungsakte der DDR, die in der Regel auf deren Verwaltungspraxis beruhen, nach Maßgabe dieser Vorschrift wirksam bleiben. Die Vertragsparteien des EV wollten erkennbar die Verwaltungspraxis der DDR als Grundlage für fortbestehende Verwaltungsakte anerkennen, sofern rechtsstaatliche Grundsätze oder Regelungen des EV nicht entgegenstehen. Dabei haben Bestimmungen und Auslegungsgrundsätze, die von spezifisch sozialistischen Wertungen und Rechtsmaximen geprägt sind, unberücksichtigt zu bleiben (siehe nochmals BSG, Urteil vom 4. Dezember 2001, s.o.).

Nach § 221 des Arbeitsgesetzbuches der DDR vom 16. Juni 1977 (GBl. I 185 – AGB) in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 der BKVO-DDR vom 26. Februar 1981 (GBl. I 137) ist eine BK eine Erkrankung, die durch arbeitsbedingte Einflüsse bei der Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten bzw. Arbeitsaufgaben hervorgerufen wird und die in der Liste der BK´en genannt ist. Unter Nr. 50 der 1. Durchführungsverordnung zur BKVO-DDR (Liste der BK´en) vom 21. April 1981 (GBl. I 139) ist eine Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung, die durch Lärm verursacht wird, als BK genannt, wobei eine soziale Bedeutung vorliegt, wenn die Hörschädigung zu Verständigungsschwierigkeiten mit anderen Personen führt. Erforderlich für die Anerkennung einer BK 50 BKVO-DDR ist demnach neben dem Beleg einer ausreichenden Lärmexposition der Nachweis einer Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung im Sinne von Verständigungsschwierigkeiten mit anderen Personen, die durch diesen beruflichen Lärm verursacht worden ist (siehe Konetzke/Rehbohle/Heuchert, Berufskrankheiten, Gesetzliche Grundlagen zur Meldung, Begutachtung und Entschädigung, 2. Aufl., Berlin 1987, S. 76 f.). Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind bei dem Kläger nicht erfüllt.

Zwar ist der Arbeitsplatzlärmanalyse der Beklagten vom 30. Oktober 2002 zu entnehmen, dass der Kläger ca. ab September 1952 bis zu seinem Ausscheiden im Dezember 1991 einem Lärm-Beurteilungspegel von 85 dB bis über 90 dB ausgesetzt gewesen ist, also einer Lärmeinwirkung, bei der grundsätzlich eine berufsbedingte Hörschädigung entstehen kann (vgl. Konetzke/Rehbohle/Heuchert, a.a.O., S. 74 f.; ebenso Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur BK 2301, Bekanntmachung vom 1. Juli 2008, GMBl. 2008, 798 ff. – Merkblatt). Darüber hinaus ist bei ihm auf der Grundlage der Diagnosen von Prof. Dr. P -E. und Dr. B. (Gutachten vom 13. Juni 1990), des Arbeitsmediziners S. (Verdachtsmeldung vom 6. Juli 2002, eingegangen bei der Beklagten am 11. Juli 2002) und von Dr. Schindler (Befundbericht vom 24. Mai 2002) eine Schwerhörigkeit gesichert. Es fehlt jedoch an einem Nachweis, dass diese im Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Berufsleben im Dezember 1991 mit sozialer Bedeutung bestanden hat.

Eine Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung war gegeben, wenn nach den Ergebnissen der audiometrischen Untersuchung ein KS von mindestens 20 % resultierte (siehe Empfehlung der Gesellschaft für Oto-Rhino-Laryngologie und zervikofaziale Chirurgie der DDR für die Begutachtung von Hörschäden vom 1. Oktober 1985, abgedruckt in: Berufskrankheiten im Gebiet der neuen Bundesländer 1945 bis 1990, Sonderheft 4 der Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin (Sonderheft), Berlin 1994, S. 265 ff. – Empfehlung –; Konetzke/Rehbohle/Heuchert, a.a.O., S. 74; Richtlinie des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR zur Begutachtung von arbeitsbedingten Hörschäden vom 1. September 1989, abgedruckt in: Sonderheft, S. 271). Maßgeblich für die Einschätzung des KS ist gemäß § 215 Abs. 6 SGB VII in Verbindung mit § 1154 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVO die Regelung des § 56 SGB VII. Nach § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII richtet sich die Höhe der MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Verletzten durch die Folgen des Versicherungsfalls beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf medizinisch-wissenschaftlichem Gebiet. Hierbei sind jedoch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum bei einer Vielzahl von Schäden für die Schätzung der MdE herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die in Form von Tabellenwerten zusammengefasst sind. Diese sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend. Sie bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und sind die Basis für den Vorschlag, den der medizinische Sachverständige dem Gericht zur Höhe der MdE unterbreitet (siehe nur BSG, Urteil vom 2. Mai 2001 – B 2 U 24/00 R – SozR 3-2200 § 581 RVO Nr. 8). Der Grad des KS entspricht damit regelmäßig demjenigen der MdE (BSG, Urteil vom 4. Dezember 2001, a.a.O.). Bezogen auf eine berufliche Hörminderung sind bei der MdE-Bewertung die Empfehlungen für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit (Königsteiner Merkblatt, 4. Auflage 1995, abgedruckt in: Mehrtens / Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, Stand April 2008, M 2301, S. 6 ff.) einschlägig.

Danach wird der prozentuale Hörverlust, nach dem wiederum die MdE bemessen wird, aus den Daten der Hörprüfungen getrennt für jedes Ohr berechnet. Vorrang hat dabei das Sprachaudiogramm. Nur in besonderen Fällen ist das Tonaudiogramm – ggf. ergänzend – heranzuziehen. Der Hörverlust aus dem Sprachaudiogramm wird nach der Tabelle von Boenninghaus und Röser 1973 ermittelt (Königsteiner Merkblatt, 4.2.1.; Mehrtens / Brandenburg, a.a.O., M 2301, S. 18 bis 20), und zwar aus dem Hörverlust für Zahlen und dem gewichteten Gesamtwortverstehen. Zu Grunde gelegt werden kann das Sprachaudiogramm, das am 6. April 1990 in der Klinik für H.-, N.-, O.-krankheiten der M. Akademie M. für das Gutachten vom 13. Juni 1990 erstellt wurde. Das gewichtete Gesamtwortverstehen wird aus der Prüfung mit Einsilbern nach folgender Formel ermittelt: 3 mal Verständnisquote bei 60 dB plus 2 mal Verständnisquote bei 80 dB plus 1 mal Verständnisquote bei 100 dB, diese Summe geteilt durch 2. Durch die Gewichtung werden die für die sprachliche Kommunikation besonders wichtigen Schallpegel von 60 und 80 dB stärker berücksichtigt als dies bei dem einfachen Gesamtwortverstehen der Fall ist. Dadurch wird das Ausmaß der Schwerhörigkeit im Bereich der Geringgradigkeit zutreffender erfasst.

Ausgehend hiervon ergibt sich beim Kläger für das rechte Ohr ein Wert von 255 (3 mal 70 plus 2 mal 100 plus 1 mal 100, Summe geteilt durch 2), für das linke Ohr 300 (weil die Verständlichkeit schon bei 60 dB 100 % beträgt). Der prozentuale Hörverlust wird nach der Tabelle von Boenninghaus und Röser 1973 wie folgt berechnet: Maßgebend ist neben dem Wert für das Gesamtwortverstehen der Hörverlust für Zahlen in dB. Dieser wird dem Sprachaudiogramm entnommen, indem auf der Achse des 50%igen Verständnisses der Abstand zwischen der Normalkurve für das Zahlenverständnis und der gemessenen Zahlenkurve in dB bestimmt wird. Dieser beträgt ausweislich des am 6. April 1990 erstellten Sprachaudiogramms für das rechte Ohr 25 dB und für das linke Ohr 20 dB. Nach der Tabelle von Boenninghaus und Röser 1973 ergibt sich daraus für das rechte Ohr ein prozentualer Hörverlust von 20 % und für das linke Ohr ein solcher von 10 %. Nur wenn sich nach Anwendung des gewichteten Gesamtwortverstehens ein prozentualer Hörverlust von mehr als 40 % ergeben hätte, wäre der prozentuale Hörverlust noch einmal unter Verwendung des einfachen Gesamtwortverstehens zu bestimmen und dieser Wert der Bemessung der MdE zu Grunde zu legen gewesen. Vorliegend ist dies aber ohnehin nicht entscheidend, denn auch unter Verwendung des einfachen Gesamtwortverstehens (d.h. einfache Addition der Verständnisquoten für Einsilber bei den Schallpegeln von 60, 80 und 100 dB; hier rechts = 270 und links = 300) würde sich nach der Tabelle von Boenninghaus und Röser 1973 ein prozentualer Hörverlust von 20 % rechts und 10 % links ergeben.

Wenn die Berechnung des prozentualen Hörverlustes nach dem Sprachaudiogramm unter Verwendung des Gesamtwortverstehens einen Wert von weniger als 20 % ergibt, ist noch das Tonaudiogramm heranzuziehen. Dabei kann allerdings ein prozentualer Hörverlust von mehr als 20 % nicht angenommen werden. Aber selbst wenn beim Kläger auch für das linke Ohr ein prozentualer Hörverlust von 20 % (statt 10 %) angenommen würde, ergäbe sich nach der Tabelle zur Berechnung der MdE aus den Schwerhörigkeitsgraden beider Ohren nach Feldmann 1995 (Königsteiner Merkblatt, Tabelle 3; Mehrtens / Brandenburg, a.a.O., M 2301, S. 23) nur eine MdE um 10 vH.

Dass die MdE in der kurzen Zeitspanne nach den Messungen vom 6. April 1990 bis zum Ausscheiden aus dem Berufsleben im Dezember 1991 auf 20 vH angestiegen sein könnte, ist angesichts der vorherigen langjährigen (ca. seit September 1952) Lärmexposition bis über 90 dB unwahrscheinlich, jedenfalls nicht sicher. Damit ist bei dem Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt des Expositionsendes im Dezember 1991 eine MdE um 20 vH nicht voll nachgewiesen. Da für die Einschätzung des KS gemäß § 215 Abs. 6 SGB VII in Verbindung mit § 1154 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVO die Regelung des § 56 SGB VII – also die MdE-Bemessung – maßgeblich ist, fehlt es an einem bewiesenen KS von 20 % zum Zeitpunkt des Expositionsendes und damit an einer sozialen Bedeutung im Sinne der BK 50 BKVO-DDR. Deshalb kann eine Anerkennung einer BK 50 BKVO-DDR nicht erfolgen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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